E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Berlin Was wirst du tun, wenn du gehst
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-03790-096-3
Verlag: Arche Literatur Verlag AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-03790-096-3
Verlag: Arche Literatur Verlag AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Lucia Berlin, 1936 in Alaska geboren, war dreimal verheiratet und wurde Mutter von vier Söhnen, die sie allein erzog. Ihre Erzählungen, entstanden in den 1960er- bis 1980er-Jahren, wurden in Zeitschriften und später in drei Bänden veröffentlicht. In den 1990er-Jahren war sie Dozentin an der Universität von Boulder, Colorado. Sie starb 2004 in Marina del Rey. Mit ihrer Wiederentdeckung 2015 in den USA durch den Sammelband ?A Manual for Cleaning Women? fand sie endlich die weltweite Anerkennung, die ihr gebührt. Eine erste Auswahl daraus erschien 2016 unter dem Titel ?Was ich sonst noch verpasst habe? auf Deutsch und wurde ein Bestseller.
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Albern, wer da weint
Einsamkeit ist ein angelsächsisches Konzept. Wenn du in Mexico City die Einzige im Bus bist und jemand einsteigt, dann wird er sich nicht nur neben dich setzen, er wird sich an dich anlehnen.
Wenn meine Söhne zu Hause waren und in mein Zimmer kamen, hatten sie dafür meistens einen besonderen Grund. Hast du meine Socken gesehen? Was gibt es zum Abendessen? Auch wenn jetzt die Glocke am Tor schellt, heißt es: Hallo, Mama! Lass uns zum Spiel der Athletics gehen, oder: Kannst du heute Abend auf die Kinder aufpassen? Aber in Mexiko kommen die Töchter meiner Schwester drei Treppen hoch und durch drei Türen, einfach, weil ich da bin. Um sich an mich zu lehnen oder zu fragen:
Ihre Mutter Sally schläft lautlos. Sie hat Schmerztabletten und ein Schlafmittel genommen. Sie hört nicht, wie ich im Bett neben ihrem Seiten umblättere, huste. Wenn Tino, ihr fünfzehnjähriger Sohn, nach Hause kommt, gibt er mir einen Kuss, tritt an ihr Bett und legt sich neben sie, hält ihre Hand. Er gibt ihr einen Gutenachtkuss und geht in sein Zimmer.
Mercedes und Victoria haben eigene Wohnungen auf der anderen Seite der Stadt, aber sie kommen jeden Abend vorbei, obwohl ihre Mutter nicht aufwacht. Victoria streicht Sally über die Stirn, schüttelt Kissen und Decken zurecht, malt mit einem Filzstift einen Stern auf ihren kahlen Kopf. Sally stöhnt im Schlaf, legt die Stirn in Falten. Halt still, sagt Victoria. Ungefähr um vier Uhr morgens kommt Mercedes, um ihrer Mutter Gute Nacht zu sagen. Sie ist Bühnenbildnerin beim Film. Wenn sie arbeitet, dann Tag und Nacht. Auch sie schmiegt sich eng an Sally, singt für sie, gibt ihr einen Kuss auf den Kopf. Sie sieht den Stern und lacht. Victoria war hier! Tía, bist du wach? Lass uns eine rauchen. Wir gehen in die Küche. Sie ist sehr müde, schmutzig. Steht vor dem offenen Kühlschrank, starrt hinein, seufzt, macht ihn zu. Wir rauchen und teilen uns einen Apfel, sitzen zu zweit auf dem einzigen Stuhl in der Küche. Sie ist glücklich. Der Film, den sie drehen, ist wunderbar, der Regisseur der Beste. Sie macht ihre Arbeit gut. »Sie behandeln mich respektvoll, wie einen Mann! Cappelini will, dass ich an seinem nächsten Film mitarbeite!«
Morgens gehen Sally, Tino und ich zum Kaffeetrinken ins La Vega. Tino spaziert mit seinem Cappuccino von Tisch zu Tisch und redet mit Freunden, flirtet mit Mädchen. Der Chauffeur Mauricio wartet draußen, um Tino in die Schule zu bringen. Sally und ich reden und reden, wie schon die ganze Zeit, seit ich vor drei Tagen aus Kalifornien gekommen bin. Sie trägt eine lockige rotbraune Perücke, ein grünes Kleid, das ihre jadefarbenen Augen betont. Alle sehen sie gebannt an. Sally geht seit fünfundzwanzig Jahren in dieses Café. Alle wissen, dass sie sterben wird, aber sie hat noch nie so schön und so glücklich ausgesehen.
