Bottazzini | Wie die Null aus dem Nichts entstand | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Bottazzini Wie die Null aus dem Nichts entstand

und weitere Sternstunden der Mathematik

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-423-43845-2
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Die kürzeste Geschichte der Mathematik
Es war eine Revolution, als ein unbekanntes Genie die ersten Ziffern aufzeichnete. Damit begann der Siegeszug der Mathematik: Auf einmal hatte alles einen Wert, ließ sich vermessen, zählen und berechnen. Anhand solcher Schlüsselmomente erzählt Umberto Bottazzini in sechs kurzen Kapiteln, wie die Mathematik unsere Welt eroberte.

Protagonisten dieser Erfolgsgeschichte sind die Zahlen: Warum ist das Wesen der Kreiszahl Pi die Lösung eines uralten Rätsels? Zählten Chinesen anders als Europäer? Und was hat es mit den imaginären Zahlen auf sich? Auf der Suche nach den Antworten vereint Bottazzini mathematisches Hintergrundwissen mit einem charmanten Streifzug durch Literatur, Kunst und Philosophie.
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Zählen der Zeit und … der Dinge
EINKERBUNGEN UND KNOTEN
Wer hat noch nie von Robinson Crusoe gehört, dem Helden des Romans von Daniel Defoe, der zum ersten Mal vor dreihundert Jahren erschienen ist? Bestimmt erinnern Sie sich an die Geschichte. Als Junge hatte der Matrose Robinson Crusoe seine Heimatstadt New York verlassen, hatte einige gefährliche Abenteuer an den Küsten Afrikas erlebt und sich dann in Brasilien niedergelassen, wo er Besitzer einer florierenden Zuckerrohrplantage geworden war. In jenem Land war der Sklavenhandel den wenigen Händlern vorbehalten, die ein asiento besaßen, eine von den Königen Portugals und Spaniens ausgegebene Lizenz, und der öffentliche Verkauf von Sklaven war ohne dieses Dokument verboten. Deshalb ließ sich Robinson von anderen Pflanzern überreden, auf ihre Kosten ein Schiff auszurüsten, um nach Guinea zu segeln und dort eine große Anzahl Sklaven zu erwerben, die heimlich an einem Strand in Brasilien ausgeladen und unter den Schiffseignern verteilt werden sollten. In See zu stechen, um Sklavenhandel zu betreiben, erwies sich für Robinson als keine gute Idee. Nach einigen Wochen auf See geriet das Schiff in einen gewaltigen Sturm. Tagelang war es dem Unwetter ausgeliefert und strandete schließlich vor einer Insel, wo es Robinson als einzigem Überlebenden gelang, mithilfe des Beibootes zu landen, mit dem sich die Mannschaft zu retten versucht hatte. »Nach zehn oder zwölf Tagen fiel mir ein, ich könnte aus Mangel an Papier, Tinte und Feder die Zeitrechnung ganz aus dem Gedächtnis verlieren, vielleicht sogar den Sonntag im Ablauf der Tage vergessen. Um das zu vermeiden, schnitt ich mit meinem Messer in Großbuchstaben eine Inschrift in einen starken Pfosten, zimmerte dann daraus ein großes Kreuz und stellte es am Strand an der Stelle auf, wo ich ihn zuerst betreten hatte. Die Inschrift lautete:  ›Ich betrat hier den Strand am 30. September 1659.‹ An den Seiten dieses viereckigen Pfostens schnitt ich mit dem Messer jeden Tag eine Kerbe ein, an jedem siebten Tag machte ich die Kerbe doppelt so lang wie die Sonntagskerbe. So hatte ich meinen Kalender mit wöchentlicher, monatlicher und jährlicher Zeitrechnung.«[5] Damit griff Robinson Crusoe in diesem Moment und auf diesem Strand auf ein Zehntausende Jahre altes Verfahren zurück und wandte es für seine Zeitmessung an. Das belegt ein in den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts in Dolní Vestonice (Tschechien) entdeckter Wolfsknochen aus dem Paläolithikum. Der Knochen weist 55 Einkerbungen auf: Die ersten 25 sind in Fünfergruppen eingeteilt, gefolgt von einer doppelt so langen Einkerbung als Abschluss der Reihe; danach beginnt eine neue Reihe von Kerben bis zu 30, die ebenfalls zu je fünf gruppiert sind. Vielleicht wollte der prähistorische Mensch, der die Markierungen anbrachte, die Schafe seiner Herde zählen, und man darf annehmen, dass ihm die Zählung auf der Grundlage der fünf Finger der Hand naheliegend erschien. Doch die Frage, wie viele Schafe er besitze, hätte er nicht beantworten können. Er hätte keine Vorstellung von der Anzahl gehabt, und noch weniger hätte er Worte gehabt, es auszudrücken. Er hätte nur auf die Kerben auf seinem Knochen deuten können und sagen: Nun, es sind so viele wie Kerben, die ich eingeritzt habe, während die Schafe an mir vorbeigingen. Nichts anderes macht der Meeresgott Proteus in Homers Odyssee, wenn er gewöhnlich »die liegenden Robben [zählt]; und nachdem er sie alle bei fünfen gezählt und betrachtet, legt er sich mitten hinein, wie ein Schäfer zwischen die Herde«.