E-Book, Deutsch, 262 Seiten
Beutel / Pant Lernen ohne Noten
2. überarbeitete Auflage 2024
ISBN: 978-3-17-045033-2
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Alternative Konzepte der Leistungsbeurteilung
E-Book, Deutsch, 262 Seiten
ISBN: 978-3-17-045033-2
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
"Lernen ohne Noten" ist ein schulpädagogisch wie bildungspolitisch hoch bedeutsames Thema der Unterrichts- und Schulentwicklung. Es steht im Mittelpunkt der Debatten um Bildungsgerechtigkeit und demokratische Schule. Gesellschaftliche Krisenerfahrungen, das Erleben von Ungewissheit, die Sorge um Lernrückstände, der Einsatz von KI, dies alles verlangt nach neuen Lerndesigns, fachlicher Vertiefung, anderer Lernbegleitung und neuer Prüfungskultur. Es geht dann um eine Praxis der Leistungsbeurteilung, die auf Pädagogischer Diagnostik basiert, die Beteiligung der Lernenden ermöglicht, deren Förderung in einen Wirkungszusammenhang stellt und diesen professionell ausgestaltet. Mit der Vergabe von Noten gehen Ungerechtigkeit, Beurteilungsfehler und die Beeinträchtigungen der Selbstkonzepte von Lernenden einher, entsprechende Befunde sind bereits seit den 1970er-Jahren bekannt. Das Buch möchte Möglichkeiten aufzeigen, wie eine notenfreie Leistungsbeurteilung begründet und in allen Schulformen gestaltet werden kann. Dabei geraten pädagogische Spielräume in Gesetzen und Erlassen in den Blick. Ohne Noten zu lernen bedeutet, formativ-lernförderlich und dialogisch-partizipativ Erfolge für möglichst alle Lernenden auszuweisen, die Zukunftsbedeutung haben.
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1 Notengebung, Leistungsprinzip und Bildungsgerechtigkeit
Hans Anand Pant »Noten sind halt ungerecht, aber was willste machen?!« – in diesem leicht resignativen Alltagszitat einer Sekundarschullehrerin kommt zum Ausdruck, was die Diskussion um Notengebung als der dominierenden Praxis der Leistungsbeurteilung in Deutschland immer noch auszeichnet. Es ist eine Mischung aus rationaler Einsicht in die pädagogische Untauglichkeit von Noten und gleichzeitig deren scheinbare Unverzichtbarkeit für die Institution Schule und die alltägliche Anforderung der Leistungsbeurteilung an Lehrer*innen. Dieses Kapitel möchte die Annahme der prinzipiellen Ungerechtigkeit von Notensystemen unter verschiedenen Perspektiven beleuchten und zuspitzen. Dabei soll und kann die jahrzehntelange fachliche Beschäftigung aus pädagogischer, historischer, soziologischer, lernpsychologischer, bildungsrechtlicher und anderer Perspektive auch nicht ansatzweise rekapituliert werden. Ziel dieses Abschnitts ist es vielmehr, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es häufig die unhinterfragten Annahmen im alltäglichen Nachdenken über Leistungsbeurteilung sind, die Pädagog*innen zwangsläufig in »Fallen« laufen lassen. Durch die Anregung zur Reflexion dieser »Fallen« wird es (hoffentlich) verständlicher, was die praktischen Schulbeispiele alternativer, integrierter Systeme der Lernbegleitung und Leistungsbeurteilung, die im Verlauf des Buches zur Darstellung kommen, leisten können: Sie erobern das Leistungsprinzip zurück in einem erweiterten pädagogischen Sinne, d.?h. als Vorstellung einer ko-konstruktiven Gemeinschaftsanstrengung aller am pädagogischen Prozess Beteiligten. Im massenmedialen, aber auch im fachlichen Noten- und Leistungsdiskurs trifft man