E-Book, Deutsch, 376 Seiten
Bielenstein Jordan. Die Jagd
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-401-80011-0
Verlag: Arena
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 376 Seiten
ISBN: 978-3-401-80011-0
Verlag: Arena
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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3. Ein Hochgeschwindigkeitsfahrstuhl brachte uns in den sechsten Stock des Gebäudes, wo ich mich in einem modernen Großraumbüro wiederfand. Einer Werbetafel neben dem Eingang konnte ich entnehmen, dass die Firma, in der wir uns aufhielten, mit Elektrokomponenten handelte – offiziell jedenfalls. Ob es wirklich stimmte, konnte ich nicht sagen. Die Organisation unterhielt auf der ganzen Welt alle möglichen Tarnfirmen und Scheinadressen, ohne dass irgendjemand ahnte, was in Wahrheit hinter den Türen so getrieben wurde. Knaup führte uns mit schnellen Schritten einen Korridor entlang. In verschiedenen verglasten Büros saßen unzählige Männer und Frauen und gingen ihrer Arbeit nach. Sie telefonierten, schrieben Mails, hielten Meetings ab und wie üblich hatte ich nicht die geringste Ahnung, ob sie eingeweiht waren oder nicht. Am liebsten hätte ich Knaup danach gefragt. Aber ich hätte sowieso keine Antwort bekommen. Im Laufe der Zeit hatte ich gelernt, mich damit abzufinden. Antworten gab es immer erst dann, wenn die Führungsleute es für nötig hielten. »Okay, Jungs«, sagte Knaup. »In einer Stunde beginnt unsere Besprechung im großen Konferenzraum. Bis dahin könnt ihr euch da vorne etwas frisch machen. Lizzy, meine Sekretärin, war so nett, ein paar Burger und ein paar Cokes zu holen.« »Wow, danke, Knaup«, sagte Quarks begeistert und sprach mir damit aus der Seele. »Tut mir leid, Quarks. Für dich hat sie eine Tofufrikadelle und Mineralwasser besorgt. Du weißt ja . . .« Quarks’ Mundwinkel berührten fast den Boden vor Enttäuschung. »Ja, ja, ich weiß, ich bin zu dick. Schon gut«, murmelte er. Quarks war mit seinen ein Meter sechzig mehr als einen Kopf kleiner als ich, aber er war mindestens dreimal so breit. Das heißt, breit war er eigentlich gar nicht, sondern eher rund. Wir Jungs sparten es uns, ihn deswegen aufzuziehen. Erstens kannten wir ihn nicht anders und zweitens gehörte sein Aussehen irgendwie zu ihm dazu. Quarks selber sah das übrigens genauso, was er uns mehr als einmal mit folgenden Worten erklärt hatte: »Computerspezialisten müssen so aussehen. Wir brauchen Sitzfleisch. Unsere Heldentaten vollbringen wir schließlich nicht draußen in der wirklichen Welt, sondern online, in den Weiten des WWW. Und da ist es ganz egal, wie du aussiehst. Da zählt nur Köpfchen.« Sein Tonfall klang nach einer Mischung aus Frust und Trotz. Und um ehrlich zu sein, ich glaube sogar, dass er recht damit hat. »Ach, und Jordan . . .«, sagte Knaup und wandte sich an mich. »Was?«, entgegnete ich barsch, obwohl ich genau wusste, was jetzt kommen würde. »Dein Outfit . . .« »Was ist damit?« »Geht’s vielleicht ein wenig unauffälliger? Du kennst doch Regel drei des Großen Statuts.« »Unauffälligkeit kann dein Leben retten«, zitierte ich gelangweilt, denn wie jedes Mitglied der Organisation kannte ich das Große Statut natürlich in- und auswendig. Wenn man mich mitten in der Nacht geweckt hätte, hätte ich die zehn Regeln, aus denen es besteht, im Halbschlaf herunterbeten können. Angefangen natürlich bei der allerwichtigsten, der ersten Regel: Die Mittel, die du wählst, dürfen niemals im Gegensatz zu deinen Zielen stehen. Das klingt zwar kompliziert und etwas seltsam, aber in dieser Regel steckt echtes Dynamit. Es unterscheidet die Organisation von allen anderen Geheimdiensten auf der ganzen Welt. Bei denen ist es nämlich manchmal gerade umgekehrt: Ihre Mittel entsprechen nicht zwangsläufig den offiziellen Zielen, die beispielsweise eine Regierung hat. Und nicht selten kommen dabei Gewalt, Folter oder sogar Mord ins Spiel. Wenn solche Aktionen dann auffliegen und an die Öffentlichkeit gelangen, wollen die Politiker, die sie angeordnet haben, natürlich nie etwas davon gewusst haben. Aber wir sind anders. Zum Glück. Denn sonst würde ich auch bestimmt nicht dabei sein. Die übrigen Regeln des Großen Statuts waren übrigens sehr viel unspektakulärer und besagten zum Beispiel, dass wir niemals gegen Menschen, Tiere oder die Umwelt handeln durften, dass wir auf unsere eigene Sicherheit achten sollten und jede Menge anderes Blabla. Aber was soll’s, überall gibt es so etwas wie Rituale, und was ich