Borbé / Bormuth / Heinz | Gemeindepsychiatrie | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 113 Seiten

Borbé / Bormuth / Heinz Gemeindepsychiatrie

Theorie - Geschichte - Standortbestimmung

E-Book, Deutsch, 113 Seiten

ISBN: 978-3-17-039188-8
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Die Gemeindepsychiatrie ist ein fest verankerter Teil psychiatrischer Versorgung. Doch was steht hinter diesem Konstrukt, das maßgeblich von der Sozialpsychiatrie beeinflusst wurde? Ist die Gemeindepsychiatrie komplementär zur Krankenhauspsychiatrie oder verhält sich dies nicht genau umgekehrt? Dieser Band nähert sich dem Begriff aus unterschiedlichen Sichtweisen und bietet eine zeitgemäße Definition. Vor dem Hintergrund einer personenzentrierten Behandlung in der Psychiatrie wird die Gemeindepsychiatrie in den Mittelpunkt einer funktionalen Betrachtungsweise des Versorgungssystems gestellt. Prinzipien und Versorgungsstrukturen moderner Gemeindepsychiatrie werden dargestellt und kritisch hinterfragt.
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3 Gemeindepsychiatrie und Sozialpsychiatrie
Sind Sozialpsychiatrie und Gemeindepsychiatrie nicht dasselbe? Oder ist Gemeindepsychiatrie nicht einfach praktizierte Sozialpsychiatrie (Brückner 2012)? Vieles spricht dafür, aber genau deswegen widmet sich dieses Kapitel dem Versuch, die beiden Begriffe in ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden besser voneinander abgrenzen zu können. Vorweg kann schon festgestellt werden, dass wenige Diskurse über die Definition eines Begriffs derart ideologisch geführt werden, wie der über die »Sozialpsychiatrie«. Was schon einen ersten Hinweis gibt, der einen Unterschied zur Gemeindepsychiatrie ausmachen könnte. 3.1 Das Soziale in der Psychiatrie
Am Anfang der Entwicklung der institutionellen Psychiatrie standen soziale Motivationen (Eikelmann 1997). Die Befreiung der psychisch Kranken von ihren Ketten durch Philippe Pinel und seine Mitstreiter (ebd.) war vor allem auch eine Befreiung aus unsozialen Verhältnissen. Wenngleich dies sicher nicht die einzigen Beweggründe waren, hatten das Zeitalter der Aufklärung und die Französische Revolution die Bedeutung sozialen Handelns gestärkt (ebd.). Mehr als 100 Jahre später definierte Max Weber soziales Handeln wie folgt: »Handeln soll [...] ein menschliches Verhalten heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ›Soziales‹ Handeln soll aber ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und darin in seinem Ablauf orientiert ist« (Weber 1976, S. 1). »Sozial« charakterisiert damit die gegenseitige Bezugnahme der Individuen einer Gesellschaft, kurz das Zusammenleben in der Gesellschaft, einer Gemeinschaft. Seit dieser Definition aus dem Jahr 1922 aber auch bereits zuvor erfuhr der Begriff des »Sozialen« eine sehr politische Konnotation. Das ist naheliegend, weil unsoziale Verhältnisse in vielerlei Hinsicht benannt und kritisiert wurden, was zu einer Stärkung der Arbeiterschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führte. Der Erfolg der Sozialdemokratie schien der Reichsregierung unter Kanzler Bismarck derart bedrohlich, dass ein Attentat auf Kaiser Wilhelm I. zum Anlass genommen wurde, das »Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der deutschen Sozialdemokratie« (1878) in den Reichstag zur Abstimmung zu bringen. Von 1878 bis 1890 sollte das Gesetz nach viermaliger Verlängerung sozialistischen Umtrieben Einhalt gebieten (Görtemaker 1989). Bismarck selbst hatte die Bedeutung der sozialen Frage aber längst erkannt und nach der ernüchternden Reichstagswahl 1881 mit der Sozialgesetzgebung begonnen. Der Begriff des »Sozialen« war mitten in der Politik angekommen und »Widerstand gegen die Folgen sozialen Wandels im Koordinatensystem des Rechts-Links-Schemas in der Regel eher nach links gerichtet« (Leggewie 1998, S. 131). Auch in der Psychiatrie dieser Zeit gab es ein zunehmendes Interesse am »Sozialen«, jedoch war dies fachlich begründet gewesen, vor allem ätiopathogenetisch, um krankheitsauslösende Faktoren zu finden. Den Terminus Sozialpsychiatrie führte schließlich Georg Illberg 1904 in der Psychiatrie ein und beschrieb damit »die Lehre von den sozialen Umständen, die für die geistige Gesundheit verderblich sind« (Schott und Tölle 2006, S. 200). Max Fischer prägte 1919 die Feststellung »ohne soziale Psychiatrie keine Psychiatrie« und sah die soziale Psychiatrie im Rahmen einer sozialen Hygiene und allgemeinen Wohlfahrtspflege (Fischer 1919). Dies findet mehr als 50 Jahre später seine Fortsetzung in den präventiven Ideen der frühen Gemeindepsychiatrie in Deutschland (vgl. Dörner et al. 1979). Zunächst aber verlor sich der sozialpsychiatrische Gedanke und wich vor allem in Deutschland »der dominierenden biologistischen Lehre und Rassenhygiene« (Schott und Tölle 2006, S. 201). Das war vor allem in den anglo-amerikanischen Ländern anders. Die berühmte Studie von Robert Faris und Warren Dunham, die in Chicago durchgeführt und 1939 publiziert wurde, gilt als erste epidemiologische Studie weltweit, die den Zusammenhang zwischen