E-Book, Deutsch, Band 2, 300 Seiten
Reihe: Auguste Fuchs
Bliefert Der Tod des Taschenspielers
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-95441-597-7
Verlag: KBV
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Kriminalroman aus der Kaiserzeit
E-Book, Deutsch, Band 2, 300 Seiten
Reihe: Auguste Fuchs
ISBN: 978-3-95441-597-7
Verlag: KBV
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sein letztes Zauberkunststück
Die Fotografin Auguste Fuchs ermittelt wieder
Spiritistische Zirkel, Geisterfotos und Botschaften aus dem Jenseits haben im Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts Hochkonjunktur. Als der Magier »Adolphe le Magicien« – bürgerlich Adolf Klingbeil – bei einer Bühnenprobe im Apollo-Theater von einem herabstürzenden eisernen Taubenkäfig erschlagen wird, darf die junge Fotografin Auguste Fuchs inoffiziell Fotos vom Tatort machen. Auf einem der Bilder scheint man ein seltsames Schattenwesen – nicht Mensch, nicht Tier – erkennen zu können. Augustes Foto sorgt für Furore, und im Nu ranken sich die abenteuerlichsten Theorien um Klingbeils Tod.
Doch die offiziellen Ermittlungen führen Kommissar von Barnstedt und seinen Assistenten Jakob Wilhelmi, Augustes Verlobten, in die höchst diesseitigen Niederungen der Hauptstadt. Als von Barnstedt nur mit knapper Not einen Mordanschlag überlebt und dann auch noch Jakob verschwindet, muss Auguste einspringen – und tritt damit der besten Berliner Gesellschaft gehörig auf die Füße.
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KAPITEL 1
Im Grand Hôtel Bellevue am Potsdamer Platz servierte man an diesem Abend ein Hors d’œuvre mêlé, gefolgt von Seezunge à la Normande und in Butter gebratenen Krammetsvögeln. »Ich hoffe, alles ist zu Ihrer Zufriedenheit.« Der Kellner präsentierte mit einer tiefen Verbeugung eine zweite Flasche Château Lafite. Die beiden Herren am Tisch signalisierten mit einem Kopfnicken, dass es keinen Grund zur Beanstandung gab, und widmeten sich weiter den Wacholderdrosseln auf ihren Tellern. Das kleine Mädchen in ihrer Begleitung starrte unverwandt auf die toten Vögel und rührte sein Besteck nicht an. »Für das junge Fräulein vielleicht stattdessen ein wenig Kalbsrücken?« »Ach was!« Der ältere der beiden Herren tätschelte dem Mädchen die Hand. »Lang zu, mein Kind. Sie schmecken köstlich! Und siehst du: Man lässt nur den Schnabel und den Magen übrig.« Zur Demonstration schob er beides mit dem Messer zur Seite und brach den zweiten kleinen Vogelkörper auf. Das Mädchen würgte, presste die Hand vor den Mund, sprang auf und rannte hinaus. »Kein Grund zur Aufregung, Herr Ober! Mein Kutscher wird sich um sie kümmern«, versicherte der jüngere der beiden Gäste. Als der Kellner draußen nach der Kleinen Ausschau hielt, stand ein untersetzter Mann in Zylinder und Cutaway auf dem Trottoir und rauchte eine Zigarre. Das Mädchen war verschwunden. »Verzeihung, haben Sie hier ein Kind rauslaufen sehen?« »Keine Angst«, der Mann lächelte, »die Kleine sitzt da drin.« Er deutete mit dem Daumen auf einen geschlossenen Landauer. »Kleiner Übelkeitsanfall. Nicht weiter schlimm.