E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Bost Bankrott
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-03820-918-8
Verlag: Dörlemann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-03820-918-8
Verlag: Dörlemann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Pierre Bost, 1901 in Lasalle geboren, wuchs in Le Havre auf und kam kurz nach dem Ersten Weltkrieg nach Paris. Zwischen 1924 und 1945 veröffentlichte er mehr als ein Dutzend Romane, Erzählbände und Essays. Er gehörte zu den bedeutendsten Literaten der Zwischenkriegszeit. Zu seinen wichtigsten Werken gehören Ein Sonntag auf dem Lande (1945) und der Roman Bankrott (1928). Pierre Bost starb 1975 in Paris.
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I
Brugnons Jugend verlief unbeschwert. Sein Vater war reich, und seine Mutter pflegte zärtlichen Umgang mit ihm. Beide hatten ihn früh zur Arbeit angehalten, und es gab niemanden, der ihm nahegelegt hatte, an diesen Worten zu zweifeln. Der einzige Traum, den er sich eines Tages erfüllen wollte, bestand darin, jeden Morgen an die Arbeit zu gehen, sich eine Pause von einer Stunde zu gönnen, danach weiterzuarbeiten und schließlich sehr spät am Abend damit aufzuhören. Am folgenden Tag würde er damit fortfahren. Das Leben aller Menschen, wie er es beobachtete oder erahnte, baute auf diesem Gerüst auf.
Brugnon schloss, wie es sein Vater von ihm verlangte, sein Studium an der École des Sciences Politiques ab. Nachdem er dort abgegangen war und in Friedenszeiten auf Geheiß seines Vaterlandes für eine Zeit lang die Waffen getragen hatte, öffneten sich vor ihm endlich die Tore, die ihm wie die eines Paradieses vorkamen: Er wurde Sekretär seines Vaters.
Brugnons Vater handelte mit Zucker. Dreißig Jahre zuvor war seine Firma in einer kleinen Stadt im Norden gegründet worden und hatte sich auf bescheidene und gemächliche Weise entwickelt. Das war zu einer Zeit, als es noch nicht Mode war, mit einem Paukenschlag auf den Plan zu treten, und sich große Unternehmen immer aus kleinen Anfängen entwickelten. So war Brugnons Vater vorangekommen. Hartnäckig und ehrgeizig überstand er die schlechten Jahre, ohne jemals seinen Besitz zu verlieren, bis zu jenem Tag, als es ihm gelungen war, den üblen Umständen einen Vorsprung abzuringen, den man nie verliert. In diesem geradlinigen Leben hatte es vielleicht nur einen Schwachpunkt gegeben. Als Brugnons Vater glaubte, das Wohlergehen seines Hauses sei gesichert, ließ er sich in Paris nieder. Er wurde für diesen Ehrgeiz nicht bestraft, und seine Geschäfte litten darunter nicht, doch während er in der Provinz der Erste gewesen war, zählte er in der Stadt zu den Letzten. Klug genug, dieses Gesetz zu akzeptieren, fand er sogar Gefallen daran, nun wieder Plätze zurückerobern zu müssen. Die Liebe zur Arbeit entwickelt sich am intensivsten in den großen Städten, und tatsächlich wuchs die Firma nach und nach. Mit zunehmendem Alter überfiel Brugnon der Gedanke, dass er sterben würde, ohne dass sie so mächtig wäre, wie er sich das gewünscht hatte, aber es genügte ihm, sie so stark zu machen, wie er konnte. Er wollte sein Möglichstes tun, doch das mit all seiner Kraft, und wohl deshalb glaubte Brugnon, als er in die Dienste seines Vaters trat, dass er seinen Platz in einem sehr mächtigen Unternehmen einnehme. Das Vergnügen, das ihm Arbeit und Erfolg schenkten, bestärkte ihn in seiner Zuversicht und seinen Erwartungen.
