E-Book, Deutsch, 268 Seiten
Berardi Die Seele bei der Arbeit
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-95757-592-0
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Von der Entfremdung zur Autonomie
E-Book, Deutsch, 268 Seiten
ISBN: 978-3-95757-592-0
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Franco 'Bifo' Berardi, 1949 in Bologna geboren, ist Philosoph und Medientheoretiker und war früher in der revolutionären Autonomia-Bewegung in Italien aktiv. Er publizierte (u. a. mit Félix Guattari) diverse Bücher zur Verschränkung von Kommunikation, Psychologie und Ökonomie.
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Die Seele bei der Arbeit
Was bedeutet es heute zu arbeiten? Ganz generell tendieren wir alle dazu, unsere Arbeit nach ein und demselben physischen Muster zu verrichten: Wir sitzen vor einem Bildschirm und bewegen unsere Finger über ein Keyboard. Wir tippen.
Einerseits ist die Arbeit in physischer und ergonomischer Hinsicht sehr viel uniformer geworden, doch andererseits wird sie derzeit auch sehr viel differenzierter und spezialisierter, was die Inhalte betrifft, die sie entwickelt. Architekten, Reisekaufleute, Software-Entwickler und Anwälte, sie alle verrichten ein und dieselben körperlichen Bewegungen, doch niemals könnten sie beliebig ihre Berufe miteinander tauschen, weil sie alle jeweils eine spezifische und sehr limitierte Fähigkeit entwickeln, die sich nicht auf diejenigen übertragen lässt, die nicht dieselbe schulende Vorbereitung absolviert haben und nicht vertraut sind mit denselben komplexen kognitiven Inhalten.
Als die Arbeit noch etwas grundsätzlich Austauschbares und Depersonalisiertes hatte, wurde sie als etwas Fremdes wahrgenommen. Mechanisch wurde sie von einer Hierarchie auferlegt und zwar als zugewiesene Tätigkeit, die ausschließlich im Austausch für einen Lohn verrichtet wurde. Die Definition dieser Arbeit als abhängig und als Lohnarbeit war angemessen für eine solche Form gesellschaftlichen Tuns, das den Verkauf der eigenen Zeit bedeutete.
Digitale Technologien eröffnen der Arbeit eine vollkommen neue Perspektive. In erster Linie transformieren sie das Verhältnis zwischen dem Entwurf und der Ausführung der Arbeit und deshalb auch das Verhältnis zwischen dem intellektuellen Gehalt der Arbeit und ihrer manuellen Verrichtung. Manuelle Arbeit wird heutzutage im Allgemeinen von automatisch programmierten Maschinenanlagen verrichtet, während innovative Arbeit, also diejenige, die tatsächlichen Wert produziert, mentale Arbeit ist. Die zu transformierenden Materialien werden von digitalen Sequenzen simuliert. Produktive Arbeit (wertproduzierende Arbeit) besteht aus dem Durchspielen von Simulationen, die später von computerbetriebenen Maschinen auf wirkliche Materie übertragen werden.
Der Arbeitsinhalt wird zu einem geistigen Inhalt, während die Grenzen der produktiven Arbeit zugleich immer unsicherer werden. Der Begriff der Produktivität selbst wird unbestimmt: Das Verhältnis zwischen Zeit und Quantität des produzierten Wertes lässt sich nur schwer festlegen, da nämlich in Hinsicht auf den produzierten Wert für einen kognitiven Arbeiter keine zwei Stunden identisch sind.
Der Abstraktionsbegriff sowie der Begriff der »abstrakten Arbeit« müssen neu definiert werden. Was bedeutet »abstrakte Arbeit« in Marx’ Sprache? Sie bedeutet die Verbreitung der wertproduzierenden Zeit ohne Berücksichtigung ihrer Qualität, ohne jeden Bezug zu der je besonderen und konkreten Nützlichkeit der hergestellten Gegenstände. Die Industriearbeit war ganz grundsätzlich und generell abstrakt, da ihre spezifischen Eigenschaften und ihre konkrete Nützlichkeit vollkommen irrelevant waren im Vergleich zu ihrer primären Funktion, ökonomisch verwertbar zu sein. Können wir sagen, dass diese abstrakte Reduktion im Zeitalter der Informationsproduktion noch immer wirkt? In gewisser Hinsicht ja, das können wir, und wir können ebenfalls sagen, dass diese Tendenz sogar auf die Spitze getrieben wird, da die Arbeit jeden Rest von Materialität und Konkretheit verloren hat und das produktive Tun seine Kräfte allein auf das verwendet, was übrig geblieben ist: symbolische Abstraktionen, Bytes und Ziffern, die differente Information, die das produktive Handeln erarbeitet hat. Wir können festhalten, dass die Digitalisierung des Arbeitsprozesses jede Form der Arbeit in ergonomischer und physikalischer Hinsicht gleichgeschaltet hat, da wir alle nun ein und dasselbe tun: Wir sitzen vor einem Bildschirm, und wir tippen auf einer Tastatur. Von einer langen Reihe verschiedenster Maschinen wird unser Tun dann irgendwann in ein architektonisches Projekt umgewandelt, in ein Drehbuch fürs Fernsehen, in eine chirurgische Operation, in die postalische Abfertigung von vierzig Metallboxen oder in die Verpflegung in einem Restaurant.