« Es hätte lediglich eines Blicks ins Wageninnere bedurft, um sich zu vergewissern, ob es dem Mädchen gut ging. Aber der Kellner zweifelte nicht an der Aufrichtigkeit des Kutschers und kehrte beruhigt an den Tisch der Herrschaften zurück. Wenige Tage später ging es im Fotoatelier Fuchs in der Friedrichstraße hoch her: Ein Ehepaar mit vier Kindern hatte sich zu einem der üblichen Familienfotos eingefunden, und der muntere Nachwuchs ließ buchstäblich keinen künstlichen Stein auf dem anderen. Als Auguste unter das Dunkeltuch schlüpfte, um die Kamera auf das riesige, rot geblümte Familiensofa einzurichten, hörte sie es verdächtig knirschen. »Bitte nicht auf die Balustrade stei…« Zu spät: Das Pappmaché-Geländer, das sich bei Gartenarrangements immer so hübsch im Hintergrund machte, brach unter dem Ansturm zweier Knaben in Matrosenanzügen in sich zusammen, und als Auguste aus ihrem Einstelltuch auftauchte, machten sich die beiden Mädchen gerade über die Truhe mit den Vorhängen her und spielten in entsprechender Verkleidung Sultan und Haremsdame. Die Mutter stand von alldem ungerührt vor dem Spiegel und überprüfte zum wiederholten Mal ihre Frisur, während der Vater seine Bartspitzen zwirbelte. »Ich wär dann so weit!« Auguste musste brüllen, um den Streit zu übertönen, der bei den Kleinen über die Benutzung des einzig vorhandenen Schaukelpferds entbrannt war. Der Vater versuchte es ein paarmal mit: »Thorwald, Humbert, hierher!«, doch das stieß auf ebenso wenig Echo wie der mütterliche Appell an Klein-Feodora und Klein-Albertinchen, sich aufs Sofa zu begeben. Auguste hätte die Eltern mitsamt ihren vier Ungeheuern am liebsten vor die Tür gesetzt. Der Lärm, den das Niederreiten der letzten Balustradenfragmente mittels Schaukelpferd, flankiert vom Geheul eines empörten Sultan-Haremsdamen-Duos, mit sich brachte, war unbeschreiblich. »Wir kommen natürlich für den Schaden auf«, erklärte der Vater, zweifellos mächtig stolz auf seinen temperamentvollen Nachwuchs. »Ihr könnt nachher weiterspielen, wenn das nette Fräulein die Bilder macht, auf denen Papa und ich alleine sind!«, tirilierte die Mutter, als der Sultanspalast erobert war, und scheuchte die Kinder in Positur. Nachdem Albertinchens Zöpfe hübsch parallel auf die Passe ihres Flügelkleidchens drapiert und Thorwalds Scheitel noch eben schnell mit mütterlicher Spucke fixiert worden war, hob Auguste die Blitzpfanne und betätigte den Auslöser. Auf dem Familiensofa sahen die Kinder ungemein manierlich aus. Als das Elternpaar ohne die Kinder abgelichtet war, glich das Atelier einem Schlachtfeld. Auguste brachte gerade noch die Contenance auf, sich in aller Form von ihrer Kundschaft zu verabschieden, dann ließ sie sich auf das über und über keksbekrümelte Sofa sinken und freute sich auf ein paar ruhige Stunden im Labor. Doch daraus wurde nichts. »Jeht sofort weiter!«, verkündete Liftboy Luis, und Hulda Preissing stürmte aus dem Aufzug. »’n Toter, Häseken. Anruf kam gerade rein.« Auguste schob die Unterlippe vor und stöhnte. Diesmal ausnahmsweise nicht, weil ihre ehemalige Kinderfrau sie trotz ihrer einundzwanzig Jahre immer noch »Häseken« nannte, sondern weil sie ahnte, was auf sie zukam. »Wo?« »Draußen in Rixdorf.« »Puuuh …« Bisher hatte sie sich um Post-mortem-Fotografien erfolgreich gedrückt, aber diesmal gab es wohl kein Entrinnen. Immerhin: Einen Versuch war es wert. »Kann Papa das nicht machen? Ich hab hier wirklich genug zu tun.