Bernemann | Kalk | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 215 Seiten

Bernemann Kalk

Roman
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-949671-63-0
Verlag: Edition W
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 215 Seiten

ISBN: 978-3-949671-63-0
Verlag: Edition W
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Kalk, Mitte fünfzig und beflissener Mitarbeiter in einem Elektrofachgeschäft, muss raus. Der Lethargie des Alltags entfliehen, durchatmen und die Seele baumeln lassen. In Kijkduin, jenem Ort in den Niederlanden, an dem er schon als Kind mit seinen Eltern die Urlaube verbrachte, scheint Kalk Erholung zu finden. Als er ein Kind vor dem Ertrinken rettet, erwacht in ihm sein längst vergessenes Selbstbewusstsein und aus dem Antihelden wird ein Held. Er wächst über sich hinaus, geht an seine Grenzen und erfindet sich neu. Doch schnell verliert sich Kalk in der Fülle der Möglichkeiten, die sein gesteigertes Ego mit sich bringt, sein neues Ich entgleitet ihm und er droht sogleich alles zu verspielen. Letztlich holt ihn nicht nur die eigene Vergangenheit ein, sondern er lädt auch eine Schuld auf sich, die sich nicht einfach mit dem nächsten Bier in der Strandbar wegspülen lässt. Eine bitterböse Gesellschaftsstudie und ein Psychogramm des in die Enge getriebenen alten weißen Mannes.

Dirk Bernemann, geboren 1975 im westlichen Münsterland ist Schriftsteller und Journalist. Er ist Autor zahlreicher Romane und Kurzgeschichtenbände, darunter der Bestseller 'Ich hab die Unschuld kotzen sehen'. Zuletzt erschien 2021 sein Roman 'Schützenfest' bei Heyne Hardcore. Dirk Bernemann lebt in Berlin.