zunächst auf viel »semantisches Gestrüpp«. Da werden die Unterschiede zwischen Schlüsselkonzepten wie Lernen, Leistung, Potenzial und Fähigkeit verwischt oder – etwas konkreter – PISA-Test und Klassenarbeiten in einem Zuge als Instrumente der Leistungsbeurteilung bezeichnet. Zunächst sollen deshalb einige begriffliche »Sortierungen« und Ordnungsversuche vorgenommen werden. Diese beanspruchen keinen »Wahrheitswert«, sie möchten aber den fachwissenschaftlichen Diskurs aufgreifen und Lesenden und Schreibenden als gemeinsame Referenzpunkte im »Diskursgestrüpp« über Leistung und Noten dienen. Anschließend betrachten wir Notengebung – oder allgemeiner: Formen der Leistungsbeurteilung – unter gerechtigkeitstheoretischen Gesichtspunkten. Es wird versucht aufzuzeigen, welche widersprüchlichen Gerechtigkeitsmodelle zurzeit in der Diskussion kursieren und wie sich diese in einem zentralen Punkt der Leistungsbeurteilung widerspiegeln, der Bezugsnormorientierung. Zum Schluss dieses Kapitels möchten wir der Illusion entgegentreten, dass man allein durch wissenschaftliche Begründungen und Untersuchungen zu einer »gerechten« Form der Leistungsbeurteilung kommen könne, und argumentieren, dass wir immer wieder bei normativen Grundfragen landen werden. Welche Formen des gesellschaftlichen Miteinanders wünschen wir uns grundsätzlich, d.?h. auch und gerade jenseits der Institution Schule? Wie stellen wir uns das »Mischverhältnis« von inklusiven, kooperativen, wettbewerblichen, (höchst-)?leistungsorientierten, glücksorientierten oder anderen Prinzipien des Zusammenlebens vor? Wer diese Fragen dauerhaft ausblendet, so unsere Schlussfolgerung, wird – sei es als Lehrer*in, als Elternteil oder als Schulleitung – höchstwahrscheinlich in der »Notenfalle« stecken bleiben. 1.1 Lernen, Leistung, Leistungsfeststellung, Leistungsbeurteilung, Noten – einige begriffliche Sortiervorschläge
Betrachtet man jenseits einer routinehaften und »kurzatmigen« Alltagssicht (»Noten zeigen, wie gut Schüler*innen etwas gelernt haben«) den Zusammenhang zwischen Lehren, Lernen, Leistung und Noten, dann erscheint er schnell ziemlich komplex. Lernen im Kontext von Unterricht und Schule wird zunächst immer als ein Lernen in Bezug auf ein Lehren, also als Lehr-Lern-Prozess verstanden. Dabei ist die Seite des Lehrens verhältnismäßig gut sichtbar, planbar und beeinflussbar und liegt (in »klassischer« Sichtweise) überwiegend in der Verantwortung der/des Pädagog*in. Dass »auf der anderen Seite«, also auf Seiten der Kinder und Jugendlichen, etwas gelernt wurde, muss hingegen erst sichtbar gemacht werden durch entsprechende Verfahren der Feststellung oder Erfassung von Ergebnissen des schulischen Lernvorgangs. Dazu zählen längst nicht mehr nur klassische Lernerfolgskontrollen, wie etwa von der Lehrkraft entwickelte schriftliche Klausuren und mündliche Prüfungen, sondern ein ausdifferenziertes Arsenal an unstandardisierten und standardisierten Instrumenten, wie Lerntagebücher, Lernlandkarten, Portfolios, Kompetenzraster, Lernentwicklungsgespräche, um nur Beispiele zu nennen. In Kapitel 2 werden einige von ihnen näher beschrieben und auf ihre empirisch feststellbaren Wirkungen und Zusammenhänge mit Lernergebnissen untersucht (? Kap. 2). Diese Instrumente werden eingesetzt, um etwas prinzipiell für Außenstehende – auch für den/die Lehrer*in – »Uneinsehbares«, nämlich das Lernen selbst, sichtbar