Bernemann | Ich hab die Unschuld kotzen sehen - 3 | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Reihe: Anti-Pop

Bernemann Ich hab die Unschuld kotzen sehen - 3

Das Ende der Trilogie
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-86608-619-7
Verlag: U-Line UG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Das Ende der Trilogie

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Reihe: Anti-Pop

ISBN: 978-3-86608-619-7
Verlag: U-Line UG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Bewegende Geschichten, zwischen poetischem Glanzbildsammelalbum und Kriegsberichterstattung, literarischen Bombeneinschlägen gleich, mit einer Sprache wie Musik zwischen Klavierballaden und Grindcore direkt aus dem Proberaum im Keller der Nervenheilanstalt.
Selbst im dritten und letzten Teil der Trilogie hat Dirk Bernemann nichts von seiner Sprachgewalt verloren, im Gegenteil. Jede Geschichte ist ein kräftiger Tritt in die Weichteile unserer Gesellschaft.

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Das Gelächter der Geschlechter Ulf schloss seine Kneipe auf und die ersten zwei Stunden war alles leise. Er wählte die Howard Carpendale-CD aus, um dem Abend die musikalische Brisanz zu geben, nach der so ein Abend zu verlangen schien. Obwohl Brisanz, so dachte Ulf, Brisanz war doch was ganz anderes als das, wovon der Howard da sang. Brisanz müsste doch irgendwo prickeln, dachte Ulf, stellte den Howard etwas lauter und wartete auf ein Prickeln, das irgendwo in ihm stattfinden könnte. Es blieb ruhig in Ulf. Die paar Alkoholiker, die immer schon sehr früh kommen, die musste man immer vor der Bestellung nach dem Geld fragen und es sich am besten auch zeigen lassen. Das wusste Ulf, er hatte Erfahrung in dem Job – leider sah er auch so aus. Er hatte ein Kneipenerfahrungsgesicht, sah beschädigt aus von dem, was junge Menschen «Nightlife» nannten und Ulf «Leben». Ulf sah aus wie ein Geschöpf, das sich selbst im Dunkeln verstecken mag. Bei Tageslicht funktionierte er nicht, der Ulf, nächtens hatte er die Funktion eines Schankwirts inne und das rechtfertigte seine Existenz, dachte er bei sich. Ab 22 Uhr kamen immer mehr Leute, vielen verstreuten Einsamen bot Ulf an seinem Tresen Platz. Effiziente Trinker, verzweifelte Frauenverschnitte, selbstmitleidige Jungspunde, die typische Kneipenbesetzung. Direkt am Tresen saß ein Paar, das sich gerade erst kennengelernt hatte. «Immer diese Enttäuschungen, die so zahlreich daher kommen.» Karins Sprache war gewählt, sie selbst gepflegt, sie tippte mit manikürten Händen am Tresen entlang und ließ es klingen als ritte dort ein Playmobilpony des Weges. «Ja ja, schlimm.» Martins Beipflichtung war eine Empathievortäuschung, die Männer seines Formates gerne kundtun, wenn sie sich auf dem direkten Weg in Vaginen befindlich glauben. Karin, Erzieherin, chaotisch, vergesslich, tollpatschig. Mal Tier, mal Kind, und ein Leben in der kleinen Handtasche, das in Unordnung geraten schien. Unter der intimen Kneipenbeleuchtung unterhielten sie sich miteinander, die Zärtlichkeit eines Rausches beschützte sie vor der Wirklichkeit. Wohl ein Monster, diese Wirklichkeit, die nächtens anders brüllt als bei Tageslicht. Der Abend machte sie schön, die Karin, nur der Abend. Hinter dem Tresen zapfte einer Bier, der nur Ulf heißen konnte, weil er wie ein Ulf aussah. Karin sah das an, was Ulf sein Gesicht nannte, und fühlte sich gut, im nächsten Moment woanders hingucken zu dürfen. Martin, Ingenieur, im Vollsaft stehend, suchend, blindlings stolpernd, einmal monatlich kegelnd, knapp unter 30, einiges verspielt, unter anderem das, was er für Stil und Humor hält, geschmacklich nicht fixiert, gen Mittelmaß tendierend, wo auch immer sich das versteckt hält, hier