Wie wir bereits festgestellt haben, gibt es in physischer Hinsicht keinerlei Unterschied zwischen der Arbeitsleistung eines Reisekaufmanns, eines Technikers, der für eine Ölfirma arbeitet, oder eines Verfassers von Detektivgeschichten.
Doch wir können auch das Gegenteil sagen. Die Arbeit ist zu einem Teil unserer geistigen Prozesse geworden, zu einer Ausgestaltung von Zeichen, die reich an Wissen sind. Sie ist sehr viel spezifischer geworden, sehr viel spezialisierter: Anwälte und Architekten, Computertechniker und Verkäufer in Einkaufszentren, sie alle sitzen vor ein und demselben Bildschirm, und sie alle tippen auf den exakt selben Tastaturen. Und dennoch könnten sie ihre Plätze niemals miteinander tauschen. Der Inhalt ihres elaborierenden Tuns ist jeweils vollkommen verschieden und lässt sich nicht so einfach von einem auf den anderen übertragen.
Andererseits, ebenfalls in physischer Hinsicht, verrichten Chemie- und Metallarbeiter sowie Arbeiter in mechanischen Tätigkeiten jeweils zwar vollkommen verschiedene Jobs. Doch ein Metallarbeiter oder Mechaniker braucht nur einige wenige Tage, um sich das operative Wissen zuzulegen, das notwendig ist, um die Aufgaben eines Arbeiters in der Chemieindustrie zu erledigen. Umgekehrt gilt dasselbe. Je mehr die industrielle Arbeit simplifiziert wird, desto austauschbarer wird sie.
Alle menschlichen Datenendgeräte führen ein und dieselben physischen Gebärden vor ihren Computern aus, und sie alle stehen in Verbindung mit der universalen Maschine der Elaboration und Kommunikation. Doch je mehr ihre Jobs physisch simplifiziert werden, desto weniger austauschbar werden ihr Wissen, ihre Fähigkeiten und ihre Performances. Die digitale Arbeit wirkt auf vollkommen abstrakte Zeichen ein, doch ihre Rekombinationsfunktion ist umso spezifischer, je personalisierter sie wird, und ist deshalb immer noch viel weniger austauschbar. Folglich neigen Arbeiter im -Bereich dazu, ihre Arbeit für den wesentlichen Teil ihres Lebens zu halten, für den spezifischsten und personalisiertesten.
Dies ist das exakte Gegenteil von dem, was mit dem Industriearbeiter geschah, für den acht Stunden Lohnarbeit auf eine Art einen vorübergehenden Tod bedeuteten, aus dem er oder sie erst wieder erwachen konnte, wenn eine Glocke erklang, die das Ende des Arbeitstages verkündete.
In der Bedeutung, die es zur Zeit der humanistischen Renaissance innegehabt hatte, beschrieb das Wort »Unternehmen« eine Handlung, die der Welt eine menschliche Gestalt verlieh. Das »Unternehmen« des humanistisch-künstlerischen Unternehmens ist das Zeichen der Unabhängigkeit der Menschheit vom Schicksal, ja sogar von Gottes Wille. Für Machiavelli ähnelt ein Unternehmen insofern der Politik, als es sich vom Glück emanzipiert und die Republik verwirklicht, einen Raum, in dem die verschiedensten Ausdrucksformen des menschlichen Willens ihre jeweilige Raffinesse und Schöpfungsfähigkeit austesten und vergleichen.
In seiner kapitalistischen Bedeutung nimmt das Wort »Unternehmen« ganz neue Nuancen an, obwohl es die Bedeutung des freien und konstruktiven Handelns nie ablegt. Diese neuen Nuancen betreffen allesamt den Gegensatz von Arbeit und Unternehmen. Unternehmen bedeutet: Innovation und freier Wille. Arbeit ist Repetition und das Ausführen von Tätigkeiten. Ein Unternehmen ist eine Kapitalinvestition, die neues Kapital generiert, dank des Verwertungsprozesses, den die Arbeit ermöglicht. Die Arbeit ist das Mittel zu einem Verdienst, ein Mittel, das das Kapital zwar wertet, doch die Arbeiter wertet. Was ist heute noch übrig von dem Gegensatz zwischen Arbeitern und Unternehmen, und wie verändert sich die Wahrnehmung gerade des Unternehmensbegriffs in der gesellschaftlichen Vorstellung?
Weniger gegensätzlich sind das Unternehmen und die Arbeit in der gesellschaftlichen Wahrnehmung und im kognitiven Bewusstsein der Arbeiter, das heißt im Bewusstsein derjenigen, die den Großteil der produktiven Arbeit und Wertschöpfung verrichten, und die die allgemeine Tendenz der gesellschaftlichen Arbeitsprozesse repräsentieren. Für diejenigen, die einer Arbeit auf einer hohen kognitiven Stufe nachgehen – für diejenigen also, von denen nur wenige ihre Plätze beliebig miteinander tauschen könnten –, widerspricht ihre Arbeit nicht dem schöpferischen Aspekt, den das Wort Unternehmen impliziert. Im Gegenteil, sie neigen dazu, ihre Arbeit, sogar wenn sie formal abhängige Arbeit ist, als Unternehmen zu betrachten, für das sie den größten Teil ihrer Energie aufwenden können, ganz unabhängig von den ökonomischen und juristischen Zusammenhängen, in denen diese Energie zum Ausdruck kommt.
Um diese Veränderung in der Wahrnehmung des Unternehmensbegriffs fassen zu können, müssen wir einen entscheidenden Faktor...




