Berger | Im Jahr des Panda | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 672 Seiten

Berger Im Jahr des Panda

Roman
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-20254-5
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 672 Seiten

ISBN: 978-3-641-20254-5
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der neue Roman des hochgelobten österreichischen Autors

Macht Geld glücklich? Kann uns Geld zumindest freier machen? Gibt es ein richtiges Leben im falschen? Und was passiert, wenn wir uns plötzlich aus der gewohnten Umlaufbahn unseres Lebens herauskatapultieren? Dies sind die Fragen, die Clemens Berger in seinem neuen großen Roman umkreist.

Der international gefeierte Künstler Kasimir Ab, dessen Werke bei Ausstellungen regelmäßig astronomische Preise erzielen, stößt an die Grenzen seines sorgenfrei abgefederten Lebens und entdeckt seine subversive Ader. Er tauscht das Atelier mit der Straße und tritt ungewollt eine gesellschaftliche Kettenreaktion los. Pia und Julian, die bei einer Sicherheitsfirma angestellt sind und Nacht für Nacht Geldautomaten befüllen, fragen sich, wie groß die Summe für einen gemeinsamen Neuanfang in einem anderen Teil der Welt wohl sein müsste. In einem wagemutigen Schritt machen sie ernst und reißen die Brücken zu ihrem bisherigen Leben ein. Und Rita, Tierpflegerin im Schönbrunner Tierpark, wird aus ihrem einsamen, zurückgezogenen Leben durch die Geburt eines kleinen Pandabären herausgerissen und durchlebt unerwartet einen zweiten Frühling.

In meisterlicher Manier fühlt Clemens Berger der Zeit ihren Puls und entwirft einen lustvoll erzählten Reigen um Geldscheine, Schwerelosigkeit und Kuckucke, um Kunst, Auflehnung und Subversion, der den Leser von Wien nach Neapel und Saigon, Bordeaux und Chengdu führt. Nichts ist, was es scheint: nicht einmal ein kleiner Panda.
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3 Es war seltsam, mit Klopapier durch die Stadt zu gehen. Pia vermied es, Entgegenkommenden in die Augen zu blicken. Sie hatte eine Tragetasche in ihrer Linken und zehn in Cellophan verpackte Klopapierrollen in ihrer Rechten. Ganz schön was vor, mochte man denken. Dachte sie zumindest bei jungen Männern, die schwere Bierkisten aus Supermärkten schleppten.

Pia fragte sich, wie viele Hundert Meter, wenn nicht Kilometer ausgerollten Papiers das seien, bis sie laut lachen musste und sich vornahm, es stolz durch die Stadt zu tragen. Gleichzeitig fiel ihr ein, wie selten sie Menschen mit Klopapier auf der Straße oder in öffentlichen Verkehrsmitteln sah. Die Menschen versteckten das Klopapier. Sie taten, als kauften sie keines. Wahrscheinlich zogen deshalb so viele Einkaufswägelchen hinter sich her.

Als sie wieder aufsah, bemerkte sie, dass niemand sie ansah. Allerdings sahen viele aus, als verdammten sie die öffentliche Sichtbarkeit von Klopapier, als wäre es unstatthaft, die Menschen an das Große Geschäft zu erinnern. Es gab Menschen, die mit dem Verkauf von Klopapier reich wurden. Darüber sollte man eine Dokumentation drehen! Pia liebte Dokumentarfilme, wann immer sie Zeit hatte, ließ sie sich in die Geschichte, in ferne Länder, ins Weltall oder zu exotischen Tieren entführen. Seit gestern wusste sie mehr über Google, vorgestern hatte sie sich die größten Containerschiffe der Welt erklären lassen, vorvorgestern Bekanntschaft mit der ersten Pharaonin geschlossen, Hatschepsut hatte sich bisweilen als Mann ausgegeben. Seit wann gab es Klopapier? Wo war es zuerst aufgetaucht? Wer war der König der Lagen? Sie würde später nachschauen – und Julian gelangweilt abwinken.

Vor einer Buchhandlung lagen verbilligte Bücher auf einem Tisch, Pia trat näher. 1000 Orte, die Sie sehen müssen, bevor Sie sterben. Das Buch war vergünstigt, Pia schlug es auf. Schöne Landschaften, aufregende Städte, atemberaubende Ausblicke. Jede Landschaft, jede Stadtansicht, jede Schlucht und jeder Strand eine Werbung. Neben ihr schmökerte ein älterer Mann in einem Taschenbuch, wobei unschwer zu erkennen war, dass er nur so tat. Er schielte ständig nach ihr.

