Bock von Wülfingen | Die Familie unter dem Mikroskop | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

Bock von Wülfingen Die Familie unter dem Mikroskop

Das Bürgerliche Gesetzbuch und die Eizelle 1870-1900

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

ISBN: 978-3-8353-4469-3
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Wie eine bahnbrechende Entdeckung der Zellbiologie die Geschlechterhierarchie infrage stellte.

Wenn Spermium und Eizelle sich bei der Zeugung vereinigen, geben beide ihr Erbmaterial an den Embryo weiter. Dieser seinerzeit revolutionäre biologische Befund von 1875 hatte weitreichende Folgen, nicht zuletzt für das Erb- und Familienrecht. Denn aus der Erkenntnis, dass väterliche und mütterliche Anteile an die Nachkommen weitergegeben werden, resultierten politische Fragen der Gleichberechtigung und der Verteilungsgerechtigkeit.
Solche Themen waren speziell im Deutschen Kaiserreich virulent, als zwischen 1870 und 1900 das Bürgerliche Gesetzbuch entstand. Das BGB legte die Grundlage für das Verständnis von Familie als biologischer Einheit, Wirtschaftsgemeinschaft und von geschlechtlicher Arbeitsteilung, wie sie bis in das 21. Jahrhundert hinein wirksam geblieben ist.
Bock von Wülfingen Die Familie unter dem Mikroskop jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


