E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Blum Opoe
18001. Auflage 2018
ISBN: 978-3-8437-1856-1
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-1856-1
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Donat Blum hat ein Filmfestival geleitet, als Tellerwäscher und Geschäftsführer gearbeitet und am Schweizerischen und Deutschen Literaturinstitut studiert. Er veröffentlicht in zahlreichen Zeitschriften, ist Mitveranstalter der Werkstattgespräche 'Teppich' im Literaturhaus Zürich, Initiator der Veranstaltung 'Skriptor' an den Solothurner Literaturtagen und Herausgeber der Literaturzeitschrift Glitter.
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Acht Jahre war es her, dass ich mit einem Rucksack auf dem Rücken und einem Rollkoffer an der Hand zu Opoe nach Bern gezogen war. Ich überquerte den Hauptbahnhof, sah unter mir die Altstadt, die vor Hunderten von Jahren aus militärgrünem Sandstein gebaut worden war, und am Horizont zu einem Postkartenbild aufdrapiert die Alpen. Ein Bild, das ich aus dem flachen Norden der Schweiz, wo ich drei Stunden zuvor noch gelebt hatte, kaum kannte.
Bis mein erstes eigenes Zimmer frei sein würde, konnte ich bei Opoe unterkommen. Sie lehnte aus dem Fenster im fünften Stock. Von Weitem sah ich ihre weiße Fönfrisur und die himmelblaue Seidenbluse leuchten. Mit der einen Hand bewahrte sie die Sonnenbrille vor dem Fall, mit der anderen tätschelte sie die Luft: Ich solle warten, bis sie hinuntergestiegen sei. Ruß hatte die Sandsteinfassade hier schwarz verfärbt. Eine Polizistin regelte auf der Kreuzung vor dem Haus den Verkehr. Links, rechts, links, küsste mich Opoe auf die Wangen: »Schön, sind Sie da!«, sagte sie strahlend und mit ihrem starken holländischen Akzent, der ein Rauschen über die Worte legte. Sie siezte mich, wie sie es bei Floskeln häufig tat: »Entschuldigen Sie!« und »Kommen Sie wieder!« als hätte sie die Wendungen frisch aus dem Lehrbuch.
Ich zählte die Stufen, die ich vor ihr hochstieg, nicht wissend, was ich sagen sollte. Obwohl Opoe meine Großmutter war, kannte ich sie kaum. Max habe sich nicht gerne unter Leute begeben, sagte meine Mutter über ihren Vater, über Opoes Mann. Nur selten haben sie uns besucht. Nur selten sind wir zu ihnen nach Bern gefahren.
Als ich mich nach der 51. Stufe umdrehte, hatte sich Opoe auf die Fensterbank gesetzt. Sie drückte den Rücken durch und winkte mir, wie die Queen auf Staatsbesuch, über die Schulter zu. Ihre Perlenkette schimmerte. »Nur, um die Aussicht zu genießen«, wiegelte sie meinen besorgten Blick ab und zeigte auf die Alpen, die mit schwindender Gewissheit Ewiger Schnee bedeckte.
In den folgenden drei Wochen schlief ich auf der »«, wie sie das Bettsofa in einer Mischung aus Couch, kuschelig und Französisch nannte. Ich ging zur Arbeit, Opoe kochte und wir sahen fern. Aber wie es dazu kam, dass mich beim Abschied diese Gefühlsmischung durchströmte, die wie ein Gläschen Liqueur oder Portwein wohlig wärmte und zugleich stechend brannte, erschloss sich mir nicht.
Mein WG-Zimmer war frei geworden, und Opoe hielt mich in der Tür nochmals zurück: »Schön, waren Sie hier!«, sagte sie und fügte leise an, als ich mich bereits abgewendet hatte: »Kommen Sie wieder einmal vorbei, ja?«
Von Zeit zu Zeit rief meine Mutter an und erzählte von diesem und jenem, bevor sie den Bogen zu Opoe schlagen konnte: »Sie schwärmt so sehr von dir«, sagte sie dann: »Sie ist so allein. Magst du nicht mal wieder bei ihr vorbeischauen?«
Meine WG, die ich mit Katka, einer Physikstudentin aus Leipzig, teilte, lag nur wenige Fahrradminuten von Opoes Wohnung entfernt. Also fuhr ich hin, wegen meiner Mutter, wegen Opoe, weil es mein Selbstbild so wollte, und stieg die Treppe hoch, die Opoe Monat für Monat mehr von der Außenwelt trennte.
Nur ein Mal hatte sich Opoe von sich aus bei mir gemeldet. So meine Erinnerung. Ob sie mich zum Essen einladen dürfe, rief sie an, kurz vor meinem Geburtstag. Dass wir zusammen Hackbraten kochen könnten, schlug ich vor. Das handgeschriebene Rezept ihrer Mutter, und der Topf so schwarz, dass man ihn nicht mit einem Geschirrtuch, sondern nur im noch warmen Ofen trocknen durfte, war etwas von den wenigen Dingen, die ich bereits als Kind mit ihr verband. Sie zögerte. Sie möge nicht mehr kochen, sagte sie schließlich. Sie schmecke die Würze nicht mehr. Ob wir nicht ins Migros-Restaurant gehen könnten. Die Hackplätzchen dort, die Bärentatzen, die seien sehr und mindestens genauso köstlich wie ihr Hackbraten, das könne sie versichern.