« Auguste breitete demonstrativ die Arme aus. Das Durcheinander, das im Atelier herrschte, war bemerkenswert, aber Hulda ließ sich nicht erweichen. »Nee, mach du man die Leiche. Dein Vater soll in Ruhe Mittagsschläfchen halten.« Sie schickte sich bereits an, die ausgestopften Tiere, die Vorhänge, Decken und Deckchen und die in allen Größen vorhandenen Vasen mit Trockenblumen-Arrangements wieder ordentlich in der Requisitenkammer zu verstauen. »Die holen dich in knapp ’ner Viertelstunde ab. Mach hinne, Häseken!« Huldas Ton verriet, dass Widerspruch zwecklos war. Auguste stöhnte zwar noch einmal herzzerreißend auf, aber es nützte nichts; Hulda tat ganz einfach so, als habe sie nichts gehört, und im Grunde gab Auguste ihr recht. Seitdem ihrem Vater immer öfter kleine Missgeschicke unterliefen, lag fast der gesamte Atelierbetrieb in ihren Händen. Es hatte mit harmlosen Vergesslichkeiten angefangen, doch mittlerweile war es lebensgefährlich, Julius Fuchs im Labor allein zu lassen, und im Laden erkannte er manchmal selbst seine Stammkunden nicht mehr. Augustes Cousin Gustav brannte darauf, als Kompagnon in die Firma aufgenommen zu werden, und er spekulierte nach wie vor – und unbeeindruckt von Augustes deutlicher Zurückweisung – auf eine Heirat: Er ging stur davon aus, dass bei seiner störrischen Cousine früher oder später die Vernunft über den weiblichen Unverstand obsiegen würde. Und infolge einer ewig waltenden göttlichen Ordnung würde er dann umgehend zum Alleininhaber aufsteigen, denn Ehefrauen hatten gemäß göttlichem Gesetz daheim zu bleiben, allzeit hübsch auszusehen und dem Gatten drei bis fünf wohlgeratene Kinder zu schenken. Abgesehen davon, dass Auguste davon überzeugt war, dass man Kinder nicht verschenken sollte, hatte sie nicht einmal während Pfarrer Rebmanns strengem Konfirmandenunterricht irgendeine Bibelstelle gefunden, die diese Thesen stützte. Außerdem hasste sie es, wenn Vetter Gustav ihr bei seinen Besuchen ungefragt den Arm um die Taille legte: Die Mischung aus Bartwichse und kaltem Zigarrenrauch, die ihn umwaberte, löste bei ihr regelmäßig Fluchtinstinkte aus. Und so hatte sie Gustavs schlecht getarntes Angebot, in Atelier, Labor und Laden auszuhelfen, ohne zu zögern abgelehnt. »Daraus wird nichts, selbst wenn Vetter Gustav lecker riechen und an Schönheit, Eleganz und Güte nicht zu übertreffen wäre«, hatte Auguste kategorisch erklärt. Von Huldas Seite gab es keinen Widerspruch, und auch wenn Julius Fuchs manchmal vergaß, was er vor zehn Minuten getan oder gesagt hatte: Dass Auguste bis über beide Ohren in jenen flotten jungen Mann verliebt war, der seit dem Sommer bei ihnen ein und aus ging, schloss selbstverständlich jede Einheirat von Gustavs Seite aus. An guten Tagen konnte Julius Fuchs sich sogar daran erinnern, wie Augustes Verehrer hieß: Jakob Wilhelmi! Und er war der Assistent von einem Kommissar mit Namen … »Gustchen, wie heißt noch mal der Vorgesetzte von deinem Herzensschatz?« »Von Barnstedt, Papa. Kommissar Hubert von Barnstedt.« »Ja, natürlich! Lag mir auf der Zunge!« Für Hulda und Auguste waren solche Dialoge an der Tagesordnung. Es war klar, dass es immer dringlicher wurde, einen Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin einzustellen. Nur leider blieben die Annoncen im Photographischen Wochenblatt bisher ohne das ersehnte Echo. »War ’n Unfall.« Hulda riss...