E-Book, Deutsch, 428 Seiten
Böttinger / zu Putlitz Die Zukunft der Medizin
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-95466-480-1
Verlag: MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Disruptive Innovationen revolutionieren Medizin und Gesundheit. Mit einem Geleitwort von Hasso Plattner
E-Book, Deutsch, 428 Seiten
ISBN: 978-3-95466-480-1
Verlag: MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
M. Aach | R. Averill | G. Barreto | E. Böttinger | M. Braun | D. Champeaux | A. Cornejo Müller | P. Dabrock | I. de Cremoux | J. Deerberg-Wittram | L. Determann | H. Estiri | T. Ganslandt | T. Gayvoronskaya | A. Gharabaghi | J. Graalmann | D. Grasmücke | P. Haas | R. Herzog | M.C. Hirsch | J. Jacubeit | D. Jäger | C. Johner | J.N. Kather | J.G. Klann | F. Knieps | J.C. Kvedar | M.D. Majmudar | C. Meinel | A. Mühle | S. Müllauer | S.N. Murphy | M. Müschenich | R. Novak | H. Pak | R. Philipp | M. Pogorzhelskiy | F. Post | J. Pratschke | H.-U. Prokosch | J. zu Putlitz | M. Queisner | L. Reisman | R. Rittweger | T. Rödiger | I.M. Sauer | S. von Schorlemer | S. Schürle-Finke | M. Sedlmayr | A. Stett | K.B. Wagholikar | L. Wamprecht | C.-C. Weiß
Zielgruppe
alle Akteure in Heilberufen: Ärzte, Pflegende und andere Medizinberufe;Management (ärztliche, pflegerische und kaufmännische Leitungsebene) in Krankenhaus, stationärer Versorgung und allen Gesundheitseinrichtungen; Entscheider und Gestalter in Politik, Selbstverwaltung, Krankenkassen und Gesundheitswirtschaft; interessierte Öffentlichkeit, Fach-Journalisten; Patienten, Patienten-Organisationen, Interessensvertretungen; Studierende der Medizin, Pflege, Psychologie und anderer Gesundheitsberufe sowie Gesundheitsökonomie, Public Health
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
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Netflix, Nudging, Netzwerke – Die Zukunft der Versorgung chronisch kranker Menschen
Jasper zu Putlitz
Chronische Erkrankungen fordern unser Gesundheitssystem
Chronische Erkrankungen sind eine der größten Herausforderungen für das Gesundheitssystem. Sie entziehen sich einer Behandlung, die unmittelbar auf Heilung und nachhaltige Beseitigung der Beschwerden abzielt. Gleichzeitig führen sie zu Folgeerkrankungen, an denen viele Patienten versterben. Die Kosten für das Gesundheitssystem sind immens.
Nach Expertenschätzungen werden heute 75 bis 80 Prozent der Ausgaben im Gesundheitswesen durch chronische Erkrankungen verursacht.
Viele chronische Erkrankungen sind hinsichtlich ihrer genauen Ursachen bis heute noch nicht vollständig erforscht, beispielsweise Alzheimer, Parkinson, Lupus Erythematodes, Morbus Crohn, Osteoarthritis, chronisch-obstruktive Lungenerkrankung (COPD), Asthma und Multiple Sklerose. Für diese Erkrankungen existieren bisher keine auf die Beseitigung der Ursachen abzielende Therapien, lediglich Symptome oder das Voranschreiten können gemildert oder beseitigt werden. Eine Erwartung an die Zukunft ist, dass die Ursachen, die zu diesen komplexen Krankheitsbildern führen, aufgeklärt werden. Durch Einfluss genetischer Faktoren und Umweltfaktoren wird die Diagnostik und Therapie dieser Erkrankungen sehr komplex sein. Ein multidisziplinärer Therapieansatz ist erforderlich (Christensen et al. 2008). Das heißt: Ärzte und Therapeuten verschiedener Fachrichtungen und Subspezialitäten müssen intensiv zusammenarbeiten, um den besten Diagnoseansatz und die bestgeeignete Therapie und Versorgung für den jeweiligen Patienten zu finden und umzusetzen.
Manche chronischen Erkrankungen sind hinsichtlich ihrer Ursachen besser (wenn auch noch nicht vollständig) erforscht. Dazu gehören Stoffwechsel-Erkrankungen wie Typ-1- und Typ-2-Diabetes, Hypercholesterinämie oder Hyperlipidämie, Infektionskrankheiten wie HIV/ AIDS (früher tödlich, heute oft chronisch) oder chronische Hepatitis B und Organerkrankungen wie die koronare Herzkrankheit oder Herzrhythmusstörungen. Für diese Erkrankungen existieren Therapiestandards. Manche dieser Erkrankungen sind inzwischen heilbar.
