E-Book, Deutsch, Band 5, 192 Seiten
Reihe: rüffer&rub visionär
Blattmann Arbeit für Alle
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-906304-33-5
Verlag: Rüffer & Rub
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Das St. Galler Modell für Sozialfirmen
E-Book, Deutsch, Band 5, 192 Seiten
Reihe: rüffer&rub visionär
ISBN: 978-3-906304-33-5
Verlag: Rüffer & Rub
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Sinnvolle und sinnstiftende Arbeitsplätze für ausgesteuerte Langzeiterwerbslose zu schaffen und die mittel- und längerfristige Integration in den Ersten Arbeitsmarkt – so lautet das erfolgreich realisierte Ziel der St. Galler Stiftung für Arbeit. Die Stiftung bietet unter dem Namen Dock Gruppe AG seit zehn Jahren an mittlerweile 15 Standorten in der Deutschschweiz insgesamt 1400 Arbeitsplätze an. Die von den beiden Initiantinnen Daniela Merz und Lynn Blattmann entwickelte unternehmerisch geführte Sozialfirma arbeitet nach einer eigenen Methode, dem St. Galler Modell für Arbeitsintegration. Bisher haben fast 10 000 Personen in der Dock Gruppe AG gearbeitet. »Arbeit für alle« ist mehr als nur ein Slogan für bessere soziale und gesellschaftliche Teilhabe. Es ist ein handfestes Programm für eine sozialunternehmerische Arbeitsintegration. Die Autorin Lynn Blattmann ist davon überzeugt, dass eine Gesellschaft nur dann gerecht sein kann, wenn sie niemanden, der arbeiten will, von der Erwerbsarbeit ausschließt. In ihrem Buch »Arbeit für alle« zeigt sie auf, was es braucht, um eine Sozialfirma erfolgreich zu führen und wie sich eine solche von klassischen Produktionsbetrieben und Arbeitsintegrationsprogrammen unterscheidet.
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Ob jemand sozialunternehmerisch tätig wird, hängt nicht von der Ausbildung ab. Daniela Merz ist Betriebswirtschafterin und Lehrerin, das heißt, sie bringt eine wirtschaftsnahe und eine soziale Ausbildung mit. Dies ist sicher keine schlechte Voraussetzung für eine Arbeit als Sozialunternehmerin, entscheidender ist jedoch ihr Temperament und ihre Weltanschauung. Von ihrem Charakter her ist sie eine typische Unternehmerin: Selbstverantwortung, Freiheit und Handlungsspielraum sind für sie essenzielle Bedingungen. Daniela Merz ist eine Problemlöserin; sie mag Probleme nicht endlos analysieren. Sobald es aber um Lösungen geht, ist sie ganz Ohr und voller Ideen. Außerdem schätzt Daniela Merz Menschen sehr, sie ist ein »Animal politique« und liebt es, Andersdenkende zu überzeugen und einzubinden; wer mit ihr kämpft, hat eine loyale Freundin und Helferin zur Seite. Sie ist keine Einzelkämpferin, aber sie ist eine, die gerne und rasch die Führung und Verantwortung übernimmt. Meine Ausbildung verweist weniger auf eine unternehmerische Tätigkeit. Ich bin von Haus aus Historikerin, bin jung zur Parteipolitik gekommen, habe dort viel strategische Arbeit gemacht und immer wieder Wahlkämpfe geleitet. Für meine Doktorarbeit habe ich mich intensiv mit Männlichkeit und Politik befasst und eine eigene Firma für politische Strategieberatung aufgebaut. Vom Temperament her bin ich klar unternehmerisch veranlagt, für mich sind Freiheit und Unabhängigkeit wichtige Werte, Verantwortung zu übernehmen eine Selbstverständlichkeit. Im Unterschied zu Daniela Merz bin ich kein Gruppenmensch, ich scheue auch vor Alleingängen nicht zurück und halte mich an kein Verbot, von dem ich nicht überzeugt bin. Einige Freundinnen nennen mich stur, aber verlässlich. Meine Spezialität liegt in der Fähigkeit, Modelle zu entwickeln und Strategien zu konzipieren und schriftlich auszuformulieren. Auch ich mag Menschen gerne, aber ich habe generell ein distanzierteres Verhältnis zu ihnen als Daniela Merz. Auch wenn jede Sozialunternehmerin und jeder Sozialunternehmer anders ist: Entscheidend ist, dass eine