E-Book, Deutsch, 392 Seiten
Reihe: Olzog Edition
Boateng Allein in Gyaamani
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-95768-270-3
Verlag: Lau Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Oder wie Lernen mir half eine neue Heimat zu finden
E-Book, Deutsch, 392 Seiten
Reihe: Olzog Edition
ISBN: 978-3-95768-270-3
Verlag: Lau Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gloria Boateng ist Lehrerin, Moderatorin, Autorin, Interkulturelle Trainerin und Coachin. Seit 2008 engagiert sie sich mit ihrem Verein SchlauFox e.?V. für die Bildungsförderung von sozioökonomisch benachteiligten Kindern und Jugendlichen. Für ihr Engagement erhielt Gloria u.?a. 2011 die Integrationsmedaille der Bundesregierung, 2016 die GOLDENE BILD der FRAU der FUNKE Mediengruppe und 2019 das Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland.
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Weitere Infos & Material
Prolog
TEIL EINS: Lebensschule – Meine Kindheit in Ghana
Zerrissene Familienverhältnisse – Licht und Schatten in der frühen Kindheit – Me maame – Meine Mutter – Me papa – Mein Vater – Bei Aunty Adwoa in Kumasi – Nana Yeboah und der Tag, der alles veränderte – Reisevorbereitungen und die kreative Geburtsurkunde
TEIL ZWEI: Ankunft in einer fremden Welt
Moin Moin, Gloria – Ama im Land der Obronis – Schule in Deutschland ist überhaupt nicht toll! – Mutterseelenallein – Plötzlich Pflegekind – Rassismus überall – Drei gegen eine – Familienleben mit Licht und Schatten – Goodbye, Reimers – Hello, Wohnheim – Umzug – again
TEIL DREI: Glaube an dich selbst, wenn niemand an dich glaubt
Folgenreiche Begegnung – Bittere Erkenntnis – Wieder ein Tag, der alles verändert – In anderen Umständen zum Abitur – Back to school – Mein Sabbatical lichtet den Nebel – Der Plan zur Rückkehr – Back to Pramso – nach 14 Jahren – Aufgeben ist keine Lösung – Alltag unter Dreifachbelastung – Kein Stipendium, sondern … – Eine Kerze, die an beiden Enden brennt – Ein Maulwurf unter den Föxen – Bleibt alles anders? – Staatsexamen – ich komme – SchlauFox e.?V.
Epilog
Bilderverzeichnis
Glossar
Danksagung
Zerrissene Familienverhältnisse
Irgendwo in einem kleinen Dorf namens Pramso1 in der Ashanti Region2 in Ghana stand ein buntes Haus an einer langen, nie enden wollenden Straße. Hier wurde ich – wie ich erst mit dreizehn Jahren erfahren sollte – 1979 geboren. Das Haus war in einem hell leuchtenden Pink gestrichen und befand sich direkt an der großen Hauptstraße, die im Grunde auch die einzige Straße dort war. Von hier aus gingen rechts und links einige Wege und Pfade ab, die wiederum zu anderen Häusern führten. Viele waren eher Ruinen. Der Bau der Häuser wurde zwar begonnen, aber die meisten von ihnen sind nicht fertig geworden. Das pinkfarbene Haus war eines der größten und schönsten in Pramso. Darin lebten ein älterer, erblindeter Mann, seine Frau, ihre sieben Kinder und ein Enkelkind. Das Enkelkind war ich. Damals hieß ich noch Ama Boaduwaa, Tochter von Afia Ofori, die bei meiner Geburt knapp fünfzehn Jahre alt war und Pramso wenige Jahre später verließ, um weit weg in einem Land, in dem nur Obronis wohnten, nach einem besseren Leben zu suchen.
Obronis, so nannten wir bei uns die weißen Menschen, deren Haut so hell war, so hell wie Kokosmilch oder wie meine Lieblingskekse, die es nur an besonderen Tagen für uns Kinder gab. Viele Jahre später habe ich erfahren, dass das Wort Obroni möglicherweise »the wicked one« bedeutet. Damit sollen die damaligen Kolonialherrschenden als »böse« Personen bezeichnet worden sein. Eine andere Untersuchung des Ursprungs besagt, dass es »those who come from the horizon« bedeutet und damit eine Person bezeichnet wird, die von weither kommt. In meiner Kindheit kannte ich nur die zweite Bedeutung. Das Wort wurde nie als Beleidigung oder Schimpfwort benutzt.