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April
Ihm steht ein freies Wochenende bevor, das er füllen muss. Womit genau, ist unklar. Ein Lebensmitteleinkauf gibt zumindest eine Richtung vor. Nachdem er sein Auto am äußersten Rand des Parkplatzes geparkt hat, geht er auf das Einkaufswagenhäuschen zu. Es sind nur noch zehn Wagen da, immerhin ist es Freitagabend. Kalk zieht einen der Wagen aus der Bucht und steuert auf die Tür des Supermarktes zu. Seine Gedanken haben kein Muster. Das Frühjahr macht ihn fertig. Der April wird unbeständig bleiben, so ku¨ndigen es die Meteorologen an. Vor zwei Wochen noch Frost, vorgestern 23 Grad und heute ein nebeliger Tagesbeginn. Mittlerweile sind es 15 Grad und unerwartete Schauer haben Pfützen auf dem Asphalt hinterlassen. Das ganze Jahr fühlt sich an wie ein beständiger April. Monat der O¨dnis. Kalk vermutet aber, auf das Gröbste vorbereitet zu sein, unklare Bilder von Zukunft flimmern vor seinen Augen. Aber die Definition des Gro¨bsten steckt ja als solche schon voller kleinteiliger Varianten der Grausamkeit. Kalk bewegt sich langsam durch die Ga¨nge des Supermarktes. Selbst der Blick auf die Zeitungsüberschriften, die er im Regal neben den Rätselheften sieht, sorgt nicht dafür, dass sich Kalks Stimmung verfinstert. Er ist das um ihn herum stattfindende Elend gewohnt. Er weiß auch nicht, ob es wirkliches Elend ist, was ihn umgibt, in seiner Vorstellung hat Elend heftigere emotionale Auswirkungen. Das richtige Elend ist ja auch immer woanders. Zumindest wird Kalk darin bestärkt, wenn er die Schlagzeilen sieht. Es beruhigt ihn, das Elend anderswo zu wähnen. Wäre das Elend bereits hier, er würde sich garantiert anders fühlen. Es ist sonst wo, dieses Elend, nicht hier, mitten in Deutschland, nicht in dieser Kleinstadt, nicht in diesem Supermarkt. Allerdings ist ihm auch klar, dass, nur weil er keine Schu¨sse ho¨rt, es nicht bedeutet, dass nicht geschossen wird. Wenn man sich die Mu¨he machte, Kalk zu fragen, was er denn beruflich macht, so wu¨rde er versuchen, nichts zu bescho¨nigen. Es passiert selten, dass Kalk danach gefragt wird, weil er Situationen meidet, in denen er danach gefragt werden ko¨nnte. Er ist seit vielen Jahren Verka¨ufer in einem Elektrogroß- und -einzelhandel. Die einzige Abwechslung in seinem Beruf besteht darin, dass er zeitweise durch ein Lager huscht und Großbestellungen fu¨r Installationsmaterial in einen großen Einkaufswagen legt und parallel dazu einen Lieferschein schreibt. Durchbrochen wird diese an sich meditative Ta¨tigkeit von Kundinnen und Kunden, die in das Fachgescha¨ft kommen, um Lampen, Spu¨lmaschinen und Elektroherde zu kaufen, und sich entsprechende fachliche Beratung wu¨nschen. Kalk kennt sich aus mit diesen Dingen, aber auf dem Heimweg muss er trotzdem gelegentlich sein Autoradio lauter stellen, damit es die Gedanken an die Sinnlosigkeit seiner Ta¨tigkeit u¨berto¨nt. Bislang funktioniert das. Kalk legt verschiedene frische Gemu¨sesorten in seinen Einkaufswagen, allein, um sich selbst das Gefu¨hl zu geben, die Dinge im Griff zu haben. Dabei setzt er bewusst einen Expertenblick auf, der suggeriert, er ko¨nne gutes von schlechtem Gemüse unterscheiden. Kalk beru¨hrt einen Brokkoli wie eine in Plastik verpackte Geliebte, legt ihn zuru¨ck, nimmt den na¨chsten Brokkoli, begutachtet seine prallen Ro¨schen und la¨sst ihn in einer Mischung aus Sanftmut und Gnade in den Einkaufswagen sinken. Die Fachleute sagen, durch Erna¨hrung und Bewegung habe man viel in der Hand, von dem man vermuten ko¨nne, es nicht in der Hand zu haben. Kalk vertraut auf diese Experten. Tomaten starren ihn an, er nimmt sie mit. Er legt eine Zucchini dazu, obwohl er nicht genau weiß, was man damit macht. Man wu¨rzt sie und packt sie in den Ofen, nachdem man milden Ka¨se daru¨bergestreut hat. Kalk kauft milden Ka¨se, damit auch die Zucchini denkt, dieser Einkauf wa¨re zielgerichtet. Schokolade, zwei Tafeln Zartbitter, das wirkt wie eine Belohnung, die er sich selbst gestattet. Er muss bei dieser Art von Schokolade an die alte Frau denken, die beim Versuch, eine Straße zu überqueren, vor seinen Augen gestu¨rzt war und der er daraufhin aufgeholfen hatte. Das ist nun vielleicht zehn Jahre her, aber er erinnert sich noch genau an die Kreuzung und den verzweifelten Blick der Frau. Aber der damals jüngere Kalk nahm sich ihrer an, half ihr auf die wackeligen Beine und geleitete sie an die andere Straßenseite. Zum Dank fu¨r Kalks Rettungstat zog sie eine Tafel Zartbitterschokolade aus ihrer Handtasche. Außerdem u¨berreichte sie ihm mit feierlichem Blick einen schmutzigen Fu¨nf-Euro-Schein. Kalk schämte sich ein wenig und wollte diese kindgerechte Belohnung nicht annehmen. Aber die Frau beharrte darauf und so gab Kalk nach. Fu¨nf Euro und eine Tafel Schokolade als Gegenwert fu¨r ungefa¨hr 80 Jahre besta¨ndiger Todesverweigerung? Kalk