Ich dagegen … wenn sie mir sagen würden, ich hätte noch ein Jahr zu leben, ich wette, ich würde ins Meer hinausschwimmen, es hinter mich bringen. Aber Sally, bei ihr scheint es, als wäre das Urteil ein Geschenk. Vielleicht liegt es daran, dass sie sich, eine Woche bevor sie es erfuhr, in Xavier verliebt hat. Sie ist lebendig geworden. Sie genießt alles. Sie sagt, was sie will, macht, was ihr guttut. Sie lacht. Ihr Gang ist sexy, ihre Stimme ist sexy. Sie wird wütend und wirft Sachen durch die Gegend, schimpft. Klein Sally, immer bescheiden und passiv, als Kind in meinem Schatten und einen Großteil ihres Lebens in dem ihres Ehemanns. Jetzt ist sie stark, strahlend; ihr Elan ist ansteckend. Die Leute bleiben am Tisch stehen, um sie zu begrüßen, Männer küssen ihr die Hand. Der Arzt, der Architekt, der Witwer.
Mexico City ist eine riesige Metropole, aber die Leute haben Bezeichnungen füreinander wie auf dem Dorf, wo der Schmied Schmied heißt. Der Medizinstudent, der Richter, die Ballerina Victoria, die schöne Mercedes oder der Minister, Sallys Exmann. Ich bin die amerikanische Schwester. Alle begrüßen mich mit Umarmungen und Wangenküsschen.
Sallys Exmann Ramon kommt auf einen Espresso vorbei, beschattet von Bodyguards. Stühle scharren im ganzen Café, als die Männer für ein aufstehen oder um ihm die Hand zu schütteln. Er sitzt jetzt für die PRI im Kabinett. Er küsst Sally und mich, fragt Tino nach der Schule. Tino umarmt seinen Vater zum Abschied und geht zum Unterricht. Ramon schaut auf die Uhr.
Warte einen Moment, sagt Sally. Sie wollen dich unbedingt sehen, sie kommen ganz bestimmt.
Victoria zuerst, in einem tief ausgeschnittenen Leotard auf dem Weg zum Tanzunterricht. Ihr Haar ist punkig, sie hat ein Tattoo auf der Schulter.
»Verdammt noch mal, zieh dir was über!«, sagt ihr Vater.
» alle hier kennen mich und sind dran gewöhnt, stimmt’s, Julian?«
Julian, der Kellner, schüttelt den Kopf. »Nein, Sie kommen jeden Tag mit einer neuen Überraschung.«
Er hat jedem von uns das Gewünschte gebracht, ohne eine Bestellung aufzunehmen. Tee für Sally, einen zweiten Latte für mich, einen Espresso und dann einen Latte für Ramon.
Mercedes kommt herein, ihr Haar ist wild, ihr Gesicht stark geschminkt, sie ist unterwegs zu einem Job als Model, bevor sie zum Filmset fährt. Jeder im Café kennt Victoria und Mercedes, seit sie Babys waren, und doch werden sie von allen angestarrt, weil sie so schön sind und so skandalös gekleidet.
Ramon fängt an, seinen üblichen Vortrag zu halten. Mercedes war in ein paar sexy Szenen im mexikanischen MTV zu sehen. Eine Peinlichkeit. Er möchte, dass Victoria aufs College geht und sich einen Teilzeitjob sucht. Sie legt die Arme um ihn.
»Aber wieso soll ich zur Schule gehen, wenn ich doch nichts anderes machen möchte, als zu tanzen? Und warum soll ich arbeiten, wenn wir so reich sind?«
Ramon schüttelt den Kopf und gibt ihr schließlich Geld für den Tanzunterricht, welches für neue Schuhe und auch noch für ein Taxi, weil sie spät dran ist. Sie geht, nicht ohne zum Abschied zu winken und Kusshände ins Café zu werfen.
