EINS
Sie war spät dran, sie war immer spät dran, es war einer ihrer Fehler, das wußte sie, aber dann konnte sie ihre Handtasche nicht finden, und als sie sie endlich gefunden hatte (am Garderobenständer im Flur, unter der dunkelblauen Kordjacke), mußte sie die Schlüssel suchen. Die hätten in der Tasche sein sollen, aber da waren sie nicht, und so drehte sie eine Runde durch die ganze Wohnung –zwei Runden, drei –, bevor sie auf den Gedanken kam, in den Taschen der Jeans nachzusehen, die sie gestern getragen hatte, aber wo war die? Keine Zeit für Toast. Kein Toast, kein Frühstück. Sie hatte keinen Orangensaft mehr. Keine Butter, keinen Frischkäse. Die Zeitung auf der Fußmatte war nur ein weiteres Hindernis. Pißwarmer – war das ein angemessenes Wort? Ja! – pißwarmer Kaffee aus einem fleckigen Becher, eine kurze Überprüfung von Frisur und Lippenstift im Rückspiegel, und dann ließ sie den Wagen an und setzte zurück auf die Straße.
Ein Lieferwagen kam ihr entgegen, und vielleicht hinterließ er einen flüchtigen Eindruck, ebenso wie der Hund, der an einem dunklen Fleck auf dem Bürgersteig schnupperte, oder ein Rasensprenger, der das Licht in einem Schimmern aus durchscheinenden Perlen einfing, doch das unaufhörliche Vibrieren des Adrenalins – vielleicht waren es auch die Nerven oder sonst irgendwas – ließ nicht zu, daß sie das alles wirklich wahrnahm. Außerdem blendete sie die Sonne – wo war ihre Sonnenbrille? Sie hatte sie doch noch auf dem Schreibtisch gesehen, mitten in einem Durcheinander aus Halsketten und Ohrringen – oder auf dem Küchentisch, neben den Bananen, und sie hatte noch überlegt, ob sie eine Banane mitnehmen sollte, Fast food, Kalium, Kohlehydrate, hatte dann aber doch keine eingesteckt, denn bei Dr. Stroud war es besser, gar nichts im Magen zu haben. Luft. Luft allein würde genügen.
Losstürzen, sich hetzen, sich aufreiben – Wörter mit germanischen Wurzeln und dieser traurigen Konnotation. Sie dachte nicht klar. Sie war gestreßt, sie war übermäßig gestreßt, sie war spät dran. Aber als sie am Ende des Blocks an die Kreuzung mit dem Stoppschild kam, hatte sie das Gefühl, doch noch ein bißchen Glück zu haben, denn es war niemand in Sicht, für den sie hätte halten müssen – doch als sie tat, als würde sie bremsen, mit einem routinierten Tippen aufs Gas in den zweiten Gang hinunterschaltete und über die Kreuzung fuhr, sah sie den parkenden Streifenwagen im dunkelvioletten Schatten eines Geländewagens.
Für einen Augenblick stand die Zeit still. Der Polizist saß starr am Steuer seines Wagens, sie warf ihm einen hilflos entschuldigenden Blick zu, und dann war sie auch schon an ihm vorbei und verfluchte sich selbst, als sie sah, daß er träge wendete und die Blinklichter auf dem Dach einschaltete. Mit einemmal nahm sie die Welt als Ganzes wahr: die Palmen mit ihren Ananasstämmen und den sich abschälenden Röcken, die stachlig aufragenden Yuccas, die sich die Hügelflanke hinaufarbeiteten, gelbe Felsen, rote Felsen, einen anthrazitgrauen Pick-up, dessen Fahrer langsamer fuhr, um ihr einen neugierigen Blick zuzuwerfen – sie hatte inzwischen auf dem erdbraunen Seitenstreifen gehalten –, rechts unterhalb von ihr war der Hang mit den Ziegeldächern, in der Ferne die blaue Verheißung des Pazifiks. Keine Eile jetzt, überhaupt keine Eile mehr. Sie sah im Außenspiegel, wie der Polizist seine Tür öffnete, den Gürtel hochzog (das taten sie alle, als wäre dieser Gürtel mit dem Reizgasspray, den Handschellen und dem harten schwarzen Revolver die einzig nötige Legitimation) und mit steifen Schritten zu ihrem Wagen kam.
Sie hatte Führerschein und Zulassung in der Hand und bot sie ihm dar wie eine Opfergabe, doch er nahm sie nicht, noch nicht. Er sagte etwas, sein Kiefer bewegte sich, als kaute er auf einem Stück Knorpel, aber was sagte er? Es war nicht Führerschein und Fahrzeugpapiere, aber was war es dann? Ist das da oben die Sonne? Was ist die Wurzel aus hundertvierundvierzig? Wissen Sie, warum ich Sie angehalten habe? Ja, das war es. Und sie wußte es. Sie hatte ein Stoppschild nicht beachtet. Weil sie so in Eile war – in Eile, zum Zahnarzt zu kommen, ausgerechnet – und weil sie spät dran war.
