Boschetti | Die letzte Mutter | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Boschetti Die letzte Mutter

Roman
1. Auflage 2024
ISBN: 978-88-7223-438-9
Verlag: Alphabeta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-88-7223-438-9
Verlag: Alphabeta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eine Familie am Abgrund - Ein erschütternder Roman über Verfall, Gewalt und Ideologie Elsa und Livio Berton leben mit ihrem Sohn Martino in Bozen und scheinen nach außen hin eine gewöhnliche Familie zu sein. Doch hinter der Fassade herrschen Betrug, Frustration und Resignation. Der 18-jährige Martino, von seinen Eltern kaum beachtet, wird zunehmend von extremistischen politischen Ideen angezogen. Als Livio eines Nachts feststellt, dass sein Sohn Geheimnisse hat, droht die scheinbare Normalität der Familie zu zerbrechen. Ist Martino in einen brutalen Mord an einem syrischen Flüchtling verwickelt? Ein beunruhigender Roman, der die Wiederkehr faschistischen, xenophoben und patriarchalen Gedankenguts über Generationen thematisiert - mit einem erschütternden Finale.

ALEX BOSCHETTI Hat mehrere Drehbücher für Comics und Graphic Novels verfasst. Außerdem hat er an mehreren kurzen Animationsfilmen und Videoclips mitgewirkt und Kurzgeschichten in mehreren Anthologien veröffentlicht.