Sein Vater, der sich wie immer ein wenig darüber wunderte, dass sein Sohn jünger war als er, und der – klug, wie er war – vielleicht dessen Übereifer fürchtete, hatte ihn behutsam und beinahe streng ermahnt: »Mach dir keine Illusionen, nicht wegen des Zuckers und nicht wegen mir. So lustig, wie du glaubst, ist es nicht, und ich hoffe, dass deine ersten Schritte dich ein bisschen entmutigen werden. Ich werde versuchen, dir zuerst undankbare Aufgaben zu übertragen. Wenn dich das langweilt, beklag dich. Mir soll es recht sein.« Brugnon aber hatte sich nie beklagt.
Er war damals dreiundzwanzig Jahre alt. Vier Jahre lang arbeitete er als Privatsekretär seines Vaters, dem es nicht gelang, den Eifer seines Sohnes zu zügeln, und der sich schließlich damit abfand. Zur Belohnung schickte er seinen Sohn monatelang quer durch Europa und die Welt, da es für die Firma an der Zeit war, weiter zu wachsen. Brugnon kam von dieser Reise zurück und wusste über alles Bescheid, was mit Zucker zusammenhing. Recht geschickt ging er auf Menschen zu, er beherrschte mehrere Sprachen, hatte die Gunst vieler Frauen erworben und war durch seinen Aufenthalt in Hotels und auf Schiffen an Reichtum gewöhnt. Wieder nahm er den Platz an der Seite seines Vaters ein, der immer noch misstrauisch war gegenüber einem Sohn, der sich mit derart neuartigen Methoden auf das Leben vorbereitet hatte. Dennoch machte er ihn einige Jahre später zu seinem Teilhaber. Brugnon war nun fünfunddreißig Jahre alt.
Dann starb sein Vater. Brugnon hatte so viel Geschick darauf verwandt, ihn nachzuahmen, ihm in allem zu folgen und sein Werk fortzusetzen, dass dieser Tod, der ihn zuerst grausam traf, als hätte er ihn selbst zerstört, ihn als Erbschaft eines ganzen Lebens hinterließ, das sich dem seinigen hinzufügte. Schon am nächsten Morgen erkannte Brugnon, als hätte sein Vater das Haus gar nicht verlassen, in seinen Gesten die seines Vaters wieder, er nahm die Intonation seiner Stimme und den Ausdruck seines Gesichts an, und seine Mutter stieß mehrmals einen Schrei aus wie vor einem allzu ergreifenden Porträt. Stolz fragte sich Brugnon, ob von den Toten nicht doch etwas zurückbleibe.
Vom alten Brugnon blieb das Haus, und es blieb das Büro, in dem der Sohn den leeren Platz einnahm. Der Gedanke, dass es der Tod seines Vaters war, der ihm die Macht über diese kleine Welt gab, kam ihm nicht. Er nahm sich die Macht einfach.
Inzwischen zählte er vierzig Jahre. Er wünschte sich, dass die Firma, die ihm übertragen worden war, größer wäre, und nur das Andenken an seinen Vater hielt ihn davon ab, die Dinge zu schnell voranzutreiben und das Unternehmen rasch auszubauen. Er ertrug es schlecht, nur einer kleinen Firmengruppe vorzustehen, und wollte nicht begreifen, dass sein Vater in so vielen Jahren das Haus Brugnon nicht zur ersten Pariser Adresse gemacht hatte. Er ließ sich auf unvorsichtige Geschäfte ein und hatte anfangs nur selten Erfolg. Bisweilen glückte ihm etwas, was manche Leute überraschte. Der Zufall stand ihm mehrmals zur Seite, sodass Brugnon zufrieden war.
