Birgisson | Die Insel Kolbeinsey | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Birgisson Die Insel Kolbeinsey


1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7017-4746-7
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-7017-4746-7
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eine atemlose Verfolgungsjagd durch die magische Landschaft Islands. In 'Die Insel Kolbeinsey' erzählt Bergsveinn Birgisson von sympathischen Außenseitern und der magischen, wilden Landschaft seiner Heimat: Ein Mann beschließt, seinen depressiven Freund aus der psychiatrischen Anstalt zu befreien, in die dieser eingewiesen wurde. Die Abgeschiedenheit der nördlichsten Insel Islands soll ihn heilen. Die Flucht der beiden aus der Zivilisation wird zu einer wilden Verfolgungsjagd, die sie in immer entlegenere Gebiete führt. Eine wütende Krankenschwester, die ihnen auf den Fersen geblieben ist, wird gekidnappt und auf den Rücksitz des Autos verfrachtet. Zu dritt treten sie eine filmreife Reise an, die 'Fargo' an Absurdität um nichts nachsteht und die tiefe Freundschaft der beiden Männer auf eine harte Probe stellt.

Bergsveinn Birgisson geboren 1971 in Rejkjavik, studierte altnordische Literatur in Bergen (Norwegen) und forscht vor allem zur Dichtung des skandinavischen Mittelalters. Er publizierte zwei Gedichtbände sowie Essays und mehrere Romane, die zahlreiche Preise gewannen. Birgisson lebt in Bergen, wo er auch an der Universität lehrt. Auf Deutsch erschienen bisher sein gefeiertes Romandebüt 'Die Landschaft hat immer recht' (2018), 'Quell des Lebens' (2020), mit dem er auf der Shortlist für den Preis des Nordischen Rates und für den Isländischen Literaturpreis stand, 'Antwort auf den Brief von Helga' (2022) und 'Die Insel Kolbeinsey' (2025). Eleonore Gudmundsson (Übersetzung) geboren 1965 in Wien. Studium der Skandinavistik, Publizistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien. Studium des Isländischen an der Universität Island. Geprüfte Fremdenführerin für Island. Lektorin für Isländisch an der Universität Wien. Derzeit Arbeit an der deutschen Ausgabe des Online-Wörterbuches ISLEX. Eleonore Gudmundsson übersetzte für den Residenz Verlag die Werke von Bergsveinn Birgisson.
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1


DAS SCHLACHTFELD


Ich bin ein Tiefseefisch, ins Seichte getrieben, das war das Letzte, was mein Freund gesagt hatte, bevor er vor ein paar Tagen den Hörer auflegte. Jetzt war er in die Psychiatrie zwangseingewiesen worden und ich musste immer wieder an diesen Satz denken. Was hatte er gemeint? An diesem Dezembermorgen drang durch das Wohnzimmerfenster schwaches Tageslicht. Die Zweige der Bäume bogen sich unter der Schneelast, die sich an ihnen festgefroren hatte. Das Gras war von Raureif überzogen, bräunlich verwelkte Blumen im Beet.

Eine Drossel kam und versuchte, sich einen Bissen aus dem Futterknödel zu picken, der im Wind schwang. Aber der Futterknödel war fast aufgebraucht, wir hatten ihn im Herbst aufgehängt. Ich dachte, dass die Singvögel genau jetzt Futter bräuchten. Ich betrachtete das Plastiknetz des Futterknödels, das hin und her geweht wurde. Ein Netz, um den Wind zu fangen, wie es in der Lyrik heißt.

Die Drossel war auf der Erde gelandet und wühlte heftig in den braungefrorenen Blättern. Sie würde aller Wahrscheinlichkeit nach draufgehen, wenn sie nichts zu fressen fände.

Ich musste an die Vorlesungen denken, die ich halten sollte. Die Angst begann vom Solarplexus aus zu pumpen und strömte durch den ganzen Körper wie lähmendes Gift.

Es ist ziemlich unheimlich, zu spüren, wie das vor sich geht; man hat einen Gedanken und daraufhin beginnen irgendwelche Drüsen, bittere Stoffe abzusondern und den ganzen Körper damit zu überschwemmen. Alle unbeantworteten E-Mails drangen in mein Bewusstsein. Alles, was ich versprochen hatte. Das Manuskript, das endgültig gestrandet schien …