I. Erbschaft begreifen: Von Agrarland zu Wertpapieren
1. Erben: Internationale und interdisziplinäre Perspektiven
Säkularisierung und Verbürgerlichung von Erbe
Besonders in der Wissenschaftsgeschichte der Vererbung wurde deutlich, dass die Jahrzehnte vor der internationalen Etablierung der Genetik mehr Aufmerksamkeit erhalten sollten, um deren Entwicklung nach 1900 besser zu verstehen.[1] Der Fall der Ko-Evolution von Erbrecht und naturwissenschaftlicher Vererbung im Deutschen Kaiserreich ist speziell geeignet, um die sehr verwickelte moderne Vorstellung von Produktion und Reproduktion zu verstehen wie auch die Funktion der bürgerlichen Kernfamilie im Nationalstaat im Zusammenhang mit der Ökonomie der Vererbung nachzuvollziehen: Kaum irgendwo anders im westlichen Europa herrschten solch paradigmatisch zugespitzte erbrechtliche Bedingungen in Hinsicht auf Stand, Alter und Geschlecht. Durch den im Kontext der Reichsgründung schlagartig international herausragenden Status von Zell- und Vererbungsforschung lassen sich wie unter dem Brennglas die entsprechenden begrifflichen Wanderungen und Entwicklungen in Recht und Biologie beobachten. Das Konzept der Reproduktion, wie es am prominentesten von dem Naturforscher Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon, eingeführt wurde,[2] betont das Wiedererschaffen, die Regeneration des Gleichen. Das Auftauchen des Begriffs »Reproduktion« war verbunden mit einer Kritik der etablierten Vorstellung von Zeugung und Ewigkeit. Im Verlauf des aufkommenden Gebrauchs der verschiedenen Vorstellungen von Reproduktion[3] bzw. Fortpflanzung wurde im späten 19. Jahrhundert das Konzept der Weitergabe von Merkmalen im Deutschen vermehrt als Vererbung bezeichnet. Der Begriff der Vererbung wurde in deutschsprachigen Texten in einem Atemzug mit Zeugung und Reproduktion genannt. In der Wissenschafts- und Wissensgeschichte widmen sich einige wenige Studien bestimmten Aspekten dieser Modernisierung von Vererbungskonzepten im Verhältnis zum Recht: Sara Paulson Eigen diskutierte das Ringen um verlässliches Wissen bei dem Versuch der Medizin im 18. Jahrhundert, brauchbare Argumente für den Beweis einer konkreten Vaterschaft und Mutterschaft zu finden.[4] David Warren Sabean verwies auf Zusammenhänge zwischen Erbrecht und sich etablierenden Veränderungen im familiären Reproduktionsverhalten. Es gelang ihm, am Beispiel eines italienischen Dorfs um 1800 sowie einer deutschen Stadt eine Verbindung zwischen der rechtlichen Abschaffung der Primogenitur im Erbrecht (nach der der älteste Sohn erbt) zugunsten einer gleichberechtigten Landaufteilung unter Geschwistern und anschließenden zunehmenden Liebesehen unter Verwandten derselben Generation zu zeigen, so dass das Land um 1900 wieder zusammengeführt werden konnte.[5] Schließlich ist es der Begriff der Reproduktion, auf dessen Grundlage Alain Pottage parallele Entwicklungen zwischen innovationsrechtlichen Regelungen wie dem Patentrecht und biologischen Vererbungskonzepten seit der Frühen Neuzeit diskutierte.[6] Während diese historischen Fallstudien die lokalen Gegebenheiten des Zusammenspiels von rechtlichen und biologischen Vererbungsmustern eindrucksvoll veranschaulichen, lassen sie sich in einen ersten breiteren Überblick über das Thema Erbe in Europa einbetten. In einer interdisziplinären Anthologie,[7] die explizit das Nebeneinander von Studien zum rechtlichen und biologischen Verständnis von Erbe in den Mittelpunkt stellt, argumentieren Stefan Willer, Sigrid Weigel und Bernhard Jussen, dass die bürgerlichen Umbrüche in Europa um 1800 einen Übergang von vormodernen zu modernen Konzepten der Vererbung markierten. Das deutsche Erbschaftskonzept kann erstmals aus frühmodernen Wörterbucheinträgen zu »erw« abgeleitet werden, welches »Feld« oder »Erde« bedeutet.[8] Ebenso meint es das, was darauf gezogen und erwirtschaftet wird, wie auch jenes, was man durch einen Nachlass erwirbt. In einer zweiten Bedeutung wird ihm aber auch über die Wurzel »arb« eine Nähe zu »Arbeit« zugeschrieben.[9] In der Vormoderne, oft bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, wirkte die juristische Persönlichkeit eines Menschen weiter, auch wenn er gestorben war. Die Toten waren weiterhin präsent.[10] Erbschaft im Sinne eines Übergangs nach dem Tode scheint einer »religiösen Jenseitsökonomie«[11] zu folgen, die sich in den enzyklopädischen Einträgen zu Erbschaft des 19. Jahrhunderts weitestgehend verlor. Stattdessen kommt es zu einer »Familialisierung und Biologisierung der Genealogie«.[12] Es wird das Wissen über die sexuelle Fortpflanzung zunehmend reflektiert, indem die Ähnlichkeit zwischen Erblasser und Kindern mit materiellem Erbe enggeführt wird.[13] Diese Veränderungen wurden von Wissenschaftlern beobachtet und mit gestaltet. So meinte der Pathologe, Anthropologe und Politiker Rudolf Virchow 1847, dass in den wissenschaftlichen Vorstellungen die den Tierkörper steuernde Lebenskraft einer Bildungskraft habe weichen müssen, die den Zellen eigentümlich und erblich sei. Das monarchische Prinzip sei durch das demokratische Prinzip ersetzt worden, das vom Einzelwesen ausgehe.