Dennoch stehen wir bei vielen chronischen Erkrankungen vor erheblichen Herausforderungen. Denn gerade die nicht übertragbaren Erkrankungen wie Diabetes mit Folgeerkrankungen, chronische Herzinsuffizienz und chronisch-obstruktive Lungenerkrankung (COPD), auf die sich dieser Beitrag fokussiert, nehmen stark zu und haben sich zu einem wesentlichen Kostentreiber im Gesundheitswesen entwickelt. Fehlernährung, Übergewicht, Rauchen und übermäßiger Alkoholgenuss sind die Hauptrisikofaktoren. Bei den genannten Erkrankungen bestehen zwei besondere Herausforderungen:
Erstens treten Krankheitsfolgen meist erst mit erheblicher zeitlicher Latenz auf.
Zweitens ist der Verlauf sehr stark vom Verhalten des Patienten und seinem Umgang mit der Erkrankung und ihrer Therapie abhängig.
Dieser Beitrag will zeigen, wie sich die Versorgung von Menschen mit chronischen, nicht übertragbaren Krankheiten in Zukunft verbessern kann. Dabei geht es hier nicht nur um Patienten, ihre Leiden und ihre dadurch eingeschränkte Lebenserwartung. Eine deutliche Verbesserung der Versorgung chronisch kranker Menschen ist ein Imperativ für die Medizin im 21. Jahrhundert, denn die finanzielle Belastung für Gesundheitssysteme in der westlichen Welt (beispielsweise Europa, USA), zunehmend aber auch für die Versorgung in Ländern wie China und Indien (The Economist 2018), ist immens. Wenn die Versorgung chronisch kranker Menschen in Zukunft nicht fundamental verbessert wird, gerät die Leistungsfähigkeit unserer Gesundheitssysteme an ihre Grenzen – schneller als wir denken.
Chronisch Kranke werden mit ihren Problemen heute oft alleingelassen
Bei Martin S., einem 57-jährigen Familienvater und Buchhalter eines kommunalen Entsorgungsunternehmens wird im Rahmen einer Routineuntersuchung ein erhöhter Blutzuckerwert festgestellt. Die weitere Abklärung bestätigt die Diagnose eines manifesten Typ-2-Diabetes. Zudem fallen erhöhte Blutdruckwerte auf. Wie lange Diabetes und Hypertonie schon bestehen, ist nicht bekannt. Vor 4 Jahren hatte Martin S. mit dem Rauchen aufgehört, vorher hatte er seit seinem 18. Lebensjahr 1–2 Packungen pro Tag geraucht. Der aktuell bestimmte HbA1c-Wert, ein Marker für chronisch erhöhte Blutzuckerwerte, ergibt einen deutlich erhöhten Wert, was auf eine länger andauernde diabetische Stoffwechsellage hindeutet. Martin S. hatte über die letzten Jahre hinweg kontinuierlich Gewicht zugenommen, bei einer Größe von 1,78 m wiegt er aktuell 89 kg und weist damit einen Body-Mass-Index von 28 auf. Sein Hausarzt verordnet ihm ein orales Antidiabetikum und einen Blutdrucksenker und empfiehlt mehr Bewegung und eine Ernährungsberatung. In 3 Monaten soll Martin S. sich wieder zur Kontrolle vorstellen. Beschwerden hat Martin S. nicht. Die Medikamente nimmt er ein, zur Ernährungsberatung geht er, aber die dort vermittelten Vorschläge für die Umstellung der Ernährung findet er nicht besonders praktikabel, sie scheinen nicht zu seinem von ihm als „stressig“ empfundenen Berufsalltag zu passen. Er stellt seine Ernährung folglich nicht um. Seiner Frau erzählt er nur von der Diagnose, praktische Implikationen jenseits der neu einzunehmenden Medikamente und „dass man bei der Ernährung ein bisschen aufpassen müsse“ werden nicht besprochen. Mehr Bewegung im Alltag setzt er ebenfalls kaum um, ab und zu nimmt er jetzt an seinem Arbeitsplatz im Bürogebäude die Treppe. Im Wesentlichen geht alles weiter wie bisher. Nach 3 Monaten wird der HbA1c-Wert kontrolliert, er ist weiterhin zu hoch. Der Hausarzt steigert die Dosis des oralen Antidiabetikums. Als nach weiteren 3 Monaten immer noch keine Verbesserung eintritt, verordnet der Hausarzt zusätzlich Insulin. Damit verbessern sich die Blutzuckerwerte vorübergehend etwas. Martin S. führt die medikamentöse Therapie fort.
