Erstes Kapitel
New Orleans, Louisiana
März 1840
Nach Mitternacht über den Friedhof nach Hause zu gehen, diese Prüfung hatte sich Caid Roe O’Neill selbst auferlegt. Er tat es nicht etwa, um sich an seine eigene Sterblichkeit zu erinnern, sondern im Gegenteil, um nicht allzu vertraut mit dem Tod zu werden.
Einen Mann, der wie er berufsmäßig den Degen schwang, war ständig von der Gefahr eines tödlichen Hiebes bedroht, mochte der nun ihn oder seinen Gegner treffen. Ein falscher Schlenker mit dem Handgelenk, ein sekundenlanges Zögern, wenn es galt, eine geschickte Finte zu parieren, und es war aus. Was dann noch käme, waren der zerbrochene Degen, die schwarzen Armbinden seiner Freunde, der düstere Zug zum Begräbnisplatz. Doch zuweilen, wenn die Dunkelheit wie ein zäher, widerlicher Dunst über New Orleans lag und entferntes Wagenrasseln und gelegentliches Hundegebell die einzigen Geräusche waren, erschien es O’Neill nur allzu leicht, ein solches Ende mit Gleichmut, ja sogar mit einer gewissen Dankbarkeit hinzunehmen.
Derart tiefschürfende Betrachtungen entsprangen nicht etwa einem melancholischen Gemüt, sondern waren natürlicher Ausdruck von Caids irisch-katholischer Herkunft, verbunden mit einer strengen Erziehung durch Priester und Nonnen, die die Meinung vertraten, dass man solch ein irisches Drecksgör mit den Schattenseiten des Lebens gar nicht vertraut genug machen konnte. Auf ihre Art hatten sie Recht gehabt.
An einem frühen Morgen vor genau einem Monat hatte Caid gespürt, wie sein Degen das Herz von Eugene Moisant durchbohrte und dieses Gefühl hatte weder Schuld noch Scham und auch nicht Triumph in ihm ausgelöst, sondern eine ganz und gar unselige Genugtuung, die Caid nicht noch einmal empfinden wollte.
Aufrecht schritt er dahin, seinen Stockdegen lose umfasst, und betrachtete die weißen Marmorgrüfte, die wie kleine Häuser aussahen, mit Giebeln und Kuppeln, die im Sternenlicht glänzten. Er war nicht erpicht auf Ärger, würde ihm aber auch nicht aus dem Weg gehen. Es war immer gefährlich nachts auf den Straßen, doch besonders hier in der so genannten Stadt der Toten. Wegen des hohen Grundwasserspiegels waren die Grabstätten oberirdisch errichtet worden und boten, ebenso wie die hohen Grabmäler und Marmorgrüfte, umherschleichenden Dieben und Mördern hervorragende Deckung.
Der Pfad aus zerstoßenen Austernschalen knirschte unter Caids Stiefeln und der Saum seines Umhangs bauschte sich beim Gehen und fegte den Staub vom dürren Gestrüpp am Wegrand. Caid roch die trockene, modrige Luft und ganz schwach den Kalk, mit dem die Umfassungsmauern getüncht waren. Die Nacht war kühl für Anfang März in diesen Breiten. Von Norden her war am Tag zuvor kältere Luft geströmt und hatte die gewohnte milde Wärme verdrängt, sodass Caids Atem nun kleine Wölkchen bildete.
Als er in dieser stillen Stadt, wo die schmalen, gewundenen Pfade mehr nach Bedarf als nach Plan angelegt worden waren, um eine Ecke bog, sah er die Grabstätte der Moisants vor sich liegen. Sie bestand aus grauem Marmor, erinnerte entfernt an ein großes Ruhebett und war von einem schmiedeeisernen Zaun eingefasst, verziert mit dem althergebrachten Friedhofssymbol der Trauerweide.
Doch da lag etwas Weißes auf dem Grab, eine zarte, blasse Gestalt in einem wallenden Gewand ... Caid verharrte einige Sekunden lang unbeweglich. Dann zog er scharf den Atem ein und setzte sich wieder in Bewegung. Das knirschende Geräusch seiner Schritte auf dem Muschelgrus erschien ihm unpassend, als könne es die Ruhe der gemeißelten Engel stören, vor allem des einen, der rücklings und weiß wie Alabaster auf dem Moisant-Grab hingestreckt lag. Beim Näherkommen erblickte Caid die weichen, goldbraunen Locken, die um das Haupt der Gestalt und über die Kante des Grabes hinabflossen, das Ebenmaß ihrer Züge, die hohe Wölbung ihrer Brauen und die feinen Wangenknochen. Das Bild löste unvermittelt eine Erinnerung und gleich darauf heftige Gewissensbisse in Caid aus.
Bei der Frau – vielmehr der Leiche – handelte es sich um Lisette Moisant, die junge Witwe Eugene Moisants, den er vor einem Monat getötet hatte. Nun hatte er also nicht nur die Schuld am Tod des Mannes auf sich geladen, sondern auch noch dessen Frau auf dem Gewissen.
Caid sprang über den niedrigen Eisenzaun und ließ sich neben dem Grab auf ein Knie sinken. Behutsam umfasste er Lisette Moisants schmales Handgelenk – wie kühl es im schützenden Griff seiner warmen Hände lag! Ihre Augen waren geschlossen und die Wimpern warfen kleine fächerförmige Schatten auf ihre Wangen. Eine sanfte Brise fuhr durch ihr Haar und erfasste eine feine braune Strähne, die sich, zart wie Spinnweb, an seinem wollenen Ärmel verfing. Caid kniete regungslos, wie gefangen und gefesselt von dieser leichten Bewegung.