»Ich weiß«, sagte sie, »ich weiß, aber... aber ich hab runtergeschaltet...«
Er war jung, dieser Polizist, nicht älter als sie, ein Gleichaltriger, ihre Generation, im Velvet Jones oder in einem anderen Club an der State Street hätte sie neben ihm – oder mit ihm – tanzen können. Seine Augen waren zu groß und standen vor wie bei einem Boston Terrier – wie war noch mal der Fachausdruck dafür? Exophthalmus. Trotz der vertrackten Situation verspürte sie kurz eine warme Befriedigung. Aber der Polizist... Zusammen mit den wäßrigen, weinerlichen Augen verlieh das weiche Kinn seinem Gesicht etwas Unfertiges, als wäre er gar kein Gleichaltriger, sondern ein Bürschchen, ein Jüngelchen mit einem zu großen Kopf, das sich, herausgeputzt mit einer geschniegelten Uniform, zum Vertreter der Staatsgewalt aufwarf. Sie sah, wie sein Ausdruck sich veränderte, als sie sprach, aber daran war sie gewöhnt.
Er sagte noch etwas, und diesmal erriet sie es gleich und reichte ihm den laminierten Führerschein und die Zulassungskarte, und im selben Augenblick rutschte ihr die Frage heraus, was denn eigentlich los sei, obwohl sie wußte, daß ihr Gesicht sie verraten würde. Wenn sie jemanden etwas fragte, zog sie immer die Augenbrauen zusammen und sah dann vorwurfsvoll oder gar wütend aus – sie hatte versucht, das abzustellen, allerdings ohne großen Erfolg. Er trat einen Schritt zurück und sagte noch etwas – vermutlich, daß er zu seinem Wagen gehen, die Standardüberprüfung ihrer Papiere vornehmen und den Standardstrafzettel ausstellen würde, weil sie ein Standardstoppschild überfahren hatte –, aber diesmal hielt sie den Mund.
In den ersten paar Minuten merkte sie gar nicht, daß die Zeit verging. Sie dachte nur daran, was sie das kosten würde, an die Punkte im Verkehrssünderregister, den Aufschlag bei der Versicherung – war das mit dem Strafzettel für zu schnelles Fahren letztes oder vorletztes Jahr gewesen? – und daran, daß sie jetzt unweigerlich zu spät kommen würde. Zum Zahnarzt. Das alles nur wegen dem Zahnarzt. Und wenn sie zu der Behandlung, die mindestens zwei Stunden dauern würde – das hatte man ihr, zur Vermeidung von Mißverständnissen, schriftlich mitgeteilt –, zu spät kam, würde sie nicht rechtzeitig zum Unterrichtsbeginn in der Schule sein, und niemand würde sie vertreten. Sie überlegte, wie sie das Problem des Telefonierens lösen könnte – wahrscheinlich müßte die Sprechstundenhilfe das übernehmen, aber dennoch: Was für ein Theater! Warum dauerte das so lange? Am liebsten hätte sie sich umgedreht und einen vernichtenden Blick auf die gleißende Windschutzscheibe geworfen, aber sie beherrschte sich und senkte die linke Schulter, um in den Außenspiegel zu sehen.
Nichts. Sie erkannte nur eine Gestalt, die Gestalt des Polizisten, ein massiger Schatten mit gesenktem Kopf. Sie sah auf die Uhr im Armaturenbrett. Seit zehn Minuten saß er jetzt schon in seinem Wagen. Sie fragte sich, ob er lernbehindert war, ein Legastheniker, einer, der sich nur schlecht an den Paragraphen erinnerte, gegen den sie verstoßen hatte, der den Bleistiftstummel mit ungeschickten Fingern hielt und besonders fest aufdrückte, wegen des Durchschlags. Ein Dussel, ein Trottel, ein Schwachkopf. Ein Neandertaler. Sie ließ das Wort über ihre Zunge rollen, Silbe für Silbe – Ne-an-der-ta-ler –, und betrachtete im Rückspiegel die Bewegungen ihres Mundes.
Sie dachte an den Zahnarzt, diesen unermüdliche Plauderer mit Augenbrauen, die über sein Gesicht zu kriechen schienen, wenn er sich über sie beugte, und der offenbar gar nicht merkte, daß sie nur mit Grunzern antworten konnte, weil die Wattebäusche ihre Zunge behinderten und der Absaugschlauch an der Lippe zerrte, als die Tür des Polizeiwagens blitzend aufschwang und der Polizist ausstieg. Etwas war nicht in Ordnung. Seine Körpersprache war verändert, ