Böhm New Level
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8493-0361-7
Verlag: Metrolit Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: PC/MAC/eReader/Tablet/DL/kein Kopierschutz
Das ideale Computerspiel
E-Book, Deutsch, 180 Seiten
ISBN: 978-3-8493-0361-7
Verlag: Metrolit Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: PC/MAC/eReader/Tablet/DL/kein Kopierschutz
Ein facettenreiches Grundlagenwerk zum Thema „Computerspiel und Literatur“.
Wladimir Kaminer, Saša Stanišic, Aboud Saeed, Carlos Labbé, Andri Snær Magnason, Jaroslav Rudiš, Georg Klein, Ann Cotten oder Monika Rinck: Das sind nur einige Namen der an diesem außergewöhnlichen Projekt beteiligten Autorinnen und Autoren. Initiiert von Thomas Böhm (Internationales Literaturfestival Berlin) und gefördert vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung, schreiben sie Entwürfe für Computerspiele – ohne Rücksicht darauf, ob diese Spiele heute technisch realisierbar sind oder nicht. So entstehen einerseits literarische Computerspiele als erhellende Herausforderung der Computerspiel-Welt, andererseits treten sie ein in einen Dialog mit führenden Wissenschaftlern und Programmierern und gehen den Fragen nach: Wie entstehen Computerspiele? Wie sehr ähneln oder unterscheiden sich beispielsweise die erzählerischen Mittel oder Plot und Dramaturgie bei der Stoffentwicklung von erfolgreichen Romanen und Computerspielen? Lassen sich komplexe literarische Inhalte in ein Spiel überführen, oder ist dies vor allem Genrestoffe vorbehalten?
'New Level. Computerspiele und Literatur eröffnet einen vielversprechenden Austausch zwischen zwei Welten, die weit mehr gemeinsam haben als beiden bisher bewusst ist.'
WDR 3
'Ein umfangreiches Grundlagenwerk'
FluxFM
'Futuristisches Crossover zwischen Gaming und Literatur'
Funkhaus Europa
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Aus dem Englischen von
Dirk Höfer Meine Erinnerung an Deception Island ist kaum anders als die Insel selbst. Über der Antarktischen Halbinsel gelegen, ist sie eine kleine abgeschiedene Landmasse, die wie ein Kreis geformt ist. Das heißt: eine Null. Aber nicht völlig geschlossen. Durch einen engen Kanal gibt es Zugang zu einem sicheren Hafen, an dem norwegische Walfänger einst zwischen Gletschern und einem Vulkan lebten, wo sie sich von Zügelpinguinen und deren Eiern ernährten und Wasser aus den Flechten saugten, wenn die Vorräte knapp wurden. Wenn ich heute die Eisschichten wegkratze, die die Jahre zwischen mir und dem Spiel abgelagert haben, erscheinen Blau- und Grautöne, vernebelt und undeutlich. Aber es ist immer da. Dieses Gefühl. Wie eine Spinnwebe, die unbemerkt an meiner Wange haftet. Das hat mit den Umständen zu tun, unter denen ich das Spiel kennenlernte. Meine Weisheitszähne waren gezogen worden, und der Zahnarzt hatte mir Demerol verschrieben. Ich war gerade zwölf Jahre alt, und das Medikament legte mich lahm. Es schuf eine zuckende Dumpfheit, warm und unwirklich, als ob ein Schwarm Quallen durch mein Nervensystem schwömme. Da ich mit meinen tamponierten Backen kaum essen oder trinken oder sprechen konnte, tat meine Mutter, was sie konnte, um mich mit allem, was mir sonst so gefiel, zu verwöhnen. Auf meine Bitte hin, die ich auf die Apothekenquittung kritzelte, holte sie meinen besten Freund Ioannis ab und besorgte einige Computerspiele aus der Videothek. Da wir damals nur wenig Geld hatten, musste auch die Konsole gemietet werden. Dieses Privileg, das eigentlich Geburtstagspartys oder den Nächten vorbehalten war, in denen meine Mutter nicht vor dem frühen Morgen zurückzukehren beabsichtigte, bestärkte meinen Verdacht, dass die Operation und der erlittene heftige Blutverlust eine ernste Sache darstellten und mehr als ungewöhnlich waren, obwohl meine Mutter beharrlich das Gegenteil behauptete. Als Ioannis und meine Mutter mit der Konsole eintrafen, war ich wie von Sinnen, euphorisch und redete was weiß ich was daher. Es muss etwas leicht Beschämendes gewesen sein, denn ich spürte, wie meine Wangen rot wurden. Was auch immer es war, ich erinnere mich, wie Ioannis die Gesichtszüge entglitten, als er Blut aus meinem Mundwinkel rinnen sah. Meine Mutter wischte es weg und beschwichtigte Ioannis, dass ich dieses Wochenende wohl nicht ganz bei mir sei, er sich aber vor nichts zu fürchten brauche. Ioannis lachte nervös, fragte mich dann, wie es mir ginge. Ich murmelte irgendwas und zeigte dann auf den Nintendo. Meine Mutter meinte zu mir, ich müsse die Watte in meinem Mund wechseln, und sagte Ioannis, er möge sich doch von der Pizza auf dem Tisch nehmen. Sie führte mich ins Badezimmer und fragte nach meinem Schmerzlevel. Sieben, sagte ich. Sieben war meine Lieblingszahl. Das bedeutete, sie würde die orange Flasche öffnen und die Tablette nicht in zwei Hälften brechen. Sie würde sie mir zusammen mit einem Glas Wasser als ganze verabreichen. Es bedeutete zudem, dass sie keinen Arzt rufen würde. Ich hatte einmal den Fehler gemacht, neun zu sagen, und bekam danach vom Assistenten des Arztes einen Rüffel, weil ich zu viel Medikamente genommen hatte. Nachdem die frischen Wattekissen eingesetzt waren, gingen wir in die Küche zurück. Ioannis machte sich gierig über die Pizza her. Die nächste halbe Stunde sah ich ihm neidisch zu, während ich an einem einzigen Stück Käse hing, das ich noch nicht einmal ganz schaffte. An diesem Wochenende mit viel zu wenig Schlaf schafften wir nur eine einzige Sache. Die ganze Zeit ließen wir uns von fantastischen, leeren Vergnügungen bespaßen und verließen das Wohnzimmer nur, um unseren Bedürfnissen nachzukommen. Das Zimmer war zu einer Art Krankenstation umgestaltet worden, denn ich mochte lieber in einem Bett – in diesem Fall die ausgezogene Couch – gesund werden, das nicht mein eigenes war. Zusammen sollten Ioannis und ich darin schlafen, aber stattdessen benutzten wir es als Schlachtfeld. Meine Mutter ließ uns allein. Wir schoben eine Kassette ein, die sie für die Konsole ausgesucht hatte, obwohl wir wussten, dass das Spiel unter unserem Niveau war. Es basierte auf einer Zeichentrickserie, die wir beide ansahen, obwohl wir vorgaben, es nicht zu tun. Sie musste es ausgewählt haben, weil sie die Figuren wiedererkannt hatte. Das Spiel war für Vierjährige konzipiert, bald langweilten uns die einfachen Memory-Aufgaben und die Songs in 8-Bit-Qualität. Wir spielten ein Spiel nach dem anderen, aber so richtig Spaß machte das nicht. Meine Mutter kam herein und fragte, was sie noch für uns tun könne. Ich tat so, als litte ich Höllenqualen und meinte, wir bräuchten neue Spiele. Was ich sagte, blieb unverständlich, und Ioannis lachte über den Unsinn, der zwischen meinen Lippen hervorquoll. Ich schrieb auf ein Stück Papier, dass die Spiele unerträglich seien. Meine Mutter entschuldigte sich wie immer. Sie sagte: Das Leben ist ein Hornissennest. Sie hätte ja niemals auf den Rat des hinterhältigen Verkäufers gehört, hätte ich ihr nur gesagt, was ich wolle. Ich schrie, dass ich das sehr wohl getan, sie aber nicht zugehört habe. Kein Mensch konnte verstehen, was ich sagte, nicht einmal ich selbst. Eine komische Empfindung lenkte mich ab. Meine Haut fühlte sich heiß an, dumpf. Als ob die Sonne in mir drin sei. Herumwirbelte. Halbherzig bot meine Mutter an, mehr Spiele zu holen. Und bevor ich niederschreiben konnte, dass dies eine tolle Idee sei, hatte Ioannis schon gesagt, wir sollten erst noch Deception Island ausprobieren. Ich stimmte zu; versuchte die Irritation zu verbergen, dass er mir in den Rücken gefallen war. Meine Mutter fragte nach dem Schmerzlevel und ich hielt nochmals sieben Finger in die Höhe, sie sagte, ich müsste noch zwei Stunden, vielleicht mehr, warten. Das Zimmer schwankte. Ich schob das Spiel in den Schlitz, ohne viel zu erwarten. Wenn ich mich recht erinnere, wurde die Eröffnungssequenz mit zuversichtlich gestimmter Musik untermalt. Aus der Vogelperspektive war zu sehen, wie ein Kreuzfahrtschiff, das für Whale Watching ausgelegt war, durch Gletscher steuerte. Ich glaube, in einiger Entfernung tauchte ein Wal auf und zugleich brauste Applaus los. Dann verdunkelte sich der Himmel und eine bedrohliche Musik erklang. Die See wurde rau und man konnte hören, wie Menschen sich übergaben. Eine Figur, grün im Gesicht, füllte den Bildschirm. In ihren Pupillen spiegelte sich das aufgewühlte Wasser. Ioannis meinte, das sehe vielversprechend aus, aber mich erinnerte es an die von den Schmerzmitteln verursachte Übelkeit – es handelte sich nämlich um meinen ersten Ausflug in diese Welt des Abgleitens mit ihrem Versprechen auf Erlösung. Ich spuckte die Watte aus und befühlte die Stiche mit der Zunge. Es gab eine Sturmsequenz. Plötzlich war eine Stimme zu vernehmen, vermutlich die des Kapitäns. Er wird wohl gesagt haben, dass man auf Deception Island anlegen müsse, aber ich kann mich nicht richtig daran erinnern. Ich bin jedoch sicher, dass er die Crew anwies, die Zodiac-Boote klarzumachen, denn dieses Wort hatte eine elektrisierende Aura für mich; es erinnerte mich an den Zodiac-Killer, jenen Serienmörder, den meine Mutter so fürchtete und dessen Identität bis heute nicht gelüftet ist. Ich erinnere mich, dass kurz darauf eine Aufnahme dieser kleinen, gelben Boote zu sehen war, während im Hintergrund der Vulkan seinen Missmut zeigte. Es war wie eine Warnung. Dann war zu sehen, wie das Schiff durch die Neptuns Blasebalg genannte Meerenge in den Port Foster steuerte. Wir schauten zu, wie das Boot sich vom Kratersee wegbewegte in Richtung Telefon Bay und Goddard Hill, alle Landmarken erschienen in gelben Aufschriften. Ich habe später zahllose Videos gesehen über die riesigen Walkessel auf der Insel, in denen das Öl aus dem Walfang gelagert wurde, und die Löcher, mit denen die Briten sie versahen aus Angst, die Nazis könnten sie als Brennstofftanks verwenden, und lernte so die bewegte Geschichte der Insel kennen, die auf Wissenschaft, Militär und Tourismus basierte. Ein Schiffskamerad auf der Mattscheibe berichtete uns, der Vulkan sei wieder aktiv und das Wasser so heiß, dass es den Schiffsanstrich angreife. Doch der Kapitän beharrte auf dem Standpunkt, dass das Schiff anlegen müsse, da es nur auf dem trockenen Land Hoffnung gebe. Dann klang die Musik immer mehr wie die in Thrillern und ein Killerwal sprang unpassenderweise über den Bildschirm. Nach dem elektronisch erzeugten Aufklatschen des Wals waren nun Pinguine zu sehen, die an der Küste tanzten. Bis auf das Schiff war diese sonst leer. Der Schriftzug „Deception Island“ erschien, aus dampfenden Eiszapfen gesetzt. „Start“ blinkte auf. Ich drückte auf Enter und die Pinguine krächzten. Ich fragte Ioannis, was er denn von dem Anfang halte, und er meinte: Mal schauen. Ich war über mein Interesse selbst erstaunt. Nun wurden wir in Matrosen verwandelt. Anscheinend waren wir in der Zeit zurückgereist und nicht länger Touristen, sondern Arbeiter. Mit einem verpixelten roten Halstuch, einer blauen Jacke und weißen Kniehosen angetan, stellten wir einen kleinen Punkt in der weißen Unfassbarkeit der Antarktis dar. Die Kamera fuhr nahe an uns heran und zeigte, wie wir in Richtung der kleinen Bucht Pendulum Cove, dem Ziel unserer Reise, schauten. Der Kapitän, dessen Stimme nun rasselte, befahl uns, das Dingi-Beiboot klarzumachen und nach dorthin überzusetzen. Das Szenario flackerte kurz und wir befanden uns in dem kleinen Boot. Wir wurden angewiesen, die Beute des Tages abzuladen und sahen, dass zu unseren Füßen graue Gegenstände lagen. Weitere Anweisungen waren nicht nötig. Wir hoben die grauen Kleckse mit der B-Taste auf, sprangen aus dem Boot mit der A-Taste, gingen dann zu...