E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Bilhöfer / Liebig / Übel 26. April 1986: Tschernobyl
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-17-034349-8
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Folgen einer Katastrophe
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-17-034349-8
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
The year 1986 brought catastrophe for humankind and the environment. A nuclear power station exploded in the Ukraine, and a chemicals accident in Switzerland killed off almost all the aquatic life in the Rhine. The impact of the two events worldwide was and continues to be immense. The events became deeply rooted in society=s collective memory and are regarded as the hour of birth for the environmental movement, both in Germany and internationally. This volume not only traces the two events, but also explains the relationship between state and society and the emergence and influence of the New Social Movements, linking the presentation of German history with issues of technical, environmental and social history.
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2 »Eine Gefährdung der Bevölkerung in der Bundesrepublik ist absolut auszuschließen«
Die ersten Anzeichen für das Ausmaß des in der Ukraine sich abspielenden Unheils in der gut 1 500 Kilometer vom Unfallort entfernten Bundesrepublik Deutschland zeichneten sich am Dienstagmorgen, den 29. April 1986 ab. Während ein Teil des Personals der sowjetischen Botschaft in Bonner Apotheken nach Medikamenten »gegen Strahlenschäden« fragte, wurden die Mitarbeiter des Deutschen Atomforums beim Arbeitsantritt um 08:00 Uhr vom Zweiten Sekretär der Botschaft erwartet. Der Gast bat sogleich um Ratschläge, »was man um Himmelswillen tun könne, wenn in einem Kernkraftwerk Graphit brenne«. Die Mitarbeiter des Atomforums verwiesen den Botschaftssekretär an die Gesellschaft für Reaktorsicherheit in Köln und das Kernforschungszentrum Karlsruhe, zudem wurde das Auswärtige Amt eingeschaltet. Umgehend bot dort Staatssekretär Jürgen Ruhfus (1930–2018) Hilfe an. So stünden für diesen Fall sowohl ferngesteuerte Roboter als auch ausgebildete Einsatzkräfte der Kernforschungsanstalt Jülich und des AKW Obrigheim bereit. Der sowjetische Botschafter dankte umgehend und leitete die Offerte nach Moskau weiter.1 Erst seit wenigen Tagen in Amt, hatte der zuvor als Gorbatschows Chefunterhändler bei den Genfer Abrüstungsgesprächen tätige Julij Kwizinskij (1936–2010) an diesem Dienstag ursprünglich seinen Antrittsbesuch im Auswärtigen Amt geplant. Doch an die Stelle der üblichen diplomatischen Plaudereien traten jetzt die im Schatten des Reaktorunglücks sich aufdrängenden Fragen. Um 22:00 Uhr informierte Kwizinskij den Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann (1925–2012) über die ihm bekannten Einzelheiten des Reaktorunglücks und erklärte »dass man die Lage unter Kontrolle habe«. Zimmermann dankte für die Auskunft und bot im Gegenzug Unterstützung an, erwartete aber bei neuen Entwicklungen, dass die Bundesregierung benachrichtigt werde.2 Schon vor diesem Gespräch war ein hektisches Treiben in den Bonner Regierungsbehörden zu beobachten. Während Bundeskanzler Helmut Kohl auf seiner Asienreise von Neu Delhi aus der Sowjetunion Hilfe anbot, versuchten die zuständigen Stellen in Bonn, Näheres über das Reaktorunglück zu erfahren. Dabei standen das seit 1973 für Reaktorsicherheit zuständige Bundesinnenministerium und das mit Atomfragen betraute Bundesministerium für Forschung und Technologie im Fokus.3 Beide verbreiteten am 29. April fast wortgleiche Verlautbarungen über den Reaktorunfall, worin sie die Sicherheit der deutschen Kernanlagen hervorhoben, einen ähnlichen Unfall auf bundesdeutschem Gebiet ausschlossen, und betonten, dass von der freigesetzten Radioaktivität keine Gefahr ausginge.4 Der Bundesinnenminister will die Öffentlichkeit beruhigen
Während das Forschungsministerium seit dem späten Montagabend versuchte, sich einen genaueren Überblick zu verschaffen, wies der Bundesinnenminister die in seinem Haus ansässige Strahlenschutzkommission schon am späten Nachmittag des 28. April an, mit Luftmessungen im ganzen Bundesgebiet zu beginnen. Eine ähnliche Aufforderung erging an seine Amtskollegen auf Länderebene. Am Nachmittag des 29. Aprils trat Friedrich Zimmermann vor die Kameras. In einem inzwischen in die Annalen eingegangenen Interview mit dem »Tagesschau«-Redakteur Harald Brand (1941–2018) antwortete der Minister auf die Frage, ob »ein Gefährdung der Bevölkerung in der Bundesrepublik auszuschließen sei« mit »Ja, absolut auszuschließen. Denn eine Gefährdung besteht nur in einem Umkreis von 30 bis 50 Kilometer um den Reaktor herum. […] Wir sind 2 000 Kilometer weg. Messungen, wie sie in Skandinavien stattgefunden haben, könnten zehn-, zwanzigfach höher ausfallen in den Werten, dann wäre es immer noch keine Gefährdung.