Berger | Sorge | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 128 Seiten

Reihe: übermorgen

Berger Sorge

E-Book, Deutsch, 128 Seiten

Reihe: übermorgen

ISBN: 978-3-218-01301-7
Verlag: Kremayr & Scheriau
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



"Raus aus der Krise der Care-Economy, hin zur Sorge als gesellschaftliches Prinzip."
Was ist Sorge? Zum Beispiel die Versorgung, das Stillen der Grundbedürfnisse – bei genauem Hinsehen das ökonomische Fundament dessen, was wir als (Markt-)Wirtschaft verstehen. Und: Sorge ist der zweifelnde Blick in eine ungewisse Zukunft, den es positiv in Verbundenheit und Verantwortungsgefühl zu wenden gilt.
Davon ausgehend fächert Christian Berger das allgegenwärtige Thema entlang verschiedener Bruchlinien unserer Gesellschaft auf. Sei es die Krise in Pflege und Bildung, sei es die immer noch klaffende Ungleichheit der Geschlechter, sei es die Ökonomisierung privater Lebensbereiche: Berger liefert eine fundierte Analyse einer Sollbruchstelle unserer Gesellschaft, die in seiner Forderung mündet, den Begriff des Wohlstands radikal neu zu denken, ihn an der Sorge um das Lebendige, nämlich am Prinzip der Nachhaltigkeit, am Reichtum sozialer Beziehungen neu auszurichten.
Berger Sorge jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Differenz
Die Sorge entsteht in der Beziehung zu sich, zu anderen, zur Welt. Sie setzt ein Differenzverhältnis voraus. Mit der Differenz wird es jedoch schon kompliziert. Wo Differenz ist, ist auch Ungleichheit; Gleichheit gibt es nur zu dem Preis, Differenz zu neutralisieren – sie setzt empirische Ähnlichkeit voraus, um Verschiedenes gleich zu behandeln. Gleiches gleich, Ungleiches ungleich. Herrschaft am Horizont. Differenzfeministische Ansätze versuchen, menschliche Qualitäten (wie Emotionalität, Sympathie, Empathie, Fürsorglichkeit) als Qualitäten, die weiblich sind und sich ausgeprägt überwiegend bei Frauen finden, als solche – als weibliche Werte – aufzuwerten. Größere Bekanntheit in ethischen und rechtlichen Diskursen erlangten Carol Gilligans moralpsychologische Studien einer „Ethik der Fürsorge“, die eine „andere Stimme“ („different voice“) von Frauen in Fragen der Identität und Lebensführung zu bestätigen scheinen.7 Laut der Schriftstellerin Hélène Cixous als ebenjene Stimme, die „ins taube männliche Ohr [fällt], das in der Sprache nur hört, was männlich spricht“8. „Die Frauen reproduzieren untereinander
vermutlich die seltsame Skala der vergessenen
Tuchfühlung mit ihrer Mutter. Komplizenschaft
im Unausgesprochenen, heimliches
Einverständnis des Unsagbaren, des Augenzwinkerns,
eines Tons der Stimme der Geste,
eines Farbtons, eines Geruchs: darin sind
wir, unseren Personalausweisen und Namen
entflohen, in einem Ozean der Präzision, einer
Informatik des Untrennbaren. Keine Kommunikation
zwischen Individuen, sondern eine
Entsprechung zwischen Atomen, Molekülen,
Wortfetzen, Satztropfen. Die Gemeinschaft der