unternehmerisch geführte Sozialfirma mindestens eine Person an der Spitze braucht, die unternehmerische Impulse gibt und den Betrieb am Markt hält. Unternehmerisch geführte Sozialfirmen sind im Moment in der Schweiz noch eher selten, sie sind – ob gewollt oder nicht – in einer Pionierrolle, was eine besondere Innovationskraft von der Führung verlangt. Es ist anzunehmen, dass mit der Verbreitung der sozialunternehmerischen Idee die Schwierigkeiten, diese zu verwirklichen, sinken werden. Warum man Sozialunternehmertum an einer Hochschule nicht vermitteln kann Wer im Sozialwesen arbeiten will, muss eine formale Ausbildung vorweisen. Die klassische Grundausbildung für höhere Berufe im Sozialwesen wird aktuell in der Schweiz von Fachhochschulen angeboten. In der Methodenausbildung kommt Social Entrepreneurship höchstens am Rande vor. In den USA ist das anders, dort bieten viele Universitäten eigene Lehrgänge zu Sozialunternehmertum an. Bezeichnenderweise sind es dort nicht die Sozialarbeiterausbildungsstätten, die sich um das Thema kümmern, sondern die Businessschools. Für sie hat die Idee eines Sozialunternehmertums beziehungsweise des Social Entrepreneurship eine gewisse Attraktivität, was vor dem Hintergrund der einseitig gewinnorientierten Entwicklung der Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten wenig erstaunt. Es gibt aber noch andere Gründe, die für die Nähe zwischen Social Entrepreneurships und Businessschools sprechen, denn für Sozialunternehmertum bildet eine fundierte und umfassende betriebswirtschaftliche Ausbildung eine gute Basis. Ein vertieftes Verständnis darüber, wie ein Unternehmen funktioniert, wie es gesteuert werden kann und was Leadership bedeutet, erleichtert das Leben als Sozialunternehmerin sehr. Und es verhindert vielleicht einige unnötige finanzielle Niederlagen. Allerdings sind wir überzeugt, dass auch beste Businessschools aus hervorragenden Betriebswirtschaftern nicht unbedingt erfolgreiche Sozialunternehmer machen. Angehende oder bereits erfahrene Sozialunternehmerinnen und Sozialunternehmer können dort zwar einiges an Rüstzeug holen, aber den Unternehmergeist beziehungsweise die Innovationskraft müssen sie selbst mitbringen, beides muss bereits in der Persönlichkeit angelegt sein. In den Wirtschaftswissenschaften wird Entrepreneurship heute als Geschäftsmodellinnovation verstanden. Es ist sicher so, dass man die generelle Vorgehensweise bei der Gestaltung und Planung von Geschäftsmodellen an einer Hochschule erlernen kann, aber die Innovationen, also die unternehmerischen Ideen, kommen aus der individuellen Kreativität und dem persönlichen Ideenreichtum. Eine betriebswirtschaftliche Ausbildung kann diese nicht generieren, aber sie kann die Innovationskraft von sozialinnovativen Individuen verstärken, indem sie die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Umsetzung dieser Ideen verbessert. Sozialunternehmer benötigen ein fundiertes Wissen über gesellschaftliche Probleme und Entwicklungen, über politische Hintergründe und Kraftfelder, und sie müssen umfassende Kenntnisse über das umliegende Sozialwesen mitbringen. Unternehmerische Passion kann erst fruchtbar werden, wenn sie sich mit einer vielfältigen und breiten Grundausbildung verbinden kann. Jobsharing für Sozialunternehmer? Wie unsere Geschichte zeigt, kann es sich bei der unternehmerischen Persönlichkeit, die zu einer Sozialfirma unseres Typs gehört, auch um ein Duo von zwei Frauen handeln, die die Firma vorantreiben und entwickeln. Wenn diese beiden Frauen – wie in unserem Fall – auch eng miteinander befreundet sind, stellt sich die Frage, ob es sich bei dieser Konstellation um eine sogenannte Bromance handelt, von der im Moment in den Medien häufig die Rede ist. Der Begriff »Bromance« ist ein Kofferwort aus »Brother« und »Romance«, damit