E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Beseler Käuzchenkuhle
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-359-50037-7
Verlag: Eulenspiegel Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-359-50037-7
Verlag: Eulenspiegel Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erzählt wird die Geschichte des Jungen Jampoll, der während seines Ferienaufenthalts im Dorf Wolfsruh versucht, das Geheimnis um seinen Großvater, den Fischer Kalmus, zu lüften. Er und seine Freunde stoßen auf ein Verbrechen, dessen Spuren bis in die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs zurückreichen.
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Die leise Stimme Regen peitschte in scharfen Stößen aus der Dunkelheit herunter. Er trommelte aufs Wellblechdach der Gepäckabfertigung und hüllte die kleine Station mit seinem Rauschen ein. Der Wind ließ die beiden Lampen an Bahnsteig und Ladestraße so heftig schwanken, dass sie von ihren Masten abzureißen drohten. Lichtkreise huschten über das Pflaster wie Scheinwerferkegel im Zirkus. Alles troff vor Nässe. Der Junge starrte ins Unwetter hinaus. Den Kragen seines leichten Mantels hochgeschlagen und den Campingbeutel am Riemen auf die eine Schulter gehängt, lehnte Jampoll unter dem Vordach beim Fahrkartenfensterchen. Der Personenzug war längst in der Nacht verschwunden. Während des Aussteigens hatte Jampoll noch gehofft, dass der Regen nachlassen würde. Nichts hatte sich geändert. Wie sollte er nach Wolfsruh gelangen, ohne bis auf die Haut durchzuweichen? Sechs Kilometer bei strömendem Regen. Jampoll zuckte zusammen. Mit schmetterndem Krachen blendete ein Blitz auf. Fahle Helligkeit machte sichtbar, was sonst in der Finsternis verborgen blieb: drüben die stumme, dunkle Masse des Waldes, links die beiden steil aufragenden Schrankenbäume an der Chaussee nach Wolfsruh und rechts die in die Ferne hinein verlaufenden Schienen – glatt geschliffene Stahlbänder, die sich mehr und mehr verengten und an deren scheinbarem Ende Signallichter standen. Der Junge wollte sich abwenden. Da stieg eines der Signallichter etwas nach oben. Zugleich kam in der Ferne Räderrollen auf. Es nahm schnell zu, wurde zum Dröhnen. Lampen der Lokomotive schossen heran. Dann fegte die lange Wagenkette eines D-Zugs durch die kleine Station. Die hellerleuchteten Fenster der Abteile und des Speisewagens flogen vorbei; Schilder mit der Aufschrift »Leipzig – Stralsund«. Beim Passieren des Übergangs an der Chaussee heulte die Lok triumphierend. Jampoll war in den Regen hinausgetreten. Er konnte sich an diesem mit schwirrender Geschwindigkeit vorüberrasenden Zug nicht sattsehen. Er ließ geschehen, dass ihm der Fahrtwind neue Regenschauer ins Gesicht schlug. Er erlebte den Zug wie ein Wunder. Es war ein Wunder, an dem er nicht teilhaben durfte. »Stralsund …«, murmelte Jampoll. Ebenso schnell, wie der Zug aufgetaucht war, verschwand er wieder. Er hinterließ nur das Echo seiner rasenden Räder und ein paar Fetzen Rauch, die sich sogleich im Dunkel verflüchtigten. Von neuem übertönte des Regens schweres Rauschen alle anderen Laute der Nacht. Langsam ging der Junge unters Vordach zurück. Weil ihm die Nase lief, suchte er nach einem Taschentuch. Er fand keins; wahrscheinlich waren sie im Campingbeutel. Jampoll wischte sich mit dem nassen Ärmel die Nase. »Heulst du wegen des bisschen Regens …?