E-Book, Deutsch, 132 Seiten
Bordat Corona und Klima
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-347-28208-7
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Zur Deutung des Wandels
E-Book, Deutsch, 132 Seiten
ISBN: 978-3-347-28208-7
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Dr. phil., Dipl.-Ing., M.A., Jg. 1972, kath., verh. - Studium des Wirtschaftsingenieurwesens, der Soziologie und der Philosophie in Berlin und Arequipa/Perú. Josef Bordat lebt in Berlin und arbeitet als freier Publizist.
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„Und dann kam Corona…“
Eine ganz kurze Einführung ins Krisengeschäft
1. Seit gut einem Jahr hat sie uns im Griff, die Corona-Pandemie.1 Corona – Sie werden es nicht mehr hören können, ich kann es auch nicht mehr hören. Aber die Pandemie ist Teil unserer neuen Realität. Sie gesellt sich als Krisengestalt zu einem Phänomen, dass uns schon vor Corona beschäftigte und das uns noch länger beschäftigen wird als die Pandemie, deren Ende absehbar ist. Ich meine den Klimawandel. Und als sei das nicht genug, geht der „ganz normale Wahnsinn“ weiter: Kriege, Terrorismus, Naturkatastrophen.
Seit gut einem Jahr gibt es aber nur noch ein beherrschendes Tema: Corona oder COVID-19. Die Corona-/COVID-19-Pandemie ist nach der Russischen Grippe (1889-1890), der Beulenpest (1894-1912), der Spanischen Grippe (1918-20), der Asiatischen Grippe (1957-1958), der Siebten Cholera-Pandemie (1961-1990), der Hongkong-Grippe (1968-1970), der neuen Russischen Grippe (1977-1978), AIDS (seit 1980) und diversen weltweiten Virusgrippewellen (1995-1996, 2004-2005, 2009-2010, 2017-2018, 2019-2020), die mehr oder weniger glimpflich verliefen, eine besonders schlimme globale Pandemie, mit einem hochansteckenden, aggressiven Erreger aus der Familie der Corona-Viren (SARS-CoV-2), der schwere Erkrankungen der Atemwege, der Bronchien und der Lunge hervorrufen kann, die in etwa jedem fünfzigsten Krankheitsfall tödlich verlaufen.
Es ist die erste globale Pandemie des 21. Jahrhunderts mit mehr als einer Million Todesfällen2, bei mittlerweile wohl mehr als 100 Millionen Infizierten3. Die Corona-Pandemie stürzte die Weltwirtschaft und die westlichen Gesellschaften in eine tiefe soziale und politische Krise. Von daher ist auch oft von der Corona-Krise die Rede. Es ist nicht die erste Krise und sicher auch nicht die letzte, die wir gemeinsam durchleben müssen. Ohnehin scheinen wir uns von einer (vermeintlichen) zur nächsten (tatsächlichen) Krise zu hangeln. Finanz-, Flüchtlings-, Klima-, Bildungs-, Kirchen-, Corona-Krise. Der Krisenmodus ist das neue Normal im 21. Jahrhundert.
Und eins steht – wie schon angedeutet – fest: Nach der Corona-Krise kommt die Klima-Krise mit voller Wucht zurück. Es ist dies wohl auch die einzige Krise, die das 21. Jahrhundert komplett begleiten wird – alle anderen Krisen sind temporäre Erscheinungen. Die Klimakrise spitzt sich zu. 2020 lag die Durchschnittstemperatur zwei Grad über dem Normalwert der letzten 200 Jahre. Die Klimaziele konnten zwar eingehalten werden, weil alles, was sonst viel CO2 ausstößt (der Flugverkehr etwa), deutlich heruntergefahren wurde, aber nachhaltige Veränderungen lassen immer noch auf sich warten. 2020 war auch das Jahr, in dem der Berliner Großflughafen BER eröffnet wurde (mit mehr als acht Jahren Verspätung).
Was für den Moment in der Rückschau der letzten Monate bleibt, ist eine tiefgreifende Ambivalenzserfahrung angesichts der Gleichzeitigkeit von Egoismus und Solidarität, Zerrüttung und Zusammenhalt. Klopapier- und Nudelhamster, junge Menschen, die den älteren Nachbarn ihre Hilfe beim Einkaufen anbieten, Corona-Demos, die alle Regeln mit Füßen treten, Forscher im 24/7-Modus auf der Suche nach einem Impfstoff – all das geschah gleichzeitig. Nun setzt sich unter diesen gesellschaftlichen Vorzeichen die Klima-Krise fort. Wir werden uns ändern (müssen). Bereits geschehene Anpassung (wegen Corona) müssen fortgesetzt werden (wegen des Klimas): Arbeit, Mobilität, Freizeit – viele Gewohnheiten müssen auf den Prüfstand. Kein leichter Weg, der vor uns liegt.
2. Passieren Dinge, die uns negativ betreffen, sind wir zunächst irritiert. Nach Lösung der Schockstarre müssen wir darauf reagieren. Jede Krise sei eine Chance, hört man oft. Doch was, wenn die Ereignisse eine Schwere annehmen, die ohne Zynismus kaum als Chance (noch nicht mal als Bewährungschance) angesehen werden kann? Wir werden durcheinandergeschüttelt und auch die Dinge des Lebens, die nicht direkt mit dem Geschehen verbunden sind, ändern sich dramatisch. Eine schwere Diagnose, ein Verlusterlebnis, ein Unfall – das hat Auswirkungen auf den Alltag. Wir müssen uns auf die damit verbundenen Veränderungen einstellen. Sie wenden unser Leben, oft ganz plötzlich, Tendenz abwärts. Eine plötzliche Abwärtswendung – das heißt auf Griechisch „?atast??f?“, Katastrophe. In der Antike wurde „Katastrophe“ noch wertneutral verwendet, etwa, um die Kehre in der Dramaturgie eines Teaterstücks zu bezeichnen. Heute ist das, was mit „Katastrophe“ bezeichnet wird, eindeutig negativ: Eine Katastrophe ist die Wendung bzw. der Wandel zum Schlechten.