Als er Lisette Moisant das letzte Mal gesehen hatte, wirkte sie bleich und unglücklich in ihrer tiefschwarzen Trauerkleidung. Einen Augenblick lang waren sich ihre Blicke begegnet, bevor sie ihn erkannte und errötend, mit zusammengepressten Lippen den Blick abwandte. Sie hatte ihn ignoriert und wer wollte ihr das verübeln? Doch für Caid hatte es seitdem keinerlei Hinweis darauf gegeben, dass sie zu einer solchen Tat getrieben würde, durch die sie nun hier lag, kalt und still in ihrem jungfräulich weißen Nachtgewand, als habe sie zu viel von irgendeinem Schlafmittel eingenommen. Laudanum, fuhr es ihm durch den Kopf, als er den schwachen Geruch wahrnahm, der sie umgab.
Selbstmord, und noch dazu wegen eines Mannes wie der verblichene Eugene Moisant, war ein Ende, das keinem Lebewesen zu wünschen war, am allerwenigsten einer solch schönen jungen Frau.
Caid legte ihre Hand wieder neben ihren Körper, richtete sich ein wenig auf und blickte lange auf die sanft geschwungenen Lippen und die Spitze ihres Kinns, das dem ansonsten vollkommenen Oval ihres Gesichts einen vorwitzigen Schwung verlieh. Was für ein vergeudetes Leben, welch zarte Verheißung, die nie ihre Erfüllung finden würde! Ein tiefer Schmerz durchfuhr ihn. Ohne Zweifel war Lisette Moisant von ihrem Flegel von Ehemann ebenso betrogen worden wie Caids Schwester Brona. Daher nötigte ihm ihre Tat, wie sinnlos sie auch sein mochte, doch eine gewisse Anerkennung ab.
Als Zeichen der Achtung beugte Caid sich über die bettähnliche Grabstätte und berührte mit den Lippen sanft den weichen, kühlen Mund der Dame. Dann hob er den Kopf ein wenig und tat einen tiefen Atemzug, als könne er den schmerzhaften Klumpen in seiner Kehle dadurch lösen. In dem Moment spürte er den fast unmerklichen Hauch eines Seufzers auf seiner Wange.
Er runzelte die Stirn und legte seine Hand ohne weitere Umstände zwischen Lisette Moisants Brüste, die sich unter dem weißen Batist abzeichneten.
Ein Herzschlag. Da war es, das leichte Pochen, schwach und etwas unregelmäßig. Er verfluchte sich für seine närrische Schmachterei, mit der er kostbare Zeit vergeudet hatte, warf rasch seinen Umhang ab, breitete ihn über sie und hüllte sie in die üppigen Falten. Dann schob er einen Arm unter ihre Knie, den anderen unter ihren Rücken und hob sie hoch an seine Brust. Ein wenig unter seiner Last schwankend stieß er mit dem Fuß das eiserne Zauntor auf und machte sich auf den Weg zu seiner Unterkunft.
Doch nach drei Schritten blieb er stehen. Er konnte eine anständige Frau nicht in sein Quartier bringen, selbst wenn sie im Sterben lag. Sollte sie überleben, wäre ihr guter Ruf für immer dahin, ihr Leben nicht mehr lebenswert. Ebenso unklug wäre es jedoch für ihn, auf der Schwelle der Moisants aufzutauchen, er, der den Sohn des Hauses getötet hatte. Falls Lisette Moisant sterben sollte, würde man ihn vielleicht sogar dafür hängen. Das Haus von Dr. Labatut, dem jungen Arzt, den man rief, wenn jemand in den Fechtsalons verletzt wurde, lag viele Häuserblocks entfernt, zu weit unter diesen Umständen. Was also sollte er tun?
Ein leises Geräusch, wie eine Mischung aus Keuchen und Stöhnen, drang an sein Ohr. Caid schaute hinunter und erstarrte förmlich unter dem offenen Blick der Frau in seinen Armen. Im fahlen Mondlicht wirkten ihre Augen silbergrau, die Pupillen so unergründlich, dass er in Gefahr war, sich darin zu verlieren. Engelsaugen, weit auseinander stehend und klar hinter einem dichten Wimpernsaum, mit einem unendlich betörenden Ausdruck. Es lag keine Furcht in ihnen, nur Verwirrung und Erstaunen. Plötzlich überlief die Frau ein Schauer. Sie streckte die Hand aus und ergriff den Aufschlag von Caids Rock, bevor sich ihre Wimpern senkten und sie das Gesicht an seiner Schulter vergrub.
Caids Herzschlag stockte, Hitze überflutete ihn wie eine Welle und ohne Vorwarnung wurde er von einem Ansturm widersprüchlichster Gefühle überwältigt. Er wollte die Frau in seinen Armen forttragen, sie irgendwo verbergen, wo sie für immer vor allem Unheil sicher wäre. Gleichzeitig drängte es ihn, sich mit ihr auf der nächstbesten Marmorplatte niederzulegen und dort mit ihr in den Armen eine Ewigkeit zu schlafen. Er sehnte sich danach, dass sie die Augen öffnen und ihn anlächeln, ihn wiedererkennen und seinen Namen sagen würde. Er lechzte nach ihrer Vergebung, ihrer Absolution und nach der Aufnahme in den illustren...