« Ein Fremder stand da in der Dunkelheit. Ein sehr großer, schon älterer Mann, der eine Regenplane übergeschlagen hatte und ein Fahrrad mit sich führte. Wo kam er her? Möglicherweise war dieser Fremde mit demselben Zug wie Jampoll eingetroffen und hatte derweilen sein Fahrrad aus der Gepäckabfertigung geholt. »Ich heul ja gar nicht! Was wolln Sie denn?« Trotzig sah der Junge weg. Die Stimme des Fremden war still und leise, eigentlich vertrauenerweckend. »Holt dich niemand ab?« »Ich find schon alleine hin. Das bisschen Regen …«, entgegnete Jampoll. Wütend ruckte er den Campingbeutel auf der Schulter zurecht. Er mochte nicht, wenn Erwachsene so besorgt taten, als wäre er ein kleines Mädchen. »Zu wem willst du?« »Zum Großvater …, Fischer Kalmus.« Der Fremde mit seinem Fahrrad hatte weitergehen wollen. Nun hielt er inne. Es war eine knappe, fast brüske Bewegung. »Da bist du also ein kleiner … Kalmus?«, fragte er langsam. »Braucht ja nicht jeder ›Kalmus‹ zu heißen.« »Vielleicht wirst du mir anständig Auskunft geben?!« In die Stimme des Fremden trat plötzlich ein scharfer und schleifender Ton. »Fontanon heiß ich, wenn Sie’s unbedingt wissen wollen.« Der Mann wartete, aufmerksam und zugleich sonderbar un-schlüssig. »Jean-Paul Fontanon; aber sie nennen mich alle Jampoll.« »Du bist aus Frankreich?« »Ach wo, aus Berlin«, erklärte Jampoll widerwillig. »Vater heißt bloß so …, schon von früher.« Schweigend verharrte der Fremde. Er schien nicht belustigt wie andere Leute, wenn sie Jampolls vollen Namen zum ersten Mal hörten. Im Wesen dieses Mannes lag eine Verhaltenheit, die Respekt einflößte. Der Junge wusste nicht, woher sie kam, aus der Stimme oder vom Aussehen. Er hatte jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken. Er spürte es nur. Doch als sich der Fremde bewegte und aus dem Fahrkartenfensterchen voller Lichtschein auf sein Gesicht fiel, bemerkte Jampoll, dass eine kantige Narbe den linken Mundwinkel des Mannes verunstaltete. Der alte Medizinalrat in der Schönhauser Allee trug auch so eine Narbe. Vom Säbelfechten auf dem Paukboden der Studenten, früher mal. »Wenn du willst, nehme ich dich bis Wolfsruh mit.« »Vielleicht kommt noch’n Wagen vorbei.« »Jetzt kommt kein Wagen mehr vorbei.« Von der Schräge des Vordachs rannen sprühende Wasserschnüre. Auf dem Bahnsteig standen große Pfützen. Glitschiger Guss aus Sommerstaub, Kohlenruß und Feuchtigkeit überzog das Schotterbett zwischen den Schienen. »Also …, wenn Sie meinen.« Sonst war bei Jampolls Ankunft immer ein Fahrzeug an der Bahnstation gewesen. Der blaue Diesel von der LPG, ein Traktor mit Anhängern, der Dünger holen sollte, oder wenigstens von der Hühnerfarm ein alter Kutschwagen mit Spritzleder und lackiertem Wetterdach. Heute Abend hatte sich niemand sehen lassen. Der Junge bestieg den Gepäckständer hinter dem Fremden. Der breite Rücken des Mannes schützte ihn halbwegs vor den Regenböen. Jampoll duckte sich noch mal, die Füße hatte er knapp auf die Streben der Hintergabel gestützt. Sehr bequem war es nicht. Sie fuhren die Ladestraße hinunter, über das Kopfsteinpflaster der Anfahrt und dann auf die Chaussee. Als sie den Bahnübergang an der Schranke passierten, blickte Jampoll zurück. Da lag die Station hinter ihnen: eine kleine, erleuchtete Insel im Meer des Unwetters. Gleich darauf verschwand sie. Und ringsum stand nur noch Wald, wie eine Mauer von Finsternis. Die Linie der Wipfel hob sich kaum vom nachtschwarzen Himmel ab. Eine Weile fuhren die beiden schweigend dahin. Der Dynamo wimmerte unregelmäßig. Die Fahrradlampe pendelte einen schmalen Lichtkeil voraus. Das Tretlager knirschte bei jedem Druck auf die Pedale. Endlich fragte der Fremde: »Hat dich dein Großvater für die Ferien eingeladen?