Von einigen Katastrophen ist nicht nur der Einzelne oder sind nicht nur einige wenige Menschen (etwa eine Familie) betroffen, sondern eine ganze Gesellschaft. Erdbeben, Überschwemmungen, Missernten. Manchmal ist auch die ganze Welt betroffen. Wenn etwa ein riesiger Meteorit einschlägt, wie vor 60 Millionen Jahren, und dem Leben auf Erden für Jahre das Licht ausknipst. Oder, wenn ein winziges Virus sich ausbreitet, überall. Oder, wenn das Klima aus den Fugen gerät. Corona und der Klimawandel – es ist dieses katastrophische Paar, das uns im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts beschäftigt. Mich auch, daher dieses Buch.
3. Folgt man dem FAKKEL-Modell aus der Katastrophensoziologie, so blüht uns in Sachen Corona noch einiges; das Problem, das demnach ursächlich zur sozialen Katastrophe führt, nämlich die Kommunikationsprobleme zwischen Experten und Laien, hat sich hier bisher nur angedeutet.4 Voll entfaltet, dürfte es die Katastrophe vertiefen. Besonders beängstigend, dass in ähnlicher Weise auch das schleichende katastrophische Megaereignis des 21. Jahrhunderts in den Strudel missglückter Kommunikation zu geraten droht: der Klimawandel. Das wäre der Fall, wenn die Rolle des Menschen verharmlost oder gar bestritten und damit der anthropogene Klimawandel grundsätzlich in Zweifel gezogen wird würde. Bisweilen ist das der Fall. Dabei wird ein tiefes Misstrauen in die Wissenschaft und die darauf fußenden Politikoptionen spürbar. Als Skepsis getarnt, ist es oft nur die schroffe Zurückweisung von Expertise durch Laien, die mit ihrem ebenso ängstlichen wie aggressiven Abstreiten des Katastrophischen die Katastrophe nur verstetigen oder gar verschlimmern.
Katastrophengeschichte ist (auch) Kommunikationsgeschichte, die Pandemie geht mit der Infodemie Hand in Hand. Impfstoffe, Herdenimmunität, Polymerase-Kettenreaktion (PCR)-Test, Sieben-Tage-Inzidenz und so weiter. Wir sind mittlerweile zu Experten geworden, möchte man meinen. Doch diese „Expertise“ zeigt im Grunde nur die Ambivalenz der Informations- und Wissensgesellschaft besonders deutlich. Einerseits: Es gibt immer mehr Information. Andererseits: Es gibt immer weniger Respekt vor dem Unterschied zwischen Information und Wissen. Wissenschaftskritische bis -feindliche Positionen entwickeln sich inmitten der größten Informationsdichte, die es je gab (man nennt dieses Füllhorn „Internet“). Das ist die Tragik unserer Tage.
4. Leben im Krisenmodus. Wie lässt sich damit umgehen? Wie lassen sich die Einschnitte deuten, die unser Leben belasten? Welche Deutungsmuster stehen uns zur Verfügung – jedem Einzelnen für sich selbst und der Gesellschaft im Ganzen? In der vorliegenden Schrift möchte ich eine historische und systematische Klärung hinsichtlich der Transformation des Rechtfertigungsdrucks angesichts von Krisen und Katastrophen vornehmen. Dargelegt wird dabei, wie sich das vorherrschende Deutungsmuster wandelte: von der „Teodizee“ (Gerechtigkeit Gottes) über die „Technodizee“ (Glaube an die Heils- und Erlösungswirkung technologischer Systeme) zur „Anthropodizee“ (Verantwortlichkeit des Menschen). Dabei soll deutlich werden, unter welchen kulturellen Rahmenbedingungen es zu Ablösungsprozessen kam. Abschließend möchte ich einen Vorschlag wagen, wie Religion und Wissenschaft zusammenwirken können, um Menschen angesichts der aktuellen Corona-Krise und der zu erwartenden Klima-Krise Orientierung und Halt zu geben.
Dabei können wir aus der Vergangenheit lernen. Der Blick in die Geschichte (und in die Ideengeschichte, also: die Philosophiegeschichte) lohnt sich, auch wenn wir heute einige Deutungsmuster und Handlungsstrategie transformieren und säkularisieren. Ich möchte – wie bereits bemerkt – diesen Weg nachgehen: Von der Teodizee über die Technodizee zur Anthropologie. Dabei greife ich auf Überlegungen und Vorarbeiten zurück, die ich in den Jahren 2005 bis 2015 in diversen Projekten angestrengt habe, unter anderem auf meiner Post Doc-Forschungsstelle an der Freien Universität Berlin (2011-2014). Ich thematisiere damit auch die Idee des Zweitgutachters meiner Dissertation, Hans Poser, der den Begriff der „Technodizee“ geprägt hat.
5. Die Bewältigung von Krisen besteht aus Deutung und Handlung. Mir geht es nicht so sehr...