7 Jahre später: Martin S., jetzt 64 Jahre alt, hat das Angebot seines Arbeitgebers, sich vorzeitig pensionieren zu lassen, angenommen. Er hat weiterhin starkes Übergewicht. In letzter Zeit empfindet er Kurzatmigkeit. Sein Hausarzt untersucht ihn und überweist ihn zum Kardiologen. Der stellt eine Herzinsuffizienz fest und beginnt eine medikamentöse Therapie. Damit geht es Martin S. besser. Vor kurzem hatte er nachts große Atemnot, seine Frau fuhr ihn in die Notaufnahme des nahegelegenen Krankenhauses, wo er medikamentös stabilisiert und zur Beobachtung stationär aufgenommen wurde. Seine Diabetes-Medikation wurde im Rahmen des stationären Aufenthaltes umgestellt, da die Blutzuckerwerte auffallend hoch waren. Nach mehreren Tagen Krankenhausaufenthalt wird Martin S. entlassen, versehen mit dem Hinweis, dass er sein Gewicht täglich messen und nachts mit erhöhtem Oberkörper schlafen solle. Martin S. schreibt fortan seine Gewichtswerte in sein Diabetiker-Tagebuch neben die Blutzuckerwerte – das Buch zeigt er seinem Hausarzt alle drei bis vier Wochen beim Arztbesuch. Dieser wirft einen kurzen Blick auf die Werte, untersucht ihn körperlich, misst die relevanten Laborwerte und trägt sie in sein Praxisverwaltungssystem ein.
Zukünftig starke Zunahme chronischer Erkrankungen – Eine Kostenwelle rollt auf uns zu
Martin S. ist kein Einzelfall. In Deutschland und weltweit gibt es Millionen von Menschen mit chronischen Erkrankungen. Zudem steigen die Zahl der Erkrankten und die Kosten seit Jahren stark an, wie am Beispiel von drei wichtigen chronischen Erkrankungen verdeutlicht wird:
Chronische Herzinsuffizienz (CHF): In Deutschland leben geschätzt mindestens 3,5 Millionen Menschen mit CHF (Tiller et al. 2013; Stork et al. 2017), davon sind ca. 2,6 Millionen diagnostiziert. Jedes Jahr kommen schätzungsweise 275.000 Personen hinzu (Nationale Versorgungsleitlinie Chronische Herzinsuffizienz 2017). Die Erkrankungshäufigkeit der Herzinsuffizienz nimmt seit Jahren zu, sie ist die inzwischen häufigste Einzeldiagnose von vollstationär behandelten Patienten (Deutscher Herzbericht 2017). 2016 wurden knapp 430.000 Patienten in Deutschland mit Hauptdiagnose Herzinsuffizienz stationär versorgt. Knapp 50.000 Patienten verstarben (Deutscher Herzbericht 2017). CHF und Folgeerkrankungen verursachen in Deutschland direkte Kosten von mindestens 5 Mrd. EUR im Jahr1. Weltweit sind mindestens 26 Millionen Menschen von Herzinsuffizienz betroffen (Savarese u. Lund 2017). Die weltweiten jährlichen Gesamtkosten werden auf knapp 110 Mrd. US-Dollar geschätzt (Cook et al. 2014).
Chronisch-obstruktive Lungenerkrankung (COPD): In Deutschland leben mindestens 7 Millionen Menschen mit COPD, davon sind ca. 4 Millionen diagnostiziert. Jährlich kommen etwa 50.000 Menschen hinzu. Für 2030 wird mit ca. 8 Millionen Personen gerechnet, die an einer COPD leiden. Weltweit leben schätzungsweise 250–400 Millionen Menschen mit COPD. 3,2 Millionen Menschen starben 2015 weltweit an den Folgen. Achtmal mehr Menschen sterben an COPD im Vergleich zu Asthma (GBD Chronic Respiratory Disease Collaborators 2017). Der Großteil der COPD-Fälle ist durch Rauchen verursacht. COPD und Folgeerkrankungen verursachen in Deutschland direkte Kosten von mindestens 14 Mrd. EUR im Jahr (Aumann u. Prenzler 2013; Wacker et al. 2016). Nach aktuellen Schätzungen der WHO wird die COPD bis zum Jahr 2050 zur weltweit...