[6] Aber Robinson hatte keine Robben oder Schafe zu zählen, sondern Wochen und Monate, und deswegen führte er eine bedeutsame Variante in seine Zählung ein. Sie werden ihm zustimmen, dass die fünf Finger zur Zählung des Zeitverlaufs nicht taugen. Im Unterschied zu dem Hirten von Dolní Vestonice lebte Robinson im 18. Jahrhundert, kannte den Begriff der Zahl und konnte zählen. Deswegen wählte er statt der Fünfergruppen eine doppelt lange Einkerbung alle sieben Tage und folgte damit dem christlichen Kalender, der sich seinerseits dem jüdischen Kalender angeglichen hatte, der wiederum von den Babyloniern übernommen worden war. Etwa zwanzig Jahre nach dem Fund von Dolní Vestonice wurde in der Umgebung von Ishango, einem Ort an den Ufern des Edwardsees an der Grenze zwischen Uganda und dem Kongo, ein auf ein Alter von etwa 20 000 Jahren datierter Knochen entdeckt, möglicherweise das Wadenbein eines Pavians. Auch dieser Knochen weist eine große Zahl Kerben auf, die auf drei Reihen in unterschiedliche Gruppen verteilt sind; insgesamt befinden sich 48 Markierungen auf der ersten und 60 jeweils auf den beiden anderen. Die Mutmaßungen, wozu unser früher Vorfahr der Spezies Homo sapiens diese Einkerbungen anbrachte, gehen weit auseinander. Auch Sie können gern mitraten. Ist beispielsweise die Anzahl der Kerben auf jeder Reihe rein zufällig ein Vielfaches von 12? Und sind die Gruppen auf einer Reihe von 11, 13, 17 und 19 rein zufällig die Primzahlen zwischen 0 und 20? Liegt vielleicht jener Wissenschaftler richtig, der die Vermutung äußerte, dass hier ein Zählsystem auf einer 12er-Basis ähnlich dem unserer Uhr verwendet wurde? Oder zeugt es gar von Spuren tieferer Überlegungen zu den Primzahlen?     Klarer ist vielleicht die Bedeutung der 29 Markierungen auf einem anderen, über 40 000 Jahre alten Wadenbein eines Pavians, das im Jahr 1973 in den Lebombobergen an der Grenze zwischen Südafrika und Swasiland gefunden wurde. In der Tat scheint die Annahme plausibel, dass diese Einritzungen eine rituelle Bedeutung haben und irgendwie mit den Mondphasen zusammenhängen, also mit der Anzahl der Tage zwischen zwei Vollmonden. Ist es nicht erstaunlich, dass sich derselbe Typ Einkerbungen in Gruppen von 29, die an einen Mondkalender erinnern, in einer räumlichen beziehungsweise zeitlichen Entfernung von Tausenden Kilometern und Jahren auf einer aus der Jungsteinzeit (vor circa 12 000 Jahren) stammenden Knochenplatte findet, die in einer Höhle in den französischen Südalpen entdeckt wurde? Wie dem auch sei, als Defoe seinen Roman schrieb, konnte er von derartigen archäologischen Funden keine Kenntnis haben. Dafür hatte er aber direkte Erfahrung mit einem ähnlichen Verfahren, das Jahrhunderte zuvor in England eingeführt worden und noch in Gebrauch war. Im 12. Jahrhundert hatte Heinrich I. nämlich bestimmt, dass am Schatzamt die Rechnungslegung des Staates auf zwei Holzstäben mit Einkerbungen anzubringen war. »Ein primitives Verfahren«, wie Charles Dickens in einer sehr amüsanten Rede am 27. Juni 1855 in London vor dem Verein zur Verwaltungsreform unmissverständlich urteilte. Man stelle sich vor: Die Rechnungslegung erfolgte in der gleichen Weise, in der Robinson Crusoe seinen Kalender auf der einsamen Insel führte! Wie funktionierte diese seltsame Buchführung? Stäbe aus Ulmenholz wurden der Länge nach in zwei Teile gespalten, und auf jedem wurden spiegelgleich Kerben unterschiedlicher Breite und Tiefe angebracht, die je nachdem 1, 10 oder 100 Pfund Sterling oder vielleicht auch Shilling oder Pennys bedeuten sollten. Der kürzere Teil des eingekerbten Stabes verblieb bei der Bank von England, den längeren Teil behielt der Gläubiger. Es war leicht zu überprüfen, ob etwa Einkerbungen hinzugefügt oder gelöscht worden waren: Die entsprechenden Teile mussten zusammenpassen. Ein einzelnes Teil war wertlos – eben eine mezza tacca, halbe Kerbe, wie es seitdem heißt.[1] Man kann es kaum glauben, aber dieses System war jahrhundertelang in England in Gebrauch. Im Lauf der Zeit, fuhr Dickens fort, »waren zahllose Rechnungsführer, Buchhalter und Haushälter geboren und gestorben. Doch die amtliche Bürokratie beharrte auf diesen Stäben mit den Kerben, als wären sie die Säulen der Verfassung; und der Fiskus verwaltete weiterhin seine Konten auf bestimmten, tallies genannten Stückchen aus Ulmenholz.«[7] Wir haben gesehen, dass Robinson auf seiner gottverlassenen Insel klagte, er sei mangels Büchern, Feder und Tinte gezwungen gewesen, sich dieses Verfahrens zu bedienen. (Allerdings macht James Joyce auf einer Konferenz im Jahr 1913 in Triest aus ihm den »wahren Prototyp des britischen Kolonisators«, in der Tasche ein Messer, eine Pfeife und ein Päckchen Tabak, die er aus dem Wrack gerettet hat.) Hingegen mangelte es in Defoes England keineswegs an Federn, Tinte, Papier, Schiefertafeln und Bleistiften, und erst recht nicht in den sechzig Jahren der Regierung Georgs III. von 1760 bis 1820, als ein paar revolutionäre Geister – vielleicht inspiriert von der Revolution jenseits des Kanals – sich fragten, ob es nicht an der Zeit wäre, diesen mittelalterlichen, längst obsoleten Brauch aufzugeben und zu Papier und Feder überzugehen. Doch die gesamte Bürokratie des Königreichs probte den Aufstand beim bloßen Gedanken an eine solch »waghalsige und originelle Vorstellung«, spottete Dickens, und erst im Jahr 1826 wurden die Stäbe schließlich abgeschafft und nach...


