Boyle Hart auf hart
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-446-24846-5
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-446-24846-5
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
T. Coraghessan Boyle, 1948 in Peekskill, N.Y., geboren, ist der Autor von zahlreichen Romanen und Erzählungen, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Bis 2012 lehrte er Creative Writing an der University of Southern California in Los Angeles. Bei Hanser erschienen zuletzt »Das wilde Kind« (Erzählung, 2010), »Wenn das Schlachten vorbei ist« (Roman, 2012), »San Miguel« (Roman, 2013), die Neuübersetzung von »Wassermusik« (Roman, 2014), »Hart auf hart« (Roman, 2015), die Neuübersetzung von »Grün ist die Hoffnung« (Roman, 2016), »Die Terranauten« (Roman, 2017), »Good Home« (Stories, 2018), »Das Licht« (Roman, 2019), »Sind wir nicht Menschen« (Stories, 2020), »Sprich mit mir« (Roman, 2021) sowie »Blue Skies« (Roman, 2023).
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Schließlich standen sie, die ganze Gruppe, vor dem Krankenhaus vom Roten Kreuz (La Clínica de la Cruz Roja), als gehörte das zu ihrem Ausflug. Der Fahrer hatte dasselbe halsbrecherische Tempo vorgelegt wie bei der Hinfahrt – oder nein, er betrachtete die Sache offenbar als Grund, noch schneller zu fahren als zuvor und das Gaspedal bis zum Bodenblech durchzudrücken, als wäre der Bus verkleinert und in einen Krankenwagen verwandelt worden. Doch soweit Sten das beurteilen konnte, gab es keine Veranlassung zur Eile mehr, jedenfalls nicht, soweit es den Räuber betraf. Sten hoffte, dass er sich irrte. Er hoffte, dass der Typ bloß bewusstlos war, im Koma vielleicht, in einem Tiefschlaf, umfangen von Träumen. Im Krankenhaus würde man ihm Sauerstoff geben, ihn defibrillieren, ihm eine Adrenalinspritze verpassen, irgendwas, das sein Herz wieder in Gang setzte und ihn aufweckte … Aber was, wenn er nicht aufwachte? War das dann Totschlag? Ein juristischer Begriff fiel ihm ein: Totschlag in Notwehr. Das war es doch gewesen. Er hatte instinktiv gehandelt, in Notwehr, um seine Frau und die anderen zu verteidigen – er hatte eine Gefahr ausgeschaltet, sonst nichts, und wer konnte ihm daraus einen Vorwurf machen? Aber wenn der Mann nun gelähmt war, irgendwie lebendig zwar, aber vom Hals abwärts tot, was dann? Wer würde die Pflegerin bezahlen, die ihn füttern und seine Windeln wechseln musste? Es gab hier keine staatliche Gesundheitsvorsorge, keine Krankenversicherung, kein gar nichts. Würde man ihn vor Gericht stellen? Prozesse gab es überall. Und Gefängnisse. Gefängnisse gab es auch überall.
Er versuchte, nicht daran zu denken, seinen Kopf von Gedanken frei zu machen. Auf dem ganzen Rückweg hatte er Carolees Hand festgehalten und starr geradeaus gesehen, während der Bus klappernd dahingerast war, bis alle Schrauben und Muttern, die ihn zusammenhielten, wimmerten. Die Zeit schrumpfte. Rechts und links flog der Urwald vorbei, und unter den Rädern explodierten die Schlaglöcher. Ihm war übel. In seinem Kopf war ein Summen, als wäre darin ein Insektenschwarm gefangen. Seine Knie waren steif. Er war wieder schrecklich durstig. Drei Reihen weiter vorn lag im Mittelgang die perspektivisch verkürzte Gestalt des Gangsters. Daneben saß der Sanitäter, aber Sten konnte nur die Fußsohlen des Toten sehen. Sie erinnerten an Klammern, doch den Satz, den sie einschlossen, wollte Sten nicht entziffern.