Es traf mich wie ein Keulenschlag, dass das Leben so nicht sein sollte. Gesegnet sei die kurze Erleichterung, die sich manchmal einstellt. Ich war verdammt nochmal ein Mensch. Diese Lebensform, in die ich geraten war, wurde mir für einen Augenblick fremd, und es kam mir in den Sinn, dass Menschen oft durch »ihre Hölle« gehen, wenn sie in der Mitte des Lebens angelangt sind. Jetzt war die Zeit vielleicht an mir. Der Stand zur Halbzeit war elendig und die Prognose für die zweite Spielhälfte mies. Der Gedanke an meine Vorlesungen verursachte mir Übelkeit, vor Menschen zu stehen und über etwas zu sprechen, wenn das Herz nicht mehr der Sprache folgte. Wozu Dichtung? Wozu überhaupt Geschichten? Dichtung hatte nicht vermocht, mich zu retten. Ich war …

Hörst du mich überhaupt? Meine Freundin war vom Frühstückstisch aufgestanden. Du solltest losgehen und deinen Freund besuchen. Du kannst einfach auf der Uni anrufen und sagen, dass du Grippe hast, sowas kommt in den besten Häusern vor. Er braucht dich jetzt und vielleicht – sie zögerte und unterließ es, auszusprechen, was sie auf den Lippen hatte, sie seufzte durch die Nase, wie es ihre Art war, und sagte dann: Irgendwie … würde dir das vielleicht guttun. Du bist so abwesend, mein Lieber. Man muss dir alles zurufen wie durch ein schlechtes Walkie-Talkie. Wir leben im selben Haus. Was ist uns eigentlich eingefallen, in dieses Haus einzuziehen? Diese wunderbare Frau mit der allerzärtlichsten Stimme kam zu mir her und umarmte mich von hinten: Wo bist du, mein Freund? Wo ist mein alter fröhlicher Junge?

Mein Freund war immer wieder depressiv gewesen. Aber diesmal war es anders, es war, als hätten alle Dämme nachgegeben und eine schwarze, zähflüssige Masse sich ihren Weg in seine Seele gebahnt wie ein reißender Strom durch eine geborstene Staumauer. Wie seine Mutter die Sache darstellte, hatte er aufgegeben und wollte nicht mehr leben. Er hörte auf, das Bett zu verlassen, und als er sich weigerte, seiner Notdurft nachzukommen, wurde er in die Psychiatrie eingeliefert.

Ich hatte zu diesem meinem Freund immer aufgeblickt, und deshalb ließ mich das nicht unberührt. Als ich davon erfuhr, entfachte das in mir erst eine Mischung aus Mitleid und Neugier, und vielleicht entbrannte in mir sogleich auch der Wunsch, ihm zu helfen. Irgendein Weiser hat einmal gesagt, dass es ausreiche, einem Menschen zu helfen, man müsse nicht die ganze Welt retten. Und ich hatte in den letzten Jahren ziemlich viel Glück gehabt, hatte etwas auf die Beine gestellt, das tragfähig war und mir möglich machte, gut zu leben, ohne Tag und Nacht arbeiten zu müssen, auch wenn ich nie die Angst loswurde, alles könne zum Teufel gehen, wenn ich die Zügel schleifen ließ. In dieser Situation war ich unwiderruflich festgenagelt und diese permanente Einwirkung von Alltagsstress auf meinen Geist hatte mich zu dem Mann ohne Eigenschaften gemacht, der ich geworden war. Es war mit der Zeit abgeebbt – dieses sogenannte Seelenleben. Ich fand, dass es mir, dem Bessergestellten, zukam, Zeit für diesen Freund aufzuwenden, der auf halber Strecke aufgegeben hatte. Ich erinnerte mich an seine Worte über das Ritual, dass, wenn man das Ritual nicht heiligte und etwas Konkretes unternahm, um aus der eigenen Lebenslüge auszubrechen, eben auch nichts geschah, woraus folgte, dass ein echtes Zusammengehörigkeitsgefühl nicht existierte. Vielleicht nährte ich die Hoffnung in meiner Brust, selbst wieder ein wenig zum Leben zu erwachen und eine Verbindung zu spüren, nicht nur mit dem depressiven Freund, sondern überhaupt mit meinen Mitmenschen und der Schönheit, mit meinem alten guten Ich, wenn ich dies nur mit Entschlossenheit und gutem Willen tat.