«5 Obgleich zu diesem Zeitpunkt die tatsächlichen Erkenntnisse über das Reaktorunglück auch in Bonn noch recht dürftig waren, war der Minister mit diesen Aussagen sehr weit vorgeprescht, was sich die nächsten Tage und Wochen rächen sollte. Die erste Mahnung kam schon wenige Stunden später aus einer unerwarteten Ecke. In einem »Tagesthemen«-Kommentar warnte Hans Lechleitner (*1930) vom Bayerischen Rundfunk davor, voreilige Schlüsse zu ziehen: »Auch hierzulande würde ich Abb. 4: Bodenbelastung Deutschlands im Mai 1986 mit Cäsium-137. dem Innenminister und dem Forschungsminister lieber nicht glauben, wenn sie sagen, dass so etwas bei uns ganz unmöglich sei.« Über die aktuelle Situation resümierte der Wissenschaftsredakteur »Unser Schicksal wird vorerst nicht nur vom Zufall, sondern auch von der Windrichtung abhängen.«6 Lechleitner ahnte wohl nicht, wie sehr die Ereignisse der nächsten Tage ihn bestätigen sollten. Noch am 30. April titelten die bundesdeutschen Zeitungen Gefahr allenfalls bei Ostwind und Der Wind darf nicht von Osten kommen7 Doch der Wind drehte. Am Abend vor dem 1. Mai fing es in mehreren Teilen der Bundesrepublik an zu regnen. Insbesondere in Bayern und den östlichen Teilen Baden-Württembergs gingen starke Wolkenbrüche nieder, deren Folgen bis heute in den Waldböden zu messen sind. In manchen Regionen betrug Mitte Mai 1986 die Belastung um das 400-fache über den vorher gemessenen Werten. Auf einer Wiese bei Bad Wurzach in Oberschwaben ergaben Messungen der Behörden Jod-131- Werte »an der Katastrophengrenze« von 50 000 Becquerel, im Bayerischen Wald fanden sich »Hotspots« mit bis zu 100 000 Becquerel Cäsium-137 pro Quadratmeter.8 Infobox 3: Ein neues Wort macht die Runde: Becquerel
»Tschernobyl ist nicht überall. Aber seit der Katastrophe ist vieles anders. So müssen wir uns mit neuen Vokabeln vertraut machen, die bisher nicht zu unserem Alltags-Wortschatz gehörten: Gammadosisleistung, Störfallgrenzwert, Dekontamination, Ganzkörperdosis. […] Und wir werden die verschiedenen Meßeinheiten für radioaktive Konzentrationen erlernen müssen: Millirem und Mikroröntgen, Picocurie, Bequerel und Sievert […]« Mit diesen Worten beschrieb Günter Hollenstein (*1954) in der »Frankfurter Rundschau« im Mai 1986, was die Bevölkerung eine Woche nach Tschernobyl bewegte. Ob Lebensmittel, Boden-, Wasser- oder Luftproben – in allen Bereichen des Lebens war plötzlich von »Becquerel« die Rede.9 Die nach dem französischen Physiker Antoine Henri Becquerel (1852–1908) benannte Einheit »Bq« beschreibt das Ausmaß des radioaktiven Zerfalls in einer Substanz: Wenn ein Atom pro Sekunde zerfällt, so beträgt der Wert 1 Bq.10 Über Masse und Beschaffenheit der Materie sagt diese seit 1975 international gültige Größe aber ebenso wenig etwas aus, wie über die darin befindlichen radioaktiven Elemente, Strahlenarten sowie die Auswirkungen. Über diese sogenannte »Energiedosis« geben Einheiten wie »Sievert« und »Gray« Auskunft. Eine wichtige Rolle spielt die Größe Becquerel z. B. in der Lebensmittelüberwachung. In den 1986 vom Fallout stark betroffenen Waldgebieten finden sich immer noch Wildschweine mit einer hohen radioaktiven Belastung durch Cäsium 137. Liegt der EU-Handelsgrenzwert für Fleisch bei 600 Bq/kg, so ergaben Stichproben in Bayern Werte von bis zu 48 000 Bq/kg. Im tschechischen Atomkraftwerk Temelin löste 2015 ein Mann beim Betreten der Anlage einen Strahlenalarm aus, nachdem er zuvor einen Wildschweinbraten gegessen hatte.11 Verunsicherung und Verwirrung nach den ersten Regenschauern
Wie schon in Dänemark setzte ab dem 29. April in der Bundesrepublik der Run auf Jodtabletten ein.12 Bis zum 3. Mai waren in den meisten Apotheken die rezeptfrei erhältlichen Jodpräparate ausverkauft, es kam sogar zu Engpässen bei Lieferungen der Basissubstanz Kaliumjodid. In der falschen Hoffnung, gegen den Tschernobyl-Fallout nun immun zu sein, konsumierten zahlreiche Bundesbürger die Tabletten offenbar wie Hustenpastillen: »Beim ›Tanz in den Mai‹ Anno 1986 war bei vielen nicht nur der obligatorische Maibock dabei, sondern auch ein Döschen mit Jodpillen« meldeten die Ruhr-Nachrichten.13 Die Folgen blieben nicht aus. Seit dem 2. Mai stand das Infotelefon in der Giftzentrale der Mainzer Universitätskliniken nicht mehr still: Zahlreiche Anrufer berichteten von Symptomen, die typisch für eine...