Anfangs hatte man darüber debattiert, wohin man den Mann legen sollte. Keiner wollte ihn im Bus haben, aber was sollte man machen – ihn auf dem Dach festbinden? Ihn im Schlamm liegen lassen, bis die Polizei ihn holte? Oder die Geier? Die Hunde? Er war ein Mensch, ganz gleich, was er getan hatte oder vielmehr zu tun versucht hatte, da gab es nicht viel zu diskutieren: Sie würden ihn mitnehmen. Das jedenfalls war der Konsens. Alle rangen die Hände, und die Stimmen zitterten. Bills Frau – sorgfältig frisiertes Haar, tief ausgeschnittene Bluse – biss die Zähne zusammen, als hätte sie etwas Verdorbenes im Mund. »Ich will ihn nicht in der Nähe haben«, sagte sie mit Nachdruck, »ich will nicht –« Sie brach ab und schluchzte.
Wie sich zeigte, konnten sie den Mann nicht quer über zwei Sitze legen, und so betteten ihn Bill und der Sanitäter, die ihn an Schultern und Füßen die Stufen hinauf schleppten, im Mittelgang, mit dem Hinterkopf genau auf der verblassten Linie, die man nicht überschreiten durfte. Zu diesem Zeitpunkt waren die meisten bereits eingestiegen, mit bleichen, in sich gekehrten Gesichtern, den Blick starr nach vorn gerichtet, doch die letzten, zu denen auch Sten und Carolee gehörten, mussten über ihn hinwegsteigen, um zu ihren Plätzen zu gelangen. Sten nahm seine Frau am Arm und versuchte, den Anblick der glasigen Augen und der glänzenden Zähne in dem offenen Mund zu vermeiden, und was machte es schon, dass er stolperte und auf das Handgelenk des Manns trat? Der spürte ja keinen Schmerz mehr, und außerdem hatte er es nicht anders gewollt, oder?
Als Letzter stieg der Fahrer ein. Er setzte die Sonnenbrille ab, sah mit zusammengekniffenen Augen durch den Bus und zählte die Passagiere. Dann bückte er sich unbeholfen – Sten sah jetzt, dass er einen Schmerbauch hatte, den Schmerbauch eines Mannes, der sein Geld im Sitzen verdiente – und zog einen leuchtend orangeroten Regenumhang hervor, den er, damit alle hinsahen, umständlich entfaltete. Wollte er ihn über den Toten breiten? War’s das also? War es vorbei, war das Schmierentheater zu Ende? Doch nein, er machte aus dem Umhang ein behelfsmäßiges Kissen, dem er mit ein, zwei Knüffen Volumen verlieh, und dann bückte er sich wieder und schob es dem Mann unter den Kopf. Niemand sagte ein Wort. Fliegen summten. Stens Kehle war so trocken, dass er nicht schlucken konnte. Dennoch griff er nicht nach Carolees Wasserflasche, denn er wollte keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen – oder vielmehr: nicht noch mehr Aufmerksamkeit.
Für einen Augenblick – viel zu lange, denn schließlich handelte es sich doch um einen Notfall, oder? – stand der Fahrer einfach da, betrachtete sein Werk und schüttelte langsam den Kopf. Kannte er den Mann? Waren die beiden Komplizen? Seinem Gesichtsausdruck war wenig zu entnehmen, doch als er sich auf den Fahrersitz sinken ließ und die Tür schloss, warf er einen wütenden Blick durch den Mittelgang und wiederholte sein Mantra – »Sitzen« –, obgleich niemand mehr stand. Ja, es war unglaublich, aber er funkelte sie an, er funkelte sie tatsächlich an, die Strenge, der Tadel, das Urteil in seinem Blick waren unverkennbar – als hätten sie alle die Grenzen des menschlichen Anstands so weit überschritten, dass sich jedes weitere Wort erübrigte, als wären sie Kinder, die sich danebenbenommen hatten, als wären nicht sie es gewesen, die angegriffen worden waren, und als wäre er nicht ein Komplize oder wenigstens ein Mitwisser. Sten war sicher, dass er ein Komplize war. Er fuhr die Touristen hierher, ins Nirgendwo, rief die anderen an und bekam seinen Anteil der Beute. Nichts leichter als das. Der Mann – der Fahrer, der Heuchler – ließ seinen Blick für ein paar Sekunden auf ihnen ruhen, zog die Sonnenbrille hervor und setzte sie so sorgfältig auf, als nähme er eine heikle Operation vor. Dann sagte er überflüssigerweise: »Wir fahren.«