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Martha Kofler schaut aus dem Fenster, als würde sie sich eine andere Zeit wünschen. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, sieht man nur den flackernden Widerschein einer Straßenlaterne. In der betulichen Stille der kleinen Allee, einer typischen Südtiroler Wohngegend mit ihren Gärten, Abstellplätzen, Häuschen mit Steinsockeln, hölzernen Aufbauten und Erkern, an denen Geranien überquellen – gibt es kein Anzeichen der Morgendämmerung, die Schlaflose wie Martha herbeisehnen wie eine Wiedergeburt. Also zieht sie die Vorhänge zurück, schüttelt den Kopf und steuert mit einer Tasse in der Hand auf den Kachelofen zu. Dann schlüpft sie unter die Wolldecke auf der Couch und legt sich hin, in einem letzten Versuch, sich dem Schlaf zu ergeben, wenigstens für ein paar Stunden, bevor der Wecker klingelt, bevor das Getöse der Flure, Glocken und Schüler eine schwindelerregende Wirkung entfaltet. Martha möchte jetzt ihre Arme abnehmen und woanders hinlegen, wo, weiß sie nicht, ob unter den Kopf oder über den Bauch gekreuzt, oder sie symmetrisch an den Beinen entlang ausstrecken, um das übliche Kribbeln zu vermeiden. Sie ist zu lang, war es schon immer, seit sie ein Kind war. Beine, Arme, Hals. Wenn sie könnte, würde sie sich überall ein paar Zentimeter absägen lassen, um die Mitte wiederzuerlangen und die unerwünschten Ränder loszuwerden. Martha hasst ihren Körper. Aber fast alle Männer scheinen ihn zu begehren. Sie könnte ins Bett umziehen, das würde ihre Bewegungen erleichtern, vielleicht würde sie eine stabile Position finden. Aber die Schlaflose meidet das Bett wie die schlimmste aller Bußen, wie einen Spieltisch, an dem der Geber schummelt. Und man kann sich ihm nicht entziehen. Das weiß die Schlaflose. Obwohl sie das Geheimnis im Schatten ihrer eigenen Augenringe hütet, quält sie, mehr als nicht einschlafen zu können, das Gefühl, dazu gezwungen zu sein. Eine weitere durchwachte Nacht wäre nicht weiter schlimm, wenn sie nicht unangenehme, ja beunruhigende Bilder mit sich brächte. Sie muss unweigerlich an die Gewalt denken, die sie am Morgen davor erlitten hat, und mit ihrer Erinnerung dorthin zurückkehren, wo sie nie hätte sein wollen – eine unwiderstehliche Versuchung, auch wenn sie weiß, dass sie zu nichts anderem führt als zur endgültigen Aufgabe des Schlafs. Martha steht also erneut auf, und bevor sie wieder zum Fenster geht und den Vorhang beiseitezieht, tastet sie ihren Arm ab, um zu sehen, ob der Schmerz nachgelassen hat. Der blaue Bluterguss knapp unterhalb ihrer Schulter scheint ein Gift zu enthalten, das ausstrahlt, sobald die Haut berührt wird, und tatsächlich entweicht ihr ein ersticktes Stöhnen, mit einer Stimme, die nicht ihre eigene zu sein scheint. Ein stechendes Vibrieren beschleunigt ihren Herzschlag und das Blut, das durch ihre Adern fließt, fast so, als wäre es der Schalter, mit dem Martha Kofler vergeblich versucht ihre Gefühle abzustellen. Sie hätte nie gedacht, dass es so verhängnisvoll sein könnte, einen Vater auf die Umtriebe seines Sohnes aufmerksam zu machen, geschweige denn diesen Vater, wie immer, am Ohr zu streicheln, nachdem sie mit ihm geschlafen hat. Martha liebt diesen kleinen, verbotenen Raum Livios zwischen dem Ohr und dem ersten Flaum des Nackens, der in der Nähe des Ohrläppchens perlmuttfarben und weiter zum Nacken hin sandfarben schimmert. Für Martha ist das ein abgelegener Ort, die versteckte Bucht, die sich wie ein kleines Paradies auf das smaragdgrüne Meer öffnet. Sie lebt seit fast zwei Jahren in dieser abgeschiedenen Ecke und glaubt gerne, dass sie als Einzige Zugang zu ihr hat. Sie ist sich sicher, dass die Erste, die sich von diesem Ort fernhält, seine Frau ist, die inzwischen jegliches Interesse an ihm verloren hat. Zumindest wenn es nach Livio selbst, einigen gemeinsamen Kollegen und ihrem Schüler Martino geht, der sich ihr anvertraut hat. Denn er ist sich sicher, dass die Weitergabe gewisser Intimitäten an seine Lieblingslehrerin die beste Garantie für Vertraulichkeit ist. Stattdessen hört Martha diesem Jungen mit der Zuneigung einer Tante, der pädagogischen Strenge einer Lehrerin und dem zweifelhaften Interesse der Geliebten seines Vaters zu. Sie kann nicht anders, aber es ist für sie nicht einfach zu entscheiden, welche Reaktion sie bei jeder seiner Enthüllungen an den Tag legen soll. Der zweifellos begabte und kluge Martino, der sich aber bei der Wahl seiner Freundschaften von Maßlosigkeit und unverzeihlicher Oberflächlichkeit leiten lässt, sieht in ihr einen Bezugspunkt. Für sie ist dies einerseits besorgniserregend, gibt ihr andererseits aber auch eine wichtige Rolle innerhalb der Familie. Immerhin schläft sie mit dem Vater, sorgt für die Ausbildung seines Sohnes und kümmert sich sogar um sein Wohl. Martha Kofler, geschätzte Deutschlehrerin am Liceo Scientifico Torricelli in Bozen, uneingestandenes Objekt der Begierde vieler Kollegen, ist nichts anderes als die Tagesvertretung von Elsa Berton, die ihrerseits den Vorteil hat, die Dämmerung und die Nacht, die Wärme der Dunkelheit