Frauen ist eine Gemeinschaft der Delphine.“9 – Julia Kristeva Die weibliche Differenz ist etwas, das erst errungen werden muss. Gilligans Arbeiten zufolge würden Frauen moralische Probleme nicht als im Rekurs auf abstrakte Rechte und Pflichten gerecht oder fair zu lösende Interessenkonflikte betrachten, sondern als Beziehungsprobleme und daher als lebensweltliche Fragen von Verantwortung und Fürsorge. Weibliches Handeln steht hier ganz im Zeichen von Partikularität und Parteilichkeit, von „Liebe und Fürsorge für andere“ – sie mache sogar „den Kern der Moralität aus, und alle sollten dem nacheifern“10, wie Martha Nussbaum den differenzfeministischen Ansatz zusammenfasst. Er ist zweifelsohne ein wichtiger Bezugspunkt für die Kritik am politökonomischen Konstrukt des rationalen, individualistischen Bürgers und die Suche nach alternativen Möglichkeiten der Konfliktlösung: Sie soll rascher und günstiger sein, dazu auf gute Kooperation und Lösungen für alle in einen Streit involvierten Personen und Gruppen ausgerichtet – man denke nur an den Mediations-Boom der 1980er und 1990er Jahre. Ihr Ansatz ist aber auch Bezugspunkt für die Bestätigung von Geschlechterklischees, so wurde die Care-Ethik – durchaus erfolgreich – als Legitimation der Unterrepräsentation von Frauen in Unternehmen herangezogen.11 Demnach gebe es keine geschlechtsspezifische Diskriminierung, sondern nur die geschlechtsspezifische Differenz. Weibliche Werte führen in einer solchen Argumentation zu weiblichen Priorisierungen von gegenseitiger Fürsorge in Beziehungen und gegen eine berufliche Karriere und Konkurrenzverhältnisse. Dass das, was Menschen priorisieren und wofür sie sich entscheiden, in erheblicher Weise von gesellschaftlichen Zuständen und damit von sexueller Ungleichheit und Sexismus bestimmt ist, bleibt dabei unhinterfragt.12 Auf legistischer Ebene wurde schließlich von der Rechtswissenschaftlerin Tove Stang Dahl Anfang der 1990er Jahre sogar ein „Geburtenrecht“ vorgeschlagen, in dem abstammungs-, reproduktions- und sozialrechtliche Aspekte aufgehen, sowie ein spezifisches „Hausfrauenrecht“, in dem die Arbeits- und Lebensleistungen von Frauen an finanzielle Ansprüche und soziale Sicherheiten geknüpft werden sollten, um diese derart rechtlich anzuerkennen und staatlich zu honorieren.13 Differenzfeministische Entwürfe „anderer“ Modelle von Ethik und Konfliktlösung oder gar Gesetze sind schon eine ganze Weile nicht mehr vorgelegt worden. Sich affirmativ auf Weiblichkeit – also auf Frauen als Gruppe besonders mitfühlender, fürsorglicher Wesen – zu beziehen, wurde zunehmend als essenzialisierend und homogenisierend kritisiert; ein spezifisch weiblicher Bezugspunkt zur Regulierung sozialer Beziehungen geht mit einer schwierigen Vorstellung von „Gleichheit in der Differenz, als Ungleichheit der selbstbestimmten Lebensentwürfe“14 einher. Die Forderung nach Anerkennung von gleichen Rechten – in diesem Zusammenhang Frauenrechten15, jedoch lässt sich dieser Gedanke auf LGBTIQ-Personen und andere marginalisierte, diskriminierte Gruppen erweitern – kann nicht funktionieren, ohne Geschlechterrollen und Gruppenidentitäten zugleich normativ zu fixieren. Das wiederum kann dazu führen, dass strukturelle Ausschlüsse und Ungleichheiten aus dem Blick geraten. Doch auch eine nach wie vor vitale feministische Diskussion, die etwa primär auf Quoten für Spitzenpositionen fokussiert, verschleiert daher auch Macht- und Herrschaftsverhältnisse im Allgemeinen und Differenzen zwischen Frauen im Besonderen, indem sie schlechthin individuelle Wahlfreiheit unterstellt und Zugangsbarrieren und die geschlechtsspezifische Segregation des Erwerbsarbeitsmarkts ausblendet.16 Eine grundlegend andere Perspektive auf Fragen der Geschlechterdifferenz liefert die Rechtsprofessorin und Anwältin Catharine A. MacKinnon. In ihrer Theorie wird die Geschlechterdifferenz vor allem durch die