bedankte sich, steckte Geld und Schokolade ein und war sich sicher, dass der Mensch grundsa¨tzlich gut ist. Wenn auch nicht immer, wenn auch nicht u¨berall, aber da, wo es keine negativen Konsequenzen oder größere Mu¨hen oder Gefahren kostet, da kann man gut sein. Life is short, eat dessert first steht u¨ber dem Puddingregal, aber das Angebot u¨berzeugt Kalk nicht. Langsam la¨uft er weiter. Er denkt an die alte Frau und ihre Dankbarkeit. Wann erlebt man so was noch, echte Dankbarkeit? Allerdings hat er damals noch ein paar weitere Tafeln Schokolade in den Untiefen ihrer Handtasche erkennen können. Irgendwann wird man nicht mehr gerettet, irgendwann hat man seine letzte Tafel abgegeben. Davor, so denkt Kalk, kann man sich noch ein paar Mal ausgiebig mit Schokolade bedanken. Weiter zu den Grundnahrungsmitteln: Nudeln, Brot, Reis, Oliveno¨l. An Freitagabenden erkennt man die Krise deutlicher als an Montagvormittagen. Es gibt wieder erhebliche Lu¨cken im Bestand. Gru¨nde hierfür gibt es tausende. Bestehende Inflation, kommende Kriege, drohende Pandemien und immer wieder aufkeimende Klimakatastrophen, in Regionen, in denen das ansonsten selten oder nie passiert ist. Die Menschen: u¨berrascht. Die Politik: seit Jahren einen Mittelweg suchend. Die Probleme: mehren sich und bauen aufeinander auf. Die Auswirkungen: bemerkt man leicht verzo¨gert im Supermarkt. Kalk ha¨lt kurz inne und schaut auf sein Handy, weiß aber nicht, was er sich davon erhofft. Es ist eher ein hilfloses Starren und meditatives Scrollen durch eine immer undurchsichtiger werdende Welt, von einem, der am Puddingregal verharrt und so tut, als ha¨tte er eine Einkaufsliste erstellt. Kalks Einka¨ufe sind ausschließlich impulsiv. Er muss nur sich allein versorgen, das ist alles, das scheint zu schaffen zu sein. Bei der kurzen Handynutzung fa¨llt ihm das Datum auf. Kalk u¨berlegt, ob heute irgendjemand Geburtstag hat, den er kennt, und stellt fest, dass niemand auf der Welt wirklich auf ihn wartet. Schlimm fu¨hlt es sich nicht an. Aus den Lautsprechern tönen fro¨hliche Melodien, wa¨hrend Kalk einen Blick auf die Non-Food-Ware wirft. Blumento¨pfe, Tabletts fu¨r das Fru¨hstu¨ck im Bett, diese Holzbretter, die sich Leute quer u¨ber ihre Badewannenra¨nder legen, um dort ein Buch abzulegen oder eine Tasse abzustellen und dem Leben noch mehr Gemu¨tlichkeit abzuringen. Alles Dinge, die gekauft werden, um zumindest theoretisch Harmonie herzustellen. Neben den Gefriertruhen fu¨hlt Kalk sich wohl. Alles runtergeku¨hlt. Er schaut sich die gefrosteten Leichenteile, die Bla¨tterteigkreationen und die Torten an und erblickt einen Fisch, dessen vergleichsweise ausdrucksstarker Blick die Lebendigkeit der meisten anderen Einkaufenden zutiefst infrage stellt. Die eingeschweißte Forelle schweigt zuru¨ckhaltend und Kalk wu¨nscht ihr viel Glu¨ck, bei jemandem zu landen, der kulinarisch mit ihr umgehen kann, damit ihre Existenz nicht als verwirkt gelten wird. Aber zumindest sollte es jemand sein, der diesem schockgefrosteten Blick standhalten kann. Kalk geht weiter, doch die Forelle beißt sich mit ihrem offen stehenden Mund und den aufgerissenen Augen in seinem Bewusstsein fest. Er nimmt stattdessen Fischsta¨bchen mit, greift dann zum Gefrierspinat. Gedankenverloren schiebt er seinen Einkaufswagen bis zum Ende der Kühltheke. Er kann den Blick des Fisches auf dem Stapel der anderen Forellen nicht vergessen. Spontan geht er zuru¨ck und greift sich den frostigen Fisch. Das Tier ist unterarmlang. Die Fischaugen starr, der Ko¨rper komplett erhalten, außer am Bauch, da ist er aufgeschnitten und alle Innereien wurden entnommen. Einem nicht na¨her zu erkla¨renden Impuls folgend legt Kalk ihn zu den anderen Sachen in den Einkaufswagen und immer, wenn er auf die Waren herunterschaut, fa¨ngt ihn der kalte Blick des Fisches ein. Selbst auf dem Kassenband und in der Hand der Kassiererin fokussiert ihn der Fisch durch die transparente Folie, in die er eingeschweißt ist. Auf dem Namensschild der Kassiererin steht Linda van Blerk. Professionell la¨sst Frau van Blerk den Fisch u¨ber den Scanner gleiten und Kalk fragt sich, was in ihrem Kopf vorgeht. Denkt sie u¨ber seine Essgewohnheiten nach? Vermutlich macht sie sich u¨berhaupt keine Gedanken, der Kassiervorgang scheint ihre ganze Konzentration zu fordern. Fu¨r tiefer gehenden menschlichen Kontakt ist das hier ohnehin nicht der richtige Ort, weiß Kalk. Er packt seine Einka¨ufe in zwei mitgebrachte Jutebeutel, schließt seinen Kofferraum auf, verstaut dort alles und fa¨hrt los. Den Fisch hat er so positioniert, dass er aus dem Beutel herausschauen kann. Irgendwie verru¨ckt, dass er in dieser kurzen Zeit eine engere Beziehung zu dem Fisch aufgebaut hat, als zu irgendwem sonst in letzter Zeit. Im Radio wird von einem Krieg berichtet, der nicht...



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