Ramon stöhnt. »Ich komme zu spät!« Auch er geht, ein Spießrutenlauf durch Handschläge. Eine schwarze Limousine rast mit ihm davon, die Insurgentes hinunter.
» endlich können wir was essen«, sagt Mercedes. Julian bringt Säfte und Obst und Chilaquiles. »Mama, willst du nicht was davon probieren, nur ein bisschen?« Sally schüttelt den Kopf. Sie hat später Chemo, und davon wird ihr schlecht.
»Ich hab letzte Nacht kein Auge zugemacht!«, sagt Sally. Sie sieht gekränkt aus, als Mercedes und ich lachen, aber sie lacht mit, als wir ihr von all den Leuten erzählen, die sie verschlafen hat.
»Morgen hat Tía Geburtstag. Basil-Tag!«, sagt Mercedes. »Mama, warst du auch auf der Grange-Fete?«
»Ja, aber ich war noch klein, erst sieben Jahre alt, als die Fete an Carlottas zwölftem Geburtstag stattfand, in dem Jahr, als sie Basil kennenlernte. Alle waren da … Erwachsene, Kinder. Es gab eine kleine englische Welt mitten in Chile. Anglikanische Kirchen und englische Landsitze und Cottages. Englische Gärten und Hunde. Den ›Prince of Wales‹-Countryclub. Rugby- und Kricketmannschaften. Und natürlich die Grange School. Eine sehr gute Jungenschule, so wie das Eton College.«
»Und alle Mädchen an unserer Schule waren in Jungs von der Grange School verliebt …«
»Die Fete dauerte den ganzen Tag. Es gab Fußball- und Kricketwettkämpfe und Querfeldeinrennen, Kugelstoßen und Weitsprung. Alle möglichen Wettkämpfe und Schaubuden, wo Essen und andere Sachen verkauft wurden.«
»Eine Wahrsagerin«, sagte Carlotta. »Sie hat mir prophezeit, ich würde viele Liebhaber und viele Schwierigkeiten haben.«
»Das hätte ich dir auch sagen können. Jedenfalls war es wie auf einer englischen Kirmes.«
»Wie sah er aus?«
»Elegant und besorgt. Hochgewachsen und schön, abgesehen von den ziemlich großen Ohren.«
»Und dem Pferdegebiss …«
»Am späten Nachmittag war Preisverleihung, und alle Jungs, für die meine Freundinnen und ich schwärmten, gewannen Preise im Sport. Nur Basil wurde immer wieder aufgerufen, weil er Preise in Physik oder Chemie, Geschichte, Griechisch und Latein gewonnen hatte. Und noch jede Menge andere. Zuerst klatschen alle, aber dann wurde es komisch. Jedes Mal, wenn er wieder aufstand, um noch einen Preis, noch ein Buch entgegenzunehmen, wurde sein Gesicht röter und röter. Etwa ein Dutzend Bücher. Sachen wie Marc Aurel.«
Carlotta fuhr fort: »Dann war es Zeit für den Nachmittagstee, bevor der Ball anfing. Alle liefen herum oder tranken an kleinen Tischen Tee. Conchi ermutigte mich, ihn zum Tanzen aufzufordern, also fragte ich ihn. Er stand mit seiner ganzen Familie zusammen. Ein Vater mit großen Ohren, die Mutter und drei Schwestern, alle mit demselben unseligen Gebiss. Ich gratulierte ihm und fragte, ob er mit mir tanzen wolle. Und ich konnte zusehen, wie er sich in mich verliebte. Er hatte noch nie zuvor getanzt, also zeigte ich ihm, wie leicht es war, man machte einfach Box-Schritte. Zu Wir tanzten die ganze Nacht oder machten Box-Schritte. Eine ganze Woche lang kam er zum Tee. Dann begannen die Sommerferien, und er fuhr auf die seiner Familie. Er schrieb mir jeden Tag, schickte mir tausend Gedichte.«
»Konnte er küssen, Tía?«, fragt Mercedes.
»Küssen! Er hat mich nie geküsst, nicht mal meine Hand gehalten. Das hätte damals in Chile bedeutet, dass es ernst war. Ich erinnere mich, dass ich einer Ohnmacht nahe war, als Pirulo Diaz meine Hand hielt, während wir uns im Kino anschauten.«
»Es war eine große Sache,...