in den dunklen Katakomben der Extreme. Den Zufall herauszufordern, des-wegen ist er hier. Abschlepperkneipe. Martin kann sie ignorieren, seine Verzweiflung. Die paar Bier, die er alleine trank wollten ihm schon sein idiotisches Verhalten vor Augen führen, jetzt aber saß sie hier. Eine Vorliebe für Gedichte, sagte sie, hätte sie, für selbst geschriebene. Martin bat sie um einen Vortrag, er wusste: Je offener die Seele, desto offener die Vagina, aber Karin verweigerte sich. Martin setzte nach, wenn schon sonst nichts funktionierte, dann vielleicht Sex mit der vom Leben gebeutelten Verbeulten. Dafür würde er auch eines ihrer Gedichte ertragen. Zugeständnisse. Er gab ihr Schnaps, sie begann schleppend, ohne ihn dabei anzublicken: In dein Herz will ich mich trampeln,
durch deiner Venen Lauf mich strampeln,
ich will in deinem Körper hausen
und Liebe machen ohne Pausen. Martin lächelte sanftmütig. Nicht schlecht für ein Gedicht, das ihm eine unbekannte Frau in einer nebulös verhangenen Kneipe vortrug. Er schwieg kunstverständnislos. Er trank aus Gier nach Betäubung. Karin trank mit. Martin gab ihr Schnaps. Sie schämte sich ein wenig. Er gab ihr mehr Schnaps. «Mich interessieren zwei Dinge», sagte sie als Überleitung, «Abba und die Geschichte der DDR.» Martin begann auf Sächsisch The winner takes it all zu singen, und Karin lachte weiße Zähne in seine Gegenwart. Ihr Lachen schleuderte sie ihm hin und wäre sie Fleischwarenfachverkäuferin hätte sie wahrscheinlich gefragt, ob es auch ein bisschen mehr sein dürfe und Martin hätte vielleicht verneint und sie hätte sich gewundert, weil doch alle immer ja sagen, wenn diese Frage aufkommt. Die Karin. In ihren Mund steckte mal ein Strohhalm, dann wieder eine Zigarette und sehr häufig fielen zwischendurch Wörter heraus. Irgendein pädagogischer Job, irgendein Fitnessstudio und weitere Wahllosigkeiten. Sie erzählte viel, ihr Mund ging auf und zu, ließ Worte wie Werbebotschaften ins Freie. Werbebotschaften für ein Produkt, dass vielleicht in den 80er-Jahren mal populär gewesen war und jetzt ein Revival erleben sollte. Als 36-jährige Singlefrau, so sagte sie zu Martin, fühle sie sich sehr oft einsam zwischen all diesen nach Glück riechenden Paaren, die wie ineinander verstrickte Fäden wirken. Sie roch frischer, als sie aussah, ihr Duft war so exotisch, wie sie deutsch war. Ihre Blondheit lächelte Martin in sein Leben. «Ich bin seit 3 Jahren geschieden», ergänzte sie noch, «die Ehe war die Hölle.» Irgendwo wischte Howard Car pendale einen romantikzersetzten Schmachtlappen durch das Etablissement. Was Karin suchte, war durch ihre Botschaften klar zu erkennen. Ihr Herz lag offen auf dem Tresen, man konnte die Schlagfrequenz spüren. Verzweiflung – nice to meet you! Karin lachte laut, auch bei Martins schlechtesten Witzen. Sie sagte ihm noch, sie wolle einen Waschbrettbauch wie Shakira, ihr Hintern wäre schon entsprechend breit. Hahaha, sie lachte, Martin auch, Gott weiß warum. (O-Ton Gott: Ne, eigentlich hab ich keine Ahnung warum. Einst erschuf ich den Menschen, um … MAUL! … okay.) Brüste ordnen. Über die Größe der Brust sprechen. Sie, die Brüste, argumentativ einsetzen. Was sie hier suche, wisse sie auch nicht, schließlich ginge es nicht um eine klar definierte Suche, so relativierte sie ihre unattraktive Direktheit, und Martin fragte sich kurz, was in diesen 36 Jahren passiert sein musste, um dieses Leben, das hier vor ihm faulte, so werden zu lassen. Eine Antwort ließ er aus, obwohl sie breitbeinig im Raum saß, diese Antwort. Die Antwort war Karin selbst. Kürzlich, so sagte Karin dann noch, sei sie auf einem Schlagerkonzert gewesen, Jaques Brast, so hieß der Künstler, und Martin nickte und log: «Ja, kenn ich.» Karin summte irgendein