werden enge Freundschaften zwischen Männern bezeichnet, die oft auch eine starke berufliche Komponente haben. Als Beispiele dafür werden Barak Obama und Joe Biden oder die beiden Wissenschaftler Amos Tversky und Daniel Kahnemann oft und gerne genannt. Ich habe einiges über die Merkmale von Bromances gelesen und rasch bemerkt, dass sich unsere Beziehung nicht darunter subsumieren lässt. Bromances bauen auf einer langen Tradition von Männerfreundschaften auf, sie sind eine Art besonders emotionaler Bund zwischen zwei Männern. Der Aspekt des »Brüderlichen« spielt eine Schlüsselrolle. Daniela Merz und mich verbindet etwas anderes, unsere Beziehung mag einige Parallelen zu einer Bromance aufweisen, so ist sie auch emotional sehr eng und ebenso sind auch wir klar kein Liebespaar. Dort hören die Parallelen zu einer Bromance jedoch auf. Wir haben ganz klar kein brüderliches und auch kein schwesterliches Verhältnis. Unsere Beziehung kann nicht an eine lange Tradition von Frauenbünden anknüpfen, denn so etwas gibt es in der Geschichte bisher nicht. Es existieren keine »Sismances«, Frauen haben untereinander andere Beziehungen als Männer,4 es gibt zwischen Frauen keine Kultur des intensiv solidarischen Miteinanders für ein höheres Ziel. Das bekamen auch wir in den ersten Jahren unserer Zusammenarbeit massiv zu spüren. Mit dem Entschluss, die sozialunternehmerische Idee gemeinsam verfolgen zu wollen, betraten wir Neuland. Unser Entscheid fiel impulsiv an einem gemeinsamen Abendessen vor einer Veranstaltung einer Gewerkschaft in Zürich im Januar 2006. Wir hatten zwar nur vage Vorstellungen, wie wir die Sache angehen wollten, aber wir besiegelten die gemeinsame Sozialfirmenidee mit einem großen Glas Weißwein in einem libanesischen Restaurant in Zürich. Nach dieser Besiegelung stellte sich die Frage, ob das abgegebene Versprechen, die Sozialfirmenidee gemeinsam voranzubringen, von beiden ernst gemeint war. Ich kam aus der Frauenbewegung und hatte bereits über zwanzig Jahre lang in enger Freundschaft intensiv mit Frauen zusammengearbeitet. Wenn es doch so etwas wie eine »Sismance« geben sollte, so hatte ich Erfahrungen damit, während Daniela Merz eher aus einer Männerwelt kam, für sie war die Frauenfrage keine politische Angelegenheit. Sie setzte sich selbstverständlich für ihre volle persönliche Gleichberechtigung ein und sie wusste sich durchzusetzen; sie hätte sich aber selbst nie als Frauenrechtlerin oder gar Feministin bezeichnet. Feministische Themen mochte sie nicht besonders, das klang in ihren Ohren nach Gejammer, darum stand sie solchen Fragestellungen eher skeptisch gegenüber. Nach diesem Versprechen im libanesischen Restaurant vergingen einige Monate der Ungewissheit. Es war klar, dass ich in der Sache wenig mitzureden hatte. Daniela Merz war die Sozialunternehmerin, die bereits seit drei Jahren eine hoffnungsvolle neue Sozialfirma aufgebaut hatte, warum sollte sie diese Position mit mir teilen wollen? In den folgenden Monaten hatte ich jedoch kaum Zeit, mir große Sorgen zu machen. Wegen einem Zerwürfnis mit meiner langjährigen politischen Mitkämpferin verlor ich meine damals angestrebte berufliche Option und als meine Vermieterin den Vertrag unseres wunderschönen gotischen Büros in der Altstadt von Zürich kündigte, entschied ich mich, meine Beraterfirma aufzugeben und das Thema Sozialfirmen direkt anzupacken, egal ob mit Daniela Merz oder allein. Offen gestanden, waren meine Pläne eines Alleingangs damals noch unkonkreter als meine gemeinsame Vision mit Daniela Merz. Sicher war für mich nur, dass meine berufliche Zukunft im Bereich der Sozialfirmen liegen würde. Im Juni 2006 rief mich Daniela Merz an einem warmen Juniabend an. Sie habe sich die Sache nochmals überlegt, ich könne am 1. Juli in St. Gallen anfangen, finanziell sei die...