Ich beschloss daher, im Namen der Influenza die Vorlesungen ausfallen zu lassen, um ihn zu besuchen, und außerdem eine neue Futterkugel zu kaufen und sie für die Drossel aufzuhängen. Ein Ritual. Das Einzige, was mir einfiel, war das: Ich würde ihn bitten, mir von seinen Gefühlen zu erzählen, sowohl den jetzigen als auch früheren. Ich wollte die Geschichte seiner Gefühle hören, ich war sicher, dass es ihm helfen würde, seine Selbstaufgabe zu verstehen, und außerdem würde es unsere Freundesbande festigen. Er würde nur das sagen, was ihm gleich in den Sinn kam, denn man erinnert sich ja zuerst an das, was starke Gefühle auslöst. Er könnte die Gefühlserinnerungen schildern, die ihm spontan kamen, aber die kleinen Details auslassen, die sowieso keine Rolle spielen. An eine gemeine Antwort oder an jemandes Lob erinnert man sich genauso deutlich wie an die Gefühle, die das auslöste, gleichgültig, welche Schuhe man trug oder wie die Möbel standen, als das geschah, oder wie das Wetter an jenem Tag war. Ich wollte ihm sagen, dass ich diese Romanversessenheit hasste, wegen der sich Leute abmühten, »die Wirklichkeit einzufangen«, indem sie beschrieben, wie das Licht einer 60-Watt-Osram-Lampe aus einem staubigen Perlenluster auf das graue Kleid einer rothaarigen Frau mittleren Alters fiel und dunkelblaue Schatten in die Vertiefungen zwischen den Falten warf. Warum sagte nie jemand das, was wichtig war? Waren nicht die Wunden der Existenz der Stoff aller Dichtung? Oder hatte ich das alles missverstanden?

Ich hatte Angst vor dem Besuch. Was, wenn ich durch das Treffen selbst depressiv würde? Das stellte ich mir vor, während ich in die Stadt fuhr. Ich würde das Haus nicht abbezahlen können. Ich würde weniger und weniger Projekte bekommen, wenn sich zeigte, dass ich selbst depressive Neigungen hatte. Die Rechnungen würden sich auftürmen. Meine Freundin würde mich verlassen. Ich würde in Konkurs gehen. Die Flinte mit dem Doppellauf.

Während ich gerade in Gedanken dabei war, mein Hirn auf eine Wand zu schmieren, wurde ich langsamer und sagte laut zu mir selbst: Das geht nicht. Jetzt musst du dich verdammt nochmal zusammenreißen! Ich war an einer roten Ampel, als ich diesen tiefsinnigen Monolog führte, da fiel mein Blick in das Auto neben mir. Auf dem Rücksitz saß ein kleines Mädchen. Sie war blond und hatte strahlende Augen. Sie war wie aus einer anderen Welt. Als sich unsere Blicke trafen, lächelte sie plötzlich und winkte mir zu, gebadet im Sonnenlicht des kurzen Wintertages. Ich konnte mich nicht dazu durchringen, zurückzuwinken. Ich starrte sie an, die Hände auf dem Lenkrad. Ich kam erst zu mir, als hinter mir ein Auto hupte.

Dort an der Ampel fiel mir plötzlich ein Traum von letzter Nacht ein. Ich träumte, ich sei mit meiner Freundin im Theater und es herrschte freudige Spannung. Der Vorhang wurde aufgezogen und graugekleidete Tänzer kamen auf die Bühne. Sie hatten übertrieben große Suspensorien und total enge Strumpfhosen, was natürlich eine überbetonte Männlichkeit bedeutete. Sie standen in einer Reihe und bildeten eine Wand oder eine Schutzmauer, indem sie die Hände verschränkten, sie bewegten sich völlig harmonisch gemeinsam zur Musik, so als wären sie ein Wesen mit vielen Beinen. Heftiges, schnarrendes Cellospiel erklang zu diesem Tanz. Vor ihnen auf der Bühne war ein weißgekleideter Mann von kleinerem Wuchs. Er war ein lebhafter Tänzer und versuchte, sich einen Weg durch die Graumänner zu bahnen, aber sie verdichteten die Reihe und stießen ihn weg, und das ziemlich brutal,...


Bergsveinn Birgisson

geboren 1971 in Rejkjavik, studierte altnordische Literatur in Bergen (Norwegen) und forscht vor allem zur Dichtung des skandinavischen Mittelalters. Er publizierte zwei Gedichtbände sowie Essays und mehrere Romane, die zahlreiche Preise gewannen. Birgisson lebt in Bergen, wo er auch an der Universität lehrt. Auf Deutsch erschienen bisher sein gefeiertes Romandebüt "Die Landschaft hat immer recht" (2018), "Quell des Lebens" (2020), mit dem er auf der Shortlist für den Preis des Nordischen Rates und für den Isländischen Literaturpreis stand, "Antwort auf den Brief von Helga" (2022) und "Die Insel Kolbeinsey" (2025).

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geboren 1965 in Wien. Studium der Skandinavistik, Publizistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien. Studium des Isländischen an der Universität Island. Geprüfte Fremdenführerin für Island. Lektorin für Isländisch an der Universität Wien. Derzeit Arbeit an der deutschen Ausgabe des Online-Wörterbuches ISLEX. Eleonore Gudmundsson übersetzte für den Residenz Verlag die Werke von Bergsveinn Birgisson.



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