Lied, das alles hätte sein können, von Anlassergeräusch einer Kettensäge bis zu irgendeiner abgrundtieftraurigen Beerdigungsmusik von Bach. Martin sah Karin an und wippte etwas ungeschmeidig hin und her. Da klopfte eine Ungeduld an sein Bewusstsein wie die Gier eines hungrigen Löwen, der um eine Zebraherde herumstreift. Seit sie sich hier auf zwei sich gegenüberstehenden Barhockern zur Musik von Howard Carpendale unterhielten, seitdem fragte Martin sich, wer die Verantwortung für ein solches Leben überhaupt tragen kann. Sie bestimmt nicht. Er schon mal gar nicht, denn auch er hatte zu schleppen an seiner Existenz und bestellte Schnaps und lächelte, als sei nichts, und Karin fragte, was denn sei, und Martin lächelte und berührte kurz mit Absicht ihre Hand und stellte sich vor, die diese verzweifelten Finger in sie fuhren, geradewegs in die feuchte Hitze von Karins Schritt, und wer, so entschied Martin, bräuchte schon Antworten, wenn es derlei zu denken gab. Karin sagte, dass da ein Tier in ihr zugegen wäre, ein wildes, ganz arg urwäldlerisches wäre das, aber ein zähmbares. Ob Martin sich derlei zutraue, wollte sie wissen, und er trank und sie trank und er trank nochmal und sagte: «Klar!» Sie beschrieb ihm dann dieses Tier, und da er diesem Tier schon häufiger in diesen blöden Nächten begegnet war, langweilte er sich ein wenig, tat aber so, als sei er maximal erstaunt über ihr inneres Tier, dass Karin so offenherzig in die Welt gebar. Da lag es dann, ihr hilfloses Tier, der Verzweiflung näher als irgendeiner Art von Leben, und Howard sang: «Hello again – dort am Fluss, wo die Bäume stehn …» Karin wog ihren Kopf im Takt der Bäume, die am Fluss standen. Hin und her. Martin trank und bewegte sich ansonsten sehr wenig und wenn, dann auf keinen Fall zur Musik von Howard Carpendale. «Uhhuhuhuhuhu, ich sag nur hello again …» Irgendwo zerbrach ein Glas, was Martin positiv auffiel. Die Nächte so einsam und ihre Hand auf seiner, ihre Stimme wie ein bekanntes Lied, die zufällige Berührung ihres Handrückens zwischen seinen Beinen, weitere Biere, ein paar Zigaretten, austauschbare Lieblichkeiten, die einigermaßen lieblos vorgetragen wurden, und Gespräche über Musik und Literatur, die die Spannung erhöhten und der Begegnung gleichzeitig einen langweiligen Anstrich gaben. Martin dachte: Ficken! Karin dachte: Wo bleibt das Glück? Martin sagte: «Meine Liebesfantasien sind irgendwie durch Rosamunde Pilcher-Schnulzen geprägt, die ich mir ständig reinziehe.» Karin sagte: «Hello again.» Ulf zapfte Biere und summte mit Carpendale im Duett. Warum nicht über Sex reden? Martin und Karin redeten über Sex, und der Werbespot ging weiter. Auf jeden Fall: die Nächte so einsam, der Winter so beschissen lang, die Kälte geht an die Knochen, die Einsamkeit ein hungriger Esser, das Essen ungenießbar. Es folgten kleine Küsse, darin Forderungen, Botschaften, Kurztexte, Lebensbeichten. Nichts erzählen müssen, dachte sich Martin. Billig, willig, chillig. Karins Zunge war ein hemmungsloses und gefräßiges Tier, einem kleinen...


Dirk Bernemann, geboren 1975, mittags. Fing mit fünf Jahren an zu schreiben, hörte aber mit 6 Jahren wieder auf. Dann Schuleintritt und Verzweiflung. Wiederaufnahme des Schreibens ca. 1997 in Form von Songtexten für Punkbands, die es nie gab und Tagebüchern. Ein paar Liebesbriefe später wusste er auch, wie es funktioniert. Weniger als 10 Jahre vergingen und es erschien sein erstes Buch, seitdem einen Fuß in der Tür des Literaturbetriebs, die immer wieder zugeschlagen wird. Arme Tür. Armer Fuß. Trotzdem weitermachen, immer wieder. Was er mag: Obstsalat, Weisswein, Bücherstapel. Was er nicht mag: Tod, offene Bäuche, Poetry Slam.



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