Dieser rasche Aufschwung, der den alten Brugnon sicher erschreckt hätte, beunruhigte die Konkurrenz übrigens nicht. Bemerkenswerterweise verachten die Geschäftsleute Erfolge, die der Dreistigkeit geschuldet sind. Sie nennen das Verrücktheit. Oft wurde gesagt, dass das Haus Brugnon eine sehr ehrbare Geschichte aufweise und dass es diese hätte fortschreiben können – bedauerlicherweise liege es aber in den Händen eines unvorsichtigen Mannes, den manche einen Luftikus nannten. Die kleinen Revolverblätter – Brugnon erlebte eine seiner größten Freuden, als er dort zum ersten Mal endlich seinen Namen gelesen hatte – erklärten Brugnon gern für verrückt. Anfänglich hatte er es ignoriert, mit der Zeit reagierte er zunehmend ungehalten und fragte sich, ob ihn sein Vater auch so beurteilt hätte. Er schüttelte den Kopf, um nicht mehr daran zu denken, aber er hatte daran gedacht.
Eine kleinformatige, auf blassblauem Papier gedruckte Zeitung lag ausgebreitet auf seinem Toilettentisch und wiederholte hartnäckig die Worte, die er nicht mehr hören wollte. Brugnon, der mit Simone ausgehen wollte und seine Krawatte vor dem Spiegel band, nahm das blassblaue Blättchen, den Franc-Joueur, in die Hand und las die von einem roten Kasten eingerahmten Zeilen: »Es handelt sich übrigens um ein offenes Geheimnis, dass die Reisen des Monsieur B. allein dem Zweck dienen, sich in die Obhut von Spezialisten zu begeben, die ihn bereits früher behandelt haben. Die Medizin hat zweifelsohne bei der Behandlung von Geisteskrankheiten Fortschritte gemacht, doch ein derart häufiges Auftreten der Symptome dürfte jenen Unternehmen wenig Hoffnung geben, die sich in Geschäftsbeziehungen mit ihm befinden. Es geschieht übrigens nicht zum ersten Mal …« Brugnon betrachtete sich im Spiegel, wie er es gelegentlich tat, wenn er allein war, denn er liebte Gesellschaft.
Hast du verstanden?, fragte er sein Spiegelbild, das mit dem Kopf nickte.
Was hältst du davon?
Das Spiegelbild machte einen zweifelnden Eindruck und zog eine Schnute.
Das ist keine Antwort, sagte Brugnon ein wenig nervös. Sag deine Meinung. Glaubst du auch, dass ich verrückt bin?
Nun ja, sagte das Bild, vielleicht schon …
Ah? Du glaubst also …
Glauben, glauben … Ich weiß es nicht … Ich überlege … Auf jeden Fall kannst du sicher sein, »verrückt« ist übertrieben.
Wirklich?
Ja.
Nun gut, ich würde auf dieses Geschwätz pfeifen, aber ich möchte gern wissen, auf was sie sich stützen.
Brugnon beugte sich über die blassblaue Zeitung:
Das ist schon die dreißigste Ausgabe, sagte er. Es gibt wirklich Leute, die Angst haben …
Du lenkst ab, sagte das Spiegelbild. Es geht darum, ob du verrückt bist. Oder sagen wir: eigenwillig … oder ein bisschen gestört, wenn dir das lieber ist.
Nein, selbstverständlich! Nein, ich bin nicht verrückt. Brugnon zuckte mit den Schultern.
Reg dich nicht auf, sagte das Spiegelbild. Du hast diesem (Brugnon beugte sich erneut über das blassblaue Blatt) … diesem Herrn Louleau das Geld verweigert, auf das er glaubte Anspruch zu haben. Das geht nur dich etwas an, das erweist der Sauberkeit deiner Geschäfte alle Ehre. Aber bist du verrückt, wie es heißt? Genau darum geht es hier.
Gewiss nicht.
Ohne Feuer kein Rauch. Es ist nicht das erste Mal, dass du von dieser Geschichte hörst.
Ich weiß nicht, wer dieses Märchen in die Welt gesetzt hat.
Gibt es, sagte das Spiegelbild, nichts in deinem Leben, was das erklären könnte? Erinnere dich an die kleine Krise, die du vor zehn Jahren hattest, als du aus Japan zurückkamst … Diese ständige Gereiztheit, die zwei Jahre anhielt. Wegen nichts und wieder nichts bist du wütend geworden: eine offen stehende Tür, ein Papierrascheln, ein Lachen, ein...