»Stört Sie das?«

Pia schwenkte die Klopapierrollen in ihrer Rechten.

»Unangenehm? Unanständig?«

Der Mann schüttelte den Kopf, legte das Taschenbuch zurück und ging brummelnd weiter, als hätte er sich vor einer Verrückten in Sicherheit zu bringen. Die Verrückte war keineswegs verrückt. Sie hatte eine stinknormale Frage gestellt. Pia blickte dem Mann hinterher, der immer noch seinen Kopf schüttelte.

Wahrscheinlich bevorzugten der Mann und seine Frau Klopapier mit Kamillengeruch. Schön weich und sanft. Die Welt war weder weich noch sanft, Verrückte lauerten überall. Außerdem konnten Weich und Sanft unerwartete Überraschungen bereithalten. Unlängst hatte sie in einer U-Bahn-Zeitung von der großen Verwunderung des Mannes XY gelesen, der Klopapierrollen aus dem Cellophan geholt habe und plötzlich aus einer Rolle von zwei kleinen Augen angeblickt worden sei. Zum Glück hatte der Mann alles mit seinem Mobiltelefon fotografiert und somit Pia den verängstigten Siebenschläfer sehen lassen, der in einer Kartonröhre gesteckt war.

Pia würde das Buch nicht kaufen. Es war eine Gemeinheit. Als wäre man kein vollwertiger Mensch, wenn man diese Orte vor seinem Tod nicht gesehen hatte. Man musste reich sein, um die Orte zu sehen, die man vor seinem Tod gesehen haben musste. Selbst wenn es nur hundert Orte gewesen wären. Der Titel brachte sie auf die Palme, sie sah sich mit einer Kokosnuss zwischen den Zweigen sitzen und auf Dummköpfe werfen, die dergleichen schrieben. Sie würde das Buch aus dem Verkehr ziehen. Pia blickte sich unauffällig um und beugte sich über den Tisch, als sähe sie ein anderes Buch genauer an. Es war gelb.

Vor dem Haus des Meeres blieb sie stehen. Es standen sehr viele Menschen davor, vielleicht war es einer der Orte des Buches, das neben Zahnpasta, Gemüse und Nudeln in ihrer Einkaufstasche lag. Die meisten standen nicht wie üblich in Schlangen vor dem Eingang, sondern blickten auf die Fassade des Flakturms, wiesen einander auf die Feuerleiter an der rechten Seite hin, fotografierten und tuschelten aufgeregt. In etwa vier Metern Höhe, über den Köpfen der Schaulustigen, war auf dem graubraunen Beton ein riesiger dunkelroter Fünfhunderteuroschein zu sehen.

Pia lachte – und wusste nicht, warum. Sie fand den auf die Wand gesprühten Schein wunderbar – und wusste nicht, warum. Sie hielt das Ungetüm für erleichternd – und wusste nicht, warum. Üblicherweise wusste sie aber gern, warum etwas etwas in ihr bewirkte.

Am Rande der Zusammenrottung standen eine junge Polizistin und ein junger Polizist. Pia fragte sich, warum junge Polizistinnen immer blond waren. Vielleicht hatte sie Unrecht, und es war ihr Blick, dem blonde Polizistinnen besonders auffielen. Jedenfalls passte das Blond ausgezeichnet zum Dunkelblau der Uniform. Die Polizistin fotografierte den falschen Schein mit ihrem Mobiltelefon, während sie etwas in ihr Funkgerät murmelte, der Polizist sprach mit einem aufgebrachten Mann, der beim Reden unentwegt mit den Schultern zuckte und sein Gegenüber anstarrte, als wollte er es auf den Boden nageln.

Das Rot ließ Pia an Blut denken. Es war nicht die richtige Farbe, der Schein war in Wirklichkeit heller, violett oder lila. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal einen gesehen – und ob sie überhaupt jemals einen in ihren Händen gehalten hatte. In die Automaten kamen sie jedenfalls nicht. So viel konnte man nicht auf einmal abheben.

»Wer macht denn so was?«, fragte der Aufgebrachte den Polizisten, der die Backen blähte, um seine Ratlosigkeit zu unterstreichen. Allerdings fragte der Aufgebrachte nicht, er schrie beinahe, sein Gesicht war gefährlich gerötet. »Was soll denn das«, rief er, wieder war es keine Frage, »was soll denn das, zum Kuckuck!« Pia zückte ihr Mobiltelefon, fotografierte den riesigen Schein und schickte das Foto Julian. Etwas stimmte nicht.