in Wahrheit über sie denke, muss ich ja nicht an die große Glocke hängen. Regel Nummer drei – die Unauffälligkeit – hasste ich auf jeden Fall ganz besonders. Aber es war nun einmal eine der Kehrseiten des Agentendaseins, die ich akzeptieren musste. Immer wieder war ich gezwungen, mich von dem Punker, der ich eigentlich war, in das langweiligste, spießigste, dämlichste Muttersöhnchen zu verwandeln, das man sich nur vorstellen konnte. Heute war es mal wieder so weit. »Hab schon verstanden, Knaup«, sagte ich und schaffte es nicht, den genervten Ton im meiner Stimme zu unterdrücken. »Wenn wir gleich beim Meeting sitzen, werde ich der unscheinbare, ordentliche Junge sein, den sich jede Mutter als Schwiegersohn wünschen würde . . .« »Ich nehme dich beim Wort«, sagte Knaup und verschwand auch schon türenknallend in einem der vielen Büros. Eine halbe Stunde später war es passiert. Ich hatte mich verwandelt. Rick, der Punker, war verschwunden und stattdessen war ein braver Junge namens Richard wiederauferstanden. Ich hatte meinen bunten Stegosaurus-Stachel-Haarkamm geopfert, hatte mich von meinen Lippen-, Ohren- und Kinnpiercings befreit und meine Lederjacke gegen eine biedere Strickjacke eingetauscht. Mit einer hautfarbenen Spezialcreme hatte ich sogar meine Tattoos an den Armen abgedeckt. Das Ganze schmerzte meine Indianer-Irokesen-Seele bis in die tiefsten Tiefen – aber der Spaß am Agentendasein war es mir wert! Nach meiner Verwandlung stürmte ich mit Quarks in den Pausenraum, um mich erst mal mit Coke und Burgern vollzustopfen. Als ich die Tür aufriss, war mir allerdings augenblicklich klar, dass mein neues Outfit nicht die einzige Zumutung war, die Knaup für mich parathielt. In dem kleinen Raum, in dem zwei Sofas und ein paar Sessel standen, wartete nämlich eine Bombe auf mich – eine Bombe, die auf den Namen Rebecca Kamps hörte. Becca, wie wir sie nannten, war das ätzendste, unerträglichste, nervtötendste Mädchen, das man sich nur vorstellen konnte. Einfach scheiße. Sie war ein halbes Jahr älter als ich – ich war übrigens sechzehn –, um einiges größer und dazu so arrogant, dass sie jeden Jungen in ihrem Umkreis wie einen Fußabtreter behandelte. Und mich insbesondere. Das Problem war allerdings, dass Becca eben auch eine Agentin in den Diensten der Organisation war und dazu, wie ich leider zugeben musste, eine verdammt gute. Sie war eine brillante Kämpferin, die es in unserem Kampfstil, dem Liuhe Bafa, zur höchsten Meisterschaft gebracht hatte. Es gab keinen Jungen, der es im Dojo beim Sparring mit ihr aufnehmen konnte. Sie legte jeden auf die Matte. Außerdem war sie eine superfitte Kletterin und eine Meisterin, wenn es darum ging, Schlösser aufzuknacken. Trotzdem hasste sie mich genauso, wie ich sie hasste. Wir waren einfach wie Plus und Minus, MTV und Viva, Leben und Tod. Und zwar von der ersten Sekunde an, in der wir uns begegnet waren. Das war besonders merkwürdig, weil Becca früher auch Punkerin gewesen war und auf der Straße gelebt hatte. Aber davon merkte man nicht mehr viel. Im Gegenteil. Sie war total autoritär und ging grundsätzlich davon aus, dass ihr alle Menschen gehorchen mussten, erst recht, wenn sie jünger waren als sie selbst. Aber gehorchen ist nun einmal eine Vokabel, die in meinem Wortschatz nicht vorkommt. Und dafür hasste sie mich. Die Tatsache, dass sie in diesem Raum war, konnte nur eines bedeuten: Knaup wollte uns zusammen in ein Einsatz-Team stecken. Und das, obwohl er genau wusste, dass wir wie eine Mischung aus Nitro und Glycerin waren! Aber es hätte keinen Sinn gehabt, mich deswegen zu beschweren. Knaup würde mich nur Regel Nummer fünf des Großen Statuts aufsagen lassen: Lasse deine Arbeit nie von persönlichen Vorlieben oder Abneigungen beeinflussen, denn sie können dir zum Verhängnis werden! Ich hatte eine andere Meinung, denn ich fand, dass Becca mein Verhängnis war. Aber mich fragte ja niemand. Ich fing gerade an zu bereuen, dass ich mich von Knaup zu dem Auftrag hatte überreden lassen, als ich bemerkte, dass noch jemand im Raum war. Sofort machte meine Laune einen Senkrechtstart ins Blaue. Der Junge, der dort in der Ecke auf dem Sofa lag und gelangweilt auf den Flatscreen starrte, war niemand anderes als Mehmed Yildirim, den wir Memo nannten – der korrekteste Typ zwischen hier und Istanbul! Und wenn er ebenfalls zu meinem Team gehören sollte, dann war das mehr als ein Ausgleich für diese Ätztusse Rebecca. Memo war schon siebzehn oder vielleicht noch älter, aber...