Leube, Wolf Heinrich
Wolf Heinrich Leube übersetzt Belletristik und Sachbücher aus dem Englischen, Französischen und Italienischen, u.a. Natalie Zemon Davis, Paul Veyne, Michel Foucault, Nelson Mandela und Keyle Harper.

Bottazzini, Umberto
Umberto Bottazzini lehrte als Professor für Mathematikgeschichte in Mailand und schrieb für eine große italienische Tageszeitung über 25 Jahre lang eine Kolumne zu mathematischen Themen. Von der American Mathematical Society erhielt er den prestigeträchtigen ›Albert Leon Whiteman Prize‹ für seine herausragenden Leistungen auf dem Gebiet der Mathematikgeschichte; 2016 war er für den ›Premio Galileo‹ nominiert, eine der wichtigsten Auszeichnungen für Wissenschaftsvermittlung in Italien

Leube, Anna
Anna Leube übersetzte u.a. Bruce Chatwin, Shirley Jackson, Michael Ondaatje, Alberto Savinio und Italo Svevo.

Umberto Bottazzini lehrte als Professor für Mathematikgeschichte in Mailand und schrieb für eine große italienische Tageszeitung über 25 Jahre lang eine Kolumne zu mathematischen Themen. Von der American Mathematical Society erhielt er den prestigeträchtigen ›Albert Leon Whiteman Prize‹ für seine herausragenden Leistungen auf dem Gebiet der Mathematikgeschichte; 2016 war er für den ›Premio Galileo‹ nominiert, eine der wichtigsten Auszeichnungen für Wissenschaftsvermittlung in Italien


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