Im Nähertreten entdeckte sie einen Hund und musste so laut lachen, dass man sich nach ihr umdrehte. Der Polizist blickte sie vorwurfsvoll an; wahrscheinlich wollte er verhindern, was nicht zu verhindern war. Der Aufgebrachte drehte sich um, wollte in Pias Richtung, die Polizistin berührte ihn sanft, aber mit Nachdruck an der Schulter. Er blieb stehen. Sein Gesicht war hochrot, Pia fürchtete, er möge einen Herzinfarkt erleiden. Herzkasperl, dachte sie, gutes Wort.

»Was gibt’s da zu lachen?«

»Sieht besser aus, so«, sagte Pia und ging weiter. Das Klopapier in ihrer Rechten federte mit jedem Schritt, sie fragte sich, ob sie dem Aufgebrachten eine Rolle anbieten solle. Ich würde Ihnen gern eine Rolle anbieten. Nein, nicht in meinem neuen Dokumentarfilm.

Im Weggehen drehte sie sich noch einmal um. Ihr fiel ein, wie oft ihre Mutter sie in das Haus des Meeres geschleppt hatte, obwohl geschleppt gemein war. Pia erinnerte sich bloß an ein vages Gefühl der Freude unter all den Tieren, an ein Entzücken und Schauen und Hören, an Lächeln und Japsen und Luftanhalten. Menschen schienen gern an diesen Orten zu sein, an denen etwas ihre Augen leuchten und ihre Münder offenstehen ließ. Vielleicht bewachte der Hund die Tiere des Meeres.

Kurz vor Julians Wohnung hatte sie sich daran erinnert, dass es Samstag und er auf dem Weg ins Stadion war. Sie war mit dem Klopapier durch die halbe Stadt spaziert. Es handelte sich um die günstigste Marke. Sogar beim Scheißen musste sie aufs Geld schauen.

Julian war nicht auf ihr Foto eingegangen, stattdessen hatte er ihr eines aus der U-Bahn geschickt, über das sie den Kopf geschüttelt hatte. Pia verstand nicht, wie sich ein erwachsener Mann einen grünweißen Schal umbinden und in eine U-Bahn steigen konnte, in der es vor grünweißen Schals, Trikots, Fahnen und Mützen nur so wimmelte. Aber Menschen mit Klopapier in der Hand sah man seltsam an. Wenn sie ehrlich war, hatte sie Julian in dieser Verkleidung schon beim ersten Mal lächerlich gefunden. Er war Teil einer befremdlichen Masse geworden. Sie hatte sich ein wenig für ihn geschämt.

Zu Hause saß Pia in Shorts und Leibchen auf ihrer Couch, die Laufschuhe an den Füßen. Sie hatte eine Fotostrecke vom Haus des Meeres entdeckt, den Artikel dazu konnte man kaum Artikel nennen. Abgesehen davon, dass das Graffito in der Nacht von Freitag auf Samstag angebracht worden sein musste, erfuhr sie nichts Neues. Neben dem Artikel konnte man abstimmen, ob der Fünfhunderteuroschein an der Wand des Flakturms Kunst oder Vandalismus sei. Diejenigen, die ihn für Vandalismus hielten, waren zu zwei Dritteln in der Mehrheit. Pia klickte Kunst an, obwohl es lächerlich war. Als ob ihre Meinung zu irgendetwas zählte. Vor dem Haus des Meeres wäre sie nie auf Kunst gekommen.

2,9?e?+?11 hatte der Rechner ihres Mobiltelefons ausgespuckt, wie viel auch immer das war, für Pia war es eine unvorstellbare Zahl. Sie lief durch den Schlosspark von Schönbrunn, der Kiesel knirschte unter ihren Sohlen. Sie sah den riesigen dunkelroten Schein über den Köpfen der Menschen, sie sah den Aufgebrachten, dem sie eine Rolle hätte anbieten sollen und der höchstwahrscheinlich andere im Netz von der Ungeheuerlichkeit dieser Tat zu überzeugen suchte, sie sah die Scheine, von denen es 580 Millionen gab.

Üblicherweise dauerte es zwanzig bis dreißig Minuten, ehe sie im Moment angekommen war und das Tempo erhöhte. Dann verzogen sich ihre Gedanken, jagten einander nicht mehr im Kopf,...


Berger, Clemens
Clemens Berger, geboren 1979 im Südburgenland, studierte Philosophie in Wien, wo er als freier Schriftsteller lebt. Berger hat zahlreiche Romane und Erzählbände veröffentlicht, zuletzt erschien die Novelle "Ein Versprechen von Gegenwart" im Luchterhand Literaturverlag.



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