und der Schatten auf ihrer Seite zu haben, während ihr meist der Vormittag und das kräftige, kalte Licht des Himmels zu Tagesbeginn vorbehalten sind. Jetzt, wo die Einsamkeit einer unendlichen Nacht sie bis in die letzten Glieder verzehrt, bringt der Gedanke an Livio, der wahrscheinlich in den gleichgültigen Armen seiner Frau liegt, Martha in Rage. Wie ein Gespenst wandert sie im Haus umher, wirft zwanghafte Blicke aus den Fenstern und zählt die blauen Flecken auf sich. Währenddessen liegt er, der sanfte Liebhaber, der auch brutal gewalttätig sein kann – das hatte sie erst wenige Stunden zuvor erfahren –, ruhig in seinem Ehebett, nachdem er einen angenehmen Abend in Gesellschaft seiner Freunde Bruno und Bea verbracht hat, bis er erfrischt aufwachen wird. Die Klarheit kommt wie mit dem Zischen eines Schlangenknäuels, das den Schmerz nicht betäubt, aber alle Müdigkeit überwindet. Sich jetzt hier zu sehen, allein und voller Schmerzen überall, mit einem sehr schweren Morgenmantel, macht sie innerlich wütend, schlimmer als die Schlaflosigkeit. Und so geht Martha mit einem entschlosseneren Schritt zum Vorratsschrank und nimmt, da sie die Zeit der Kräutertees und der einsamen Sehnsüchte für endgültig vorbei hält, einen Schüttelbecher, füllt ihn mit Eis, gießt eine beträchtliche Menge Plymouth Gin hinein und fügt einen Rest Tonic Water aus der Dose hinzu, die Livio am Morgen im Kühlschrank gelassen hatte. Sie schüttelt ihn kräftig, dann lässt sie den duftenden, eisigen, stärkenden Alkohol die noch vom Kräutertee erwärmte Kehle hinuntergleiten. Als Martino am Vortag in der Pause in seinem neuen Outfit – Springerstiefel, offene Pivert-Bomberjacke und schwarzes Sweatshirt mit dem Abbild eines Helms auf einem Totenkopf sowie dem Motto Decima legio ultima ratio – aufgetaucht war und um ein Gespräch unter vier Augen gebeten hatte, war Martha Kofler natürlich darauf eingegangen. Nachdem sie sich von einigen Kollegen verabschiedet hatte, die am Hinterausgang der Schule E-Zigaretten rauchen wollten, war sie mit dem Schüler auf den Pausenhof gegangen. „Frau Kofler, wäre es möglich, Dario erst nächste Woche abzufragen?“ Sie wunderte sich, wie sehr dieser Junge mit dem lebhaften und durchdringenden Blick, der stets nach Staunenswertem Ausschau hielt und sich jederzeit begeistern oder in einem fernen Horizont verlieren konnte, in den letzten Monaten allmählich verblasst war, oder genauer: sich angepasst hatte. Das war schon an seiner Körperhaltung zu erkennen, die früher aufrecht war, als ob er mit seinem Blick den Himmel berühre. Heute ging er eher gebeugt und resigniert und hielt den Kopf gesenkt, als ob er einen Schatten auf dem Boden suche. Sie erinnerte sich noch gut an seinen ersten Schultag, an diesen rehäugigen Blick, der sie mit der Ehrfurcht und dem Respekt beobachtete, der einer Autorität gebührt. Sie, die neue Lehrerin der Oberstufe, war angetan von dem schüchternen, zurückgezogenen Teenager, der sie mit der vorsichtigen Konzentration des zukünftigen Wissenschaftlers beobachtete. Es kam sofort zu einer spontanen Verbrüderung, so wie sie in der Natur zwischen einsamen Tieren, die sich gegenseitig erkennen und respektieren, häufig vorkommt. Zwei Sibirische Lemminge, so kam es Martha spontan in den Sinn. „Sehen Sie, wir haben heute Abend etwas sehr Wichtiges vor. Wir haben es schon lange geplant, und es wird bestimmt spät werden. Dario ist mit dabei, und wenn er morgen dran ist, gibt das ein Schlamassel. Wissen Sie, er wohnt in Salurn.“ Er hatte dies in einem allzu überzogenen flehenden Tonfall hinzugefügt, woraufhin Martha vorschlug, Dario solle bei ihm in Bozen übernachten, aber er hatte geantwortet, dass seine Eltern zum Abendessen bei den Zandonai seien und dass sie, wenn sie nicht zu Hause seien, keine Besucher wollten. Daraufhin hatte Martha bereits vergessen, worum Martino sie gebeten hatte, und war im Treibsand der Eifersucht versunken, sodass sie ein „Ja, ist gut“ ausgestoßen hatte, leicht und zerbrechlich wie eine Seifenblase, was Martino aber mehr als gereicht hatte. Er würde sich diesen Erfolg als eine weitere Rosette der Gruppenzugehörigkeit an die Brust heften können. Martha hingegen hatte sich nicht einmal gefragt, was Martino und seine Freunde an diesem Abend vorhatten. Die Nachricht von dem Abendessen im Haus der Zandonai hatte sie verstimmt, und zwar gehörig. Denn trotz Livios wachsender Verdrossenheit gegenüber Elsa unterwarf er sich weiterhin gewissen Gemeinschaftsritualen, die einzig und allein den Zweck hatten, die müde Paarbeziehung für ein paar Stunden zu lüften, und das tat er...


Boschetti, Alex
ALEX BOSCHETTI Hat mehrere Drehbücher für Comics und Graphic Novels verfasst. Außerdem hat er an mehreren kurzen Animationsfilmen und Videoclips mitgewirkt und Kurzgeschichten in mehreren Anthologien veröffentlicht.

ALEX BOSCHETTI Hat mehrere Drehbücher für Comics und Graphic Novels verfasst. Außerdem hat er an mehreren kurzen Animationsfilmen und Videoclips mitgewirkt und Kurzgeschichten in mehreren Anthologien veröffentlicht.



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