und für den Lehr-Lern-Prozess verfügbar zu machen.2 Die Lernenden selbst bräuchten, um zu lernen, diese Akte der Feststellung und Erfassung von außen nicht. Sie könnten ihr eigenes Lernen, d.?h. »das Mehr« und die Entfaltung von Wissen und Können, in der tätigen oder reflexiven Auseinandersetzung mit der dinglichen und sozialen Umwelt erleben und für sich selbst erfahren. Der hohe Stellenwert, den geeignete Rückmeldungen (»Feedback«) im Lernprozess haben können, ändert an dieser prinzipiellen Unabhängigkeit von innerem Lernvorgang und äußerer Sichtbarmachung nichts. In diesem Sinne bleibt Lernen stets ein latentes Konstrukt. Der institutionelle Zugriff auf das unsichtbare Lernen erfolgt nun, wenn man so will, durch einen gesellschaftlich anerkannten, d.?h. über Normen und Traditionen abgesicherten, sowohl rechtlich, administrativ als auch professionsmäßig verankerten »Kniff«. Dieser Kniff besteht ganz simpel darin, dass Lernen im schulischen Kontext als Leistung deklariert wird: Wer in der Schule (nachweislich) etwas gelernt hat, hat etwas geleistet. Aus dem unbeobachtbaren Lernprozess resultiert die ebenso konstrukthafte Lernleistung. Aus dem Versuch, mittels Verfahren und Instrumenten Lernprozesse sichtbar und fassbar zu machen, wird auf diese Weise Leistungsfeststellung bzw. Leistungserfassung. Für diesen Etikettierungsvorgang ist es zunächst unerheblich, was der Gegenstand des Lernens ist oder welches die Lernziele sind. Diese können ebenso fachlicher wie fachübergreifender Art, auf soziales Lernen oder auf das Lernen-Lernen, also Lernstrategien, oder das Kennen und Anerkennen sozial erwünschter Haltungen und Einstellungen gerichtet sein – alles, was demzufolge im schulischen Kontext als lernbar angesehen wird, bzw. für das Lernziele formuliert werden können, ist grundsätzlich als Leistung definierbar. 1.2 »Was ist schulische Leistung?«
Obwohl also der Leistungsbegriff in der schulischen Praxis und in der Erziehungswissenschaft ganz offenbar von zentraler Bedeutung zu sein scheint, gerät man schnell ins Stocken, wenn man jenseits der Behauptung, es handele sich um eine bloße Etikettierung (»Kniff«), dingfest machen soll, was schulische Leistung »im Kern« bedeutet. Es mangelt dabei keinesfalls an Definitionsversuchen in der bildungstheoretischen und erziehungswissenschaftlichen Fachliteratur. Für Klafki (1985) ist Leistung z.?B. bestimmt als »Ergebnis und Vollzug einer zielgerichteten Tätigkeit, die mit Anstrengung und ggf. mit Selbstüberwindung verbunden ist und für die Gütemaßstäbe anerkannt werden, die also beurteilt wird« (S. 174; Hervorhebungen v. Verf.). Der Schulpädagoge und ausgebildete Lehrer Christian Nerowski hat eine ganze Reihe solcher Bestimmungsversuche aus Pädagogik, Psychologie und empirischer Bildungsforschung auf gemeinsame Elemente untersucht. Er hat dabei eine überschaubare Anzahl von Kriterien identifiziert, die wiederholt genannt werden (Nerowski, 2018a). Demnach ist schulische Leistung u.?a. verbunden mit der Vorstellung von »Aktivität«, »Tätigkeit« und »Anstrengung« der Schüler*innen, sie ist »zielgerichtet« und damit »absichtsvoll«, an schulischen »Anforderungen« ausgerichtet und »ergebnisorientiert«. Schulische Leistungen müssen prinzipiell durch geeignete Aufgaben, didaktische Methoden und Sozialformen des Unterrichtens initiierbar und steuerbar sein. Leistung muss, um als solche bezeichnet zu...