der Auftretenswahrscheinlichkeit einer schizophrenen Psychose und dem Leben in einer prekären, deprivierten Umgebung zeigen konnte (Faris und Dunham 1939). Als Erklärung konkurrierten danach die »social shift»- und die »social drift«-Hypothese, d. h. einerseits die Entstehung einer Schizophrenie durch ungünstige Lebensumstände, andererseits der soziale Abstieg, die soziale Selektion durch die Psychose. Heinz Schott und Rainer Tölle interpretieren in ihrer Geschichte der Psychiatrie die Sozialpsychiatrie im Weiteren als Wechselwirkung zwischen Soziologie und Psychiatrie, sowohl was Theorie und Kritik, als auch Forschung und Anwendung angeht (ebd., S. 202/203). Mit den Psychiatriereformen in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts bekam die Sozialpsychiatrie dann doch eine deutliche politische Färbung, da sie vor allem in Europa im Fahrwasser der 1968er Bewegung einen Aufschwung erlebte und so auch in der Öffentlichkeit Beachtung fand. Ein prägnantes Beispiel in der damaligen Zeit ist das Sozialistische Patientenkollektiv Heidelberg (Pross 2016). Sozialpsychiater, wie der Brite John K. Wing, interpretierten wenige Jahre später Verrücktheit im 17. Jahrhundert als Methode, sich frei äußern zu können, als Protest gegen soziale Normen (Wing 1982, S. 2). Abweichende politische Standpunkte könnten aber auch »bis zum Reformierungswahn ausarten« (ebd., S. 4). Schaut man sich nun die von den Autoren beschriebenen »aktuelle?[n] soziologisch-psychiatrischen Themen« (Schott und Tölle 2006, S. 203) an, so ergibt sich einerseits das klassische Arbeitsfeld gemeindepsychiatrischer Arbeit, wie von Eikelmann mit den vier Funktionsbereichen des täglichen Lebens skizziert (Eikelmann 1997). Andererseits kann man rückblickend feststellen, dass nach der Publikation dieser Psychiatriegeschichte durchaus wegweisende Forschung in diesem Bereich stattgefunden hat, die aber im Vergleich zur biologischen und Psychotherapieforschung fast marginal erscheint. Schott und Tölle ziehen 2006 eine nüchterne Bilanz: »Inzwischen gibt es kaum mehr eine kritische Diskussion über ›Sozialpsychiatrie‹; der Terminus verflüchtigt sich allmählich aus dem psychiatrischen Vokabular« (ebd., S. 205). 3.2 Sozialpsychiatrie heute
Die Sozialpsychiatrie nimmt soziale Faktoren in den Fokus, die mit der Entstehung und Entwicklung psychischer Störungen zu tun haben (Gruber et al. 2018, S. 6). Sie befasst sich mit der Verbreitung psychischer Störungen (Epidemiologie), Versorgung und Versorgungsstrukturen, konkreter Behandlungs- und Rehabilitationsformen und deren Finanzierung, den sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen und mit Prävention und Gesundheitsförderung (ebd.). Auf Ebene der Betroffenen konzipiert sie bedarfsgerechte Hilfen, analysiert Lebensumfeld, Wohn- und Arbeitssituation und leitet daraus eine angemessene Behandlung ab, achtet darauf, Fremdbestimmung zu vermeiden und bezieht Betroffene mit ein, die selbst auf Erfahrungen mit psychischen Krisen zurückgreifen können (Clausen und Eichenbrenner 2010, S. 10). Ganz besonders betonen Jens Clausen und Ilse Eichenbrenner die Bedeutung trialogischer Arbeit: »Soziale Psychiatrie ist also keineswegs eine Angelegenheit der Professionellen allein – im Gegenteil, sie entwickelt nach Möglichkeit die Konzepte, Hilfeformen und Einrichtungen gemeinsam mit den Psychiatrie-Erfahrenen und den Angehörigen« (ebd., S. 10). Viele dieser Themen erscheinen heute selbstverständlich in der psychiatrischen Alltagspraxis, sind integriert in Therapieverfahren, Versorgungsstrukturen und Behandlungsprozessen. Gerade darin liegt die historische Bedeutung der Sozialpsychiatrie, da durch diese ein Veränderungsdruck aufgebaut wurde. Eikelmann stellt fest: »Sozialpsychiatrie als Sichtweise beinhaltet zunächst ein Konzept psychischer Krankheit und des psychisch Kranken im sozialen und ökologischen Kontext« (Eikelmann 1997, S. 1). Die Bezeichnung als Sichtweise erhöht den Druck auf den einzelnen Therapeuten, da dieser, will er das Lebensumfeld seines Patienten, moderner ausgedrückt seine Teilhabedefizite, aber auch seine Ressourcen mit einbeziehen, eine sozialpsychiatrische Sichtweise einnehmen muss. Dass er dabei auch, für die psychische Störung seines Patienten maßgebliche pathogenetisch wichtige Umweltfaktoren identifiziert, liegt in der Natur der Sache. Eikelmann konstatiert daher auch, dass die sozialpsychiatrische Sichtweise »psychologische und biologische Konzepte [ergänzt]« (ebd., S. 1). Der Dreiklang dieser Konzepte wird nicht selten als Säulenmodell der Psychiatrie in Lehrbüchern dargestellt oder, noch viel prominenter, als bio-psycho-soziales Krankheitsmodell (Ghaemi...


Dr. med. Raoul Borbé, MHBA, Psychiater und Psychotherapeut, leitet in Ravensburg am ZfP Südwürttemberg die gemeindepsychiatrischen Angebote und die Psychiatrische Institutsambulanz der Klinik I für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Ulm. Seit 2013 steht er dem Referat Gemeindepsychiatrie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) vor.


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