« »Die Eltern schicken mich her …«, erwiderte Jampoll mürrisch. Sofort überfiel ihn Trübseligkeit, wie vorhin, als der Stralsunder D-Zug durch die Station raste. Dieses Jahr hatte Jampoll gar nicht nach Wolfsruh kommen wollen, das war es. Viel lieber wäre er mit den anderen aus der Klasse an die Ostsee gefahren, ins Ferienlager, wo man den ganzen Tag baden konnte und versteinerte Seeigel suchen und glibbrige Quallen. Und wo bestimmt auch besseres Wetter war. Aber die Eltern hatten es nicht erlaubt. Und der Narben-Medizinalrat von der Poliklinik hatte gemeint, dass »das Kind« nach überstandener Krankheit noch keine Tobereien mitmachen und sich lieber bei der Großmutter erholen solle. In aller Stille. »Da werden deine Eltern auch nach Wolfsruh kommen?«, fragte der Fremde wieder. »Von wegen, die fliegen nach Moskau.« »Nach Moskau …?« Der Fremde war überrascht. »Was wollen sie in Moskau?« »Vater muss eben hin.« »Ist er bei der Regierung?« »Er hat da für die Zeitung zu tun.« »So …« »Und Mama fliegt mit; nur mich …« Ärgerlich verstummte Jampoll. Was ging das den Mann eigentlich an? Auf der Bahnfahrt hatte Jampoll beschlossen, während der Ferien nur das Allernötigste zu sagen, sich in schweigenden Trotz zu vergraben und derart gegen die Verschickung nach Wolfsruh zu protestieren. Genauso hatte er den Plan eines Hungerstreiks erwogen; dem Medizinalrat sollten die Augen aus dem Kopf fallen, wenn »das Kind« klapperdürr nach Berlin zurückkehren würde. Außerdem … Jampoll spürte einen Schlag am Schuh und wurde plötzlich nach vorn geworfen. Er prallte mit dem Gesicht gegen des Fremden Rücken. Hätte der Mann das Fahrrad nicht spreizbeinig im Gleichgewicht halten können, so wären sie auf der nassen Straße hingestürzt. Die Kette war abgesprungen. Sie klemmte zwischen den Zahnkränzen der Hintergabel. Der Fremde lehnte das Fahrrad an einen Baum und machte sich daran, den Schaden zu beheben. Jampoll stand zwei Schritte abseits. Er rechnete damit, für sein ungeschicktes Füßehalten ausgeschimpft zu werden; von allein war die Kette wohl kaum abgesprungen. Doch es kam nichts. Unterdessen ließ der Regen nach. Der Wind war schwächer geworden. Das schwere Gewölk am Nachthimmel zeigte lange Risse, hinter denen der Mond hervorlugte. Es wurde heller. Die Lichter von Wolfsruh, das jenseits einer weiten Straßenbiegung lag, waren noch nicht zu sehen. Aber die Umgebung konnte man jetzt viel besser erkennen als vorhin auf dem Bahnhof. Bäume traten aus der Finsternis. Und hatte das Rauschen des Regens bislang alle anderen Laute des Waldes erstickt, so kamen nun wieder Stimmen auf. »Bu … bu! Bu … bu!«, rief ein Kauz, zuerst gedämpft, dann aber hell und höhnisch. »Kuwitt … kuwitt!« Jampoll erschrak. Mit einem Mal empfand er Angst. Richtige Angst vor dem Wald, vor der Nacht und auch vor diesem ernsten Fremden, der wortlos am Fahrrad...