Sie griff nach einer der Gratiszeitungen, die am Ende der Rolltreppe bereitlagen, und legte sie mit Besteck und Serviette auf ein Tablett. Der Koch mit weißer Mütze und fettbespritzter Schürze begrüßte sie mit Namen: »Grüezi Frau Bergé! Wie immer?« Sie lächelte und wackelte mit dem Kopf, unklar ob zitternd, schüttelnd oder nickend. »Und Kräuterbutter daneben?«, fragte er und grub unter dem Spuckschutz den Löffel in die gesprenkelte Masse. »Nur keine Umstände«, sagte sie und meinte »Ja, der Kunde ist der König.«
Wir saßen uns gegenüber. Um uns herum Plastikpflanzen, weiße Tische und Rentner. »Schmeckt es dir?«, fragte sie. Ich nickte und dachte, dass sie hätte wissen müssen, dass ich keinen Knoblauch esse. Wir plauderten, aber worüber? Es gab einige Geschichten, die sie öfter erzählte; von der Kriegszeit in Holland, von ihrem Bruder, von einer Reise nach Mexiko und von einer nach Indonesien. Auf jeden Fall stellte sie keine Fragen, nicht an mich, nicht an sich, nicht an den Lauf des Lebens.
Die 144 Stufen zur Wohnung konnte sie bald nur noch einmal täglich bewältigen. Die Einkäufe teilte sie in zwei Taschen auf beide Arme auf und pausierte auf jedem Treppenabsatz. Um im Keller die Kleider zu waschen, setzte sie sich auf einem Mülleimer vor die Waschmaschine. Fünfundsiebzig Minuten lang schaute sie zu, wie das Wasser in die Trommel rauschte, der Schaum die Sicht auf die Kleider nahm und die Digitalanzeige in Sprüngen rückwärts zählte.
»Das geht doch so nicht mehr!«, sagte meine Mutter, »wir müssen dir ein Altersheim finden.« Opoe sprach vom Wetter oder ging auf den Balkon, um die Geranien zu gießen, zitternd, als ob nichts wäre: »Es geht doch!« Als hätte sie nicht das meiste Wasser daneben und in den Garten fünf Stockwerke weiter unten gegossen.
Sie traute sich nicht mehr, über den Badewannenrand zu steigen, wusch sich stattdessen mit einem Lappen und begann zu riechen. »Kannst nicht du mal versuchen, mit ihr zu reden«, bat mich meine Mutter. »Es gibt auch Alterswohnungen«, sagte ich zu Opoe, »mit Lift! Modern.« Ich konnte sie zu Besichtigungen überreden. »Kleine Ausflüge!« Und bei einem Rohbau sagte sie schließlich zu. Die Fertigstellung würde noch einige Monate dauern. Und die Hochglanz-Bilder versprachen einen Holz-Beton-Komplex mit Bäckerei, Restaurant und modernen Alterswohnungen: nicht verstaubt, nicht nach Suppe, nicht nach Filterkaffee riechend.
Während wir ihre Kleider in Schachteln verpackten und die und den Perserteppich die Treppe hinunter trugen, schaute Opoe aus dem Fenster auf die gegenüberliegende Hauswand, die bis auf einen schmalen Streifen die Aussicht verdeckte. »Wie schön, sehen Sie das, Donat, dort am Horizont die Alpen?«
In der Altersresidenz, so bat sie uns das Heim zu nennen, schien sie nochmals aufzublühen. Sie stach heraus mit der Perlenkette und der hellblauen Seidenbluse, die sie immer bei Besuch trug, mit der Sonnenbrille auf der großen Nase, die im schmaler werdenden Gesicht Tag für Tag markanter wurde.
Sie saß im residenzeigenen Restaurant und hatte den Blick in der eierschalenweißen Tischplatte versenkt. Die Beine übereinandergeschlagen und die Hände dazwischengeklemmt, richtete sie sich sogleich auf, als Joel und ich hereintraten, hob die Arme über den Kopf mit dieser für sie so typischen, jubilierenden Geste, lehnte sich vor, um mich dreimal zu küssen: »Schön, kommen Sie vorbei«, sagte sie zu mir und hatte bereits Joels Hand ergriffen, hielt sie fest und tätschelte sie mit der anderen: »Oh, wie mich das freut, Sie kennenzulernen.«
Erst kurz vorher, als wir bereits auf dem Weg zu ihr waren, hatte ich telefonisch angekündigt, dass ich vorbeikommen würde. »Mit meinem Freund«, hatte ich nachgeschoben, und, um das nicht als Grund im Raum stehen zu lassen, »wir sind gerade in der Gegend.«
»Bestellt euch etwas zu trinken. Nehmt auch ein «, sagte Opoe, hob die zittrige Hand und winkte der Kellnerin: »Fräulein Köhler!«
Sie stellte Fragen, was sie sonst nie tat: »Wo sind Sie denn aufgewachsen, Joel? Hier in der Region?« Sie hatte seinen Dialekt erkannt, was mich überraschte, obwohl ich ja wusste, dass sie bereits über 60 Jahre in der Schweiz gelebt hatte. »Aarberg?« Da gefalle es ihr sehr gut, sagte sie, die stattlichen Häuser rund um den Marktplatz, die Eleganz des Städtchens, und das mitten auf dem Land. »Und was machen Sie beruflich?«
Joel und Opoe saßen sich mit gestrecktem Rücken gegenüber und ich krumm daneben, als würde ich vom Gewicht meiner Beine unter den Tisch gezogen. Er sei Biologe und Stadtgärtner, sagte Joel und fuhr fort, als Opoe ihn auffordernd anschaute, dass er Konzepte zu ökologischer Nachhaltigkeit für die Stadt erarbeite: Da gebe es noch viele blinde Flecken, so würde sie vielleicht die Vorteile von Mülltrennung kennen, aber dass die Mikroplastikkügelchen aus Kosmetikprodukten die Fische in der Aare töteten, sei beispielsweise weniger bekannt. Ich weiß nicht, wie viel Opoe von Joels Ausführungen verstand, aber sie nickte, lächelte und freute sich...