[14] 1856 beteuerte Virchow, dass inzwischen »die neueste Medizin […] die Existenz einer autokratischen Lebens- und Naturheilkraft leugnet«, und behauptete, dass an die Stelle von Begriffen wie Lebenskraft und Naturheilkraft die Idee des Organismus als eine legislative Potenz getreten sei.[15] Émile Durkheim wies in seinem soziologischen Frühwerk über gesellschaftliche Arbeitsteilung auf die »Seltsamkeit« hin, dass das Erbe gerade in dem Moment in die Wissenschaft (»la science«, hier im Sinne der Sozialforschung) einzutreten begann, als es den Glauben gerade nahezu verlassen hatte.[16] Seine Erklärung für dieses Phänomen ist, dass das Erbe zuvor sein Fundament im Glauben hatte und nun am Scheitelpunkt seiner Delegitimation stehe, an dem der Mensch vor allem als aus eigener Kraft gestaltetes Individuum erscheint.[17] Die Wissenschaften übernähmen die Rolle, das gesellschaftliche wie auch das biologische Erben zu beschreiben. Zeitgleich mit diesem veränderten Verständnis von Erbe stellten der Code Napoléon und das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten seit 1794 das zuvor übliche Vererben per Testament in Frage, das – nebenbei gesagt – im Mittelalter durch die Kirche als Seelgerät eingerichtet worden war und häufig von kirchlichen Experten geregelt wurde.[18] Stattdessen wurde das Pflichterbe eingeführt mit gleicher Verteilung des Erbes auf alle Kinder. War das Erbe zuvor eine »verbindliche[…] Institution«, wird daraus in der Moderne eine »individuelle[…] Verfügungsmasse«.[19] Zugleich wanderte das Erb-Gut weiter in das Innere des eigenen Körpers[20] und schließlich, wie sich zeigen wird, in den Zellkern.[21] Die interdisziplinäre Anthologie Heredity Produced (2007) reklamierte, dass die allein begrifflich schon so augenfälligen kulturellen Verbindungen zwischen den Konzepten von Erbe in Recht und Biologie eine Untersuchung wert seien.[22] Einer der Beiträge in der Anthologie Heredity Explored (2016) griff speziell diesen Aspekt der Begriffsgeschichte auf: Carlos López-Beltráns Studie zu der Situation im deutschsprachigen Kontext zeigt, dass vor dem zunehmenden Gebrauch des Begriffs »Vererbung« Ende des 19. Jahrhunderts der frühere Begriff »Erblichkeit« ab den 1830er Jahren systematisch, besonders in medizinischen Texten, als Nomen gebraucht wurde.[23] Dennoch wandte das deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm 1888 weiterhin Verben des Erbens und Vererbens lediglich auf rechtliche Vererbung an und nicht auf die Natur. Französische und englische Wörterbücher zeigen im Schritt von Erblichkeit zu Vererbung keinen so plötzlichen Wandel wie deutsche biologische Texte. Im Englischen wurde Vererbung, also inheritance, nach den 1880er Jahren häufiger gebraucht, aber der frühere Begriff heredity wurde ebenfalls weiterhin verwendet.[24] Solche Hinweise auf die Verflechtung von Recht und den Vorstellungen von der natürlichen Vererbung sind der Ausgangspunkt dieser Monographie. Dazu gilt es zunächst zu klären, von welchem Rechtsraum hier die Rede ist. Denn in Europa und seinen Kolonien existierten zwei verschiedene grundlegende Erbschaftsregeln (siehe auch die Karten): Es gab das Common Law in England und den Vereinigten Staaten, wonach nur der Erblasser per Testament entschied, wer erben würde. Dort war ein Erbrecht unüblich, das dem Erblasser die Kontrolle über die Verteilung seines (oder seltener ihres) Besitzes absprach. Lediglich in Ermangelung eines letzten Willens wurden gesetzlich vorgeschriebene Erbfolgeregeln relevant. Über einen letzten Willen verfügen zu dürfen traf in England, wie in anderen europäischen Ländern, lediglich auf den Vater eines Haushaltes zu. Erst nach mehreren Jahrzehnten des politischen Kampfes wurde 1882 der Married Women’s Act eingeführt, welcher Frauen eigene Rechte über Besitz wie Erbe, Land und Einkommen verlieh.[25] Ähnliche rechtliche Änderungen gab es in den meisten Staaten der Vereinigten Staaten im 19. Jahrhundert. Bis 1800 erhielten dort alle Kinder unabhängig von Geschlecht oder Geburtenreihenfolge gleiche Anteile an Grundbesitz und persönlichem Eigentum. Und Mitte des 19. Jahrhunderts verabschiedete ein Großteil der Vereinigten Staaten – im Kontrast...


Bock von Wülfingen, Bettina
Bettina Bock von Wülfingen ist Privatdozentin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Als Fellow arbeitete sie zuletzt am Department of the History of Science in Harvard, der McGill University in Montreal und dem Science History Institute in Philadelphia.
Veröffentlichungen u.a.: Science in Color. Visualizing Achromatic Knowledge (Hg., 2019); Genetisierung der Zeugung. Eine Diskurs- und Metaphernanalyse reproduktionsgenetischer Zukünfte (2007).

Bettina Bock von Wülfingen ist Privatdozentin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Als Fellow arbeitete sie zuletzt am Department of the History of Science in Harvard, der McGill University in Montreal und dem Science History Institute in Philadelphia.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.