Als sie den Stadtrand erreichten und der Hafen in Sicht kam, bog der Bus von der Hauptstraße ab, fuhr durch eine Reihe von Nebenstraßen und nahm schlingernd eine Kurve nach der anderen, bis der Fahrer schließlich in der Mitte eines Blocks voll unscheinbarer tiendas, Verkaufsstände und Wohnhäuser hart auf die Bremse trat und sie vor einem niedrigen, aus Betonteilen gefertigten Gebäude zum Stehen kamen, das auch ein Lagerhaus oder eine Fabrik hätte sein können, über dessen Eingang aber ein großes rotes Kreuz an die Fassade gemalt war. Sten war auf dieses plötzliche Manöver nicht gefasst, und hätte er nicht Carolee im Arm gehalten – um sie zu beschützen –, dann wäre er vielleicht mit dem Gesicht an die Rücklehne des Sitzes vor ihm geprallt. Es gelang ihm gerade noch, den Stoß mit der Schulter abzufangen. Der Bus schwankte, und aus den Gepäckfächern regneten Taschen, Kameras und Wasserflaschen auf den Boden und suchten ein stabiles Gleichgewicht. Der Sanitäter hatte weniger Glück. Die ganze Zeit hatte er sich über den Gangster gebeugt, die Stöße abgefangen und ihn in den Kurven festgehalten, aber jetzt, im letzten Moment, riss der Leichnam sich los, schoss nach vorn, schob den Regenumhang beiseite und rutschte halb die Treppe hinunter.
Die Blicke richteten sich auf Sten, als wäre das seine Schuld, doch davon wollte er nichts wissen. Das war jetzt das Problem des Sanitäters – er hatte die Sache schließlich in die Hand genommen, oder? Er war der Profi. Sollte er sehen, wie er damit zurechtkam. Für einen kurzen, verdutzten Augenblick starrten alle nur, und dann sprang der Sanitäter – klein, untersetzt, mit einem zu dicken Hintern und einem Gesicht, so rund wie der Vollmond – fluchend auf, stieg die Stufen hinunter und versuchte, den Leichnam aufzurichten, doch er hatte offenbar große Schwierigkeiten, denn der Tote lag jetzt seitlich da, so dass der Kopf in einem steilen Winkel herabhing. »Kann mir mal einer helfen?«, keuchte der Sanitäter, doch keiner rührte sich, jedenfalls nicht rasch genug – sie waren schließlich alt, allesamt alte Leute –, und so griff er dem Toten unter die Schultern, stützte den Kopf, so gut es ging, und zog ihn die Treppe hinunter.
In diesem Augenblick stand Bill – der andere Bill, der mit den Haaren – auf, ging mit kleinen Schritten hin, bückte sich und nahm die Füße des Mannes, aber im letzten Moment entglitten sie ihm und schlugen auf dem heißen Asphalt auf wie tote Fische. Das Geräusch war leise, kaum wahrnehmbar, das kurze, dumpfe Klatschen, mit dem lebloses Fleisch auf unnachgiebige Materie prallt, doch es ließ den ganzen Bus erzittern wie ein Donnerschlag. Sten spürte Carolee zusammenzucken. Alle hielten den Atem an.
Der Sanitäter hatte schon Schlimmeres gesehen. Er schien die Schultern zu zucken und zog seinen Patienten über den Bordstein auf den Bürgersteig, während Bill sich bückte und es schaffte, die abgeschürften Fersen zu packen und anzuheben. »Wir legen ihn hin«, hörten sie den Sanitäter sagen. »Nein, nicht in den Dreck – hier, hier auf den Bürgersteig.« Unbeholfen und tief gebeugt schwang Bill die Beine des Mannes herum, während der Sanitäter ihn langsam hinlegte – Hintern, Schultern, eine Hand stützte behutsam den Kopf –, und dann lag ihre gemeinsame Last, ganz harmlos jetzt, zwischen...