Erotisierung von Unterwerfung und Dominanz hergestellt, Gender ist für sie nicht nur soziales, sondern sexuelles Verhältnis.17 Im Gegensatz zum Differenzfeminismus versteht der Radikalfeminismus Geschlechterverhältnisse als sozialstruktureIle – und damit überindividuelle – Hierarchieverhältnisse: So ist das Geschlecht nach MacKinnon ein sozialer Status, der darauf beruht, „wer wem was antun darf; nur in einem abgeleiteten Sinn ist es eine Differenz“.18 Für MacKinnon ist weibliches Handeln eine Überlebensstrategie gegenüber männlicher Macht und Gewalt in patriarchal strukturierten Wirtschaftsorganisationen, staatlichen Institutionen, im Familienleben, im Bereich des Sexuellen und in den Geschlechterbeziehungen. Dies gilt vice versa auch für Männer, für die männliches Handeln zur sogenannten patriarchalen Dividende führe.19 Damit gemeint sind die materiellen und ideellen Vorteile, die alle Männer haben, die sich loyal gegenüber einer (imaginierten) männlichen Interessengemeinschaft verhalten. Daraus resultiert eine Anspruchshaltung (in Bezug auf Ressourcen aller Art, inklusive Frauen). „Ungleichheit kommt zuerst; danach kommt Differenz.“20 Frauen werden in MacKinnons konstruktivistischer, radikalfeministischer Konzeption – ganz im Sinne von Simone de Beauvoir21 – erst zu Frauen, weil sie einen spezifischen, beschädigenden Sozialisationsprozess durchmachen, der durch die Verinnerlichung eines untergeordneten Status und der Verfügbarkeit als Opfer gekennzeichnet ist.22 Die Qualitäten und Werte, die eingangs als weiblich beschrieben wurden, sind keine komplementären, nachgeordneten Differenzen; sie gehören „zum innersten Wesen des ethischen Lebens. Keine Gesellschaft kann es sich leisten, diese Gefühle nicht zu kultivieren.“23 Die der Care-Ethik eigenen Qualitäten und Werte gelten jedoch nicht als allgemein erstrebenswert, sie werden in einem Unterordnungsverhältnis angeeignet und ausgeübt. Die politische Emotion24 der Sorge, in der sich Sympathie, Zugewandtheit, Verbundenheit und Verantwortung artikulieren, ist eine ethische Grundanforderung. Dieser Grundanforderung kann gesellschaftlich notorisch nicht entsprochen werden,25 solange Geschlechterhierarchien im Privaten fortbestehen und außerdem auch als etwas Privates, Natürliches behandelt werden, womit sie dem Bereich des politisch Verhandelbaren entzogen sind. Der Privathaushalt26 ist eine soziale Organisationsform und ökonomische Basisinstitution, in ihm wird ein erheblicher Anteil an gesellschaftlich notwendiger Sorge geleistet, in ihm werden Kapital in all seinen Sorten und Formen (vor-)verteilt und männliche Herrschaft und maskuline Normen (und weibliche Abweichungen) alltäglich eingeübt.27 In den feministischen De- und Rekonstruktionen der Theorien vom Gesellschaftsvertrag wird die Aufgabe der Familie, Kinder ethisch zu prägen und auf das Leben in der Demokratie, auf soziale und rechtliche Verbindlichkeit und Wechselseitigkeit vorzubereiten, als wertvolle und bedeutsame Funktion anerkannt – und zwar bei...


Christian Berger, geboren 1991, ist Sozioökonom, Lektor u. a. an der WU Wien und Referent in der Arbeiterkammer Wien. Er war einer der Sprecher*innen des Frauen*Volksbegehrens. Seine Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte sind Gesellschaftstheorie und Kulturkritik, Feministische Politische Ökonomie sowie Grundlagen der Gleichbehandlung.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.