Damals stellten wir uns die Obronis immer alt vor, wie die drei, die als Einzige jemals nach Pramso gekommen waren. Beim Ersten – ich war etwa vier Jahre alt – handelte es sich um einen Arzt. Er gab mir eine Spritze und versuchte, Englisch mit mir zu sprechen. Leider sprach ich kein Englisch und meine Erstsprache Twi, die zur Gruppe der Akan-Sprachen gehört und so einzigartig klingt, wie keine andere Sprache, die ich je gehört habe, beherrschte er nicht. Aus Angst vor der Spritze habe ich wie am Spieß geschrien. Die anderen beiden Obronis kamen in einem großen Auto ins Dorf gefahren. Wir Kinder waren ganz schnell hingelaufen, um sie und vor allem ihr Auto anzuschauen. Denn in unserem Dorf hatte niemand ein Auto. Das war nur etwas für reiche Menschen. Deshalb waren wir jedes Mal fasziniert, wenn wir ein echtes Auto sahen. Das galt nicht nur für uns Kinder, auch die Erwachsenen versammelten sich auf der Straße, um den Wagen zu begutachten und womöglich die Aufmerksamkeit der Gäste zu bekommen. Denn ein großes Auto bedeutete, dass es jemand sein musste, der Geld hatte. Und wer Geld hatte, brachte meistens auch Geschenke mit. Jede Person versuchte, etwas abzubekommen, und je dichter wir uns zum Auto drängten, umso größer waren die Erfolgschancen – dachten wir zumindest.
Es waren aber nicht nur Obronis, die in ihren schicken Wagen nach Pramso kamen. Ab und an kehrten auch ehemalige Dorfbewohnerinnen oder deren Kinder zurück, die Pramso einst verlassen hatten und nun weiter entfernt wohnten.
Hätte meine Oma Abena3 mir nicht davon erzählt, so hätte ich damals nicht geahnt, dass es irgendwo auf der Welt noch viele andere Städte und Länder gab, die weit entfernt von Ghana lagen und in denen laut meiner Nana4 alle Menschen reich waren. Wer aus solch einem Land kam, der hatte ein Auto, ein schickes Haus und viel zu essen. Deshalb brachten die Rückkehrenden ihren Familien auch immer viele Geschenke: Kleidung, Schmuck und Geld. Wir Kinder bekamen mit ein bisschen Glück Süßigkeiten, z. B. köstliche Bonbons.
Aber zurück zu meiner Mutter. Lange Zeit wusste ich nicht viel von ihr. Sie war das älteste der insgesamt zehn Kinder meiner Nana. Meine Mutter stammt als Einzige aus Nanas erster Beziehung. Ihr Vater Yeboah und Nana Abena hatten sich wohl früh getrennt und er hatte das Land verlassen. Viele Jahre später erfuhr ich, dass er in den USA und in Europa gelebt und studiert hatte.
Obwohl Nana Abena und ihr neuer Mann ein Haus in Pramso besaßen, lebten wir in armen Verhältnissen. Oft kämpften wir um unser tägliches Brot, sodass meine Mutter schon in jungen Jahren viel Verantwortung übernehmen musste und ihre jüngeren Geschwister hütete.
Mein Vater Kwadwo Boateng spielte nie eine große Rolle in meinem Leben, erst als Grundschulkind habe ich ihn ein wenig kennengelernt. Auch an die ersten Jahre mit meiner Mutter kann ich mich nicht erinnern. Von der Kennenlerngeschichte meiner Eltern gibt es mehrere Versionen, sie weichen jedoch teilweise sehr voneinander ab: Mein Vater war ein Verwandter des Mannes meiner Großmutter mütterlicherseits. Mit 23 oder 24 Jahren war er auf der Suche nach einer Frau. Meine Großmutter und ihr Mann schlugen ihm meine Mutter vor, die zehn Jahre jünger war. Schon bei der ersten Begegnung habe meine Mutter meinem Vater gefallen. Wenige Monate später hat er offiziell »um ihre Hand angehalten«. Fragte ich meine Mutter, meinen Vater, meine Oma oder meine älteste Tante, was danach passierte, so schilderten alle eine andere Version.
Eine lautet, dass meine Mutter und mein Vater traditionell geheiratet hätten. Die Familie meines Vaters kommt aus Mim, in der Bono Region im Westen Ghanas. Nach der Heirat war meine Mutter zu meinem Vater gezogen. Als sie mit mir schwanger war, kehrte sie nach Pramso zurück, um mich im Kreise ihrer Familie im dortigen Krankenhaus auf die Welt zu bringen. Meine Mutter blieb von diesem Zeitpunkt an in Pramso und wollte nicht mehr zu meinem Vater zurück. Einige sagen, sie hätte einen anderen Mann kennengelernt und darum gebeten, von meinem Vater geschieden zu werden. Andere erzählen, dass mein Vater in der Zeit meiner Geburt eine Geliebte hatte und dass meine Mutter nicht zurückkehren wollte, als sie das herausgefunden hatte. Es ist alles sehr verworren.
Die längste Variante der Geschichte lautet, dass meine Mutter nach meiner Geburt über meinen Vater gesagt haben soll: »Ich liebe ihn nicht. Er ist ein Bauernsohn. Mit ihm habe ich keine Zukunft.« Meine Oma sei daraufhin sehr wütend geworden: »Schau dich hier um. Wir haben nicht viel. Ich kann nicht dich und dein Kind ernähren!«, sagte sie. »Ziehe zu ihm!« »Nein. Eher lebe ich allein«, insistierte meine Mutter.
»Dann zieh aus. Sieh zu, wie du dich und dein Kind ernährst. Du wirst sehen, wie schwer es ist, wenn du erst mal allein bist.« Meine Oma ließ ihren Worten Taten folgen und warf meine Mutter und mich aus dem Haus. Die folgende Phase schilderte meine Mutter mir als eine der brutalsten in ihrem Leben. Sie ging zunächst in die nächstgrößere Stadt Kumasi und suchte nach einer Unterkunft. Viele Tage lebte sie mit mir auf der Straße.
Nach einigen Wochen bekam sie Kontakt zu einem Onkel, der uns beide bei sich aufnahm. Sie versuchte, unser Überleben zu sichern, indem sie Produkte auf dem Markt verkaufte und von ihrem Kleinverdienst Lebensmittel einkaufte. Meistens gab es nur Reis. Manchmal pur, und wenn wir Glück hatten, Tomatensoße dazu. In besonders glücklichen Momenten gab es noch ein Ei. Meine Mutter erzählte mir, dass ich als kleines Kind Reis mit Ei liebte. Nach dem Essen hätte ich mir immer den Mund an der Kleidung derjenigen abgewischt, die sich gerade in meiner Nähe befanden. Sie musste lachen, als sie mir das erzählte. »Du warst schon immer schlau!«
Afia war ambitioniert, so schnell wie möglich – wie viele Menschen vor ihr – einen Weg nach Abrokyire5 zu finden, um der Armut und der Perspektivlosigkeit zu entkommen. Dort würden unbegrenzte Möglichkeiten warten. Es sollte ihr gelingen.
Mein Großvater, der Vater meiner Mutter, lebte in Abrokyire – genauer gesagt in Gyaamani6 – und kehrte irgendwann nach Ghana zurück. Wenige Jahre später ist meine Mutter ihm dann nach Abrokyire gefolgt.
Als mein Onkel eines Tages – ich mag drei Jahre alt gewesen sein – nach der Arbeit nach Hause kam, fand er mich heulend und eingenässt alleine in unserer damaligen Wohnung in Kumasi. Von Afia keine Spur. Da er sich nicht um mich kümmern konnte, brachte er mich zu meiner Oma nach Pramso zurück.
Wie auch immer die Geschichten erzählt werden, meine eigenen Erinnerungen beginnen in etwa diesem Alter in Pramso.
Von allem, was vorher geschah, weiß ich nur aus Erzählungen und diese sind – wie bereits erwähnt – teils sehr unterschiedlich.
Die nächsten sechs oder sieben Jahre blieb ich überwiegend in Pramso. Was dann geschah, davon kann ich selbst berichten. Da bin ich auf keine Erzählungen angewiesen.
1 Ein Dorf im Bosomtwe-Distrikt
2 Ghana ist in 16 Regionen aufgeteilt. Eine davon ist die Ashanti Region. Die Ashanti (bei uns Asante geschrieben) waren ein mächtiges und kriegerisches Volk. Mit großem Widerstand widersetzten sie sich wie kaum ein anderes westafrikanisches Volk den europäischen Eindringlingen.
3 Akan-Name für eine weibliche Person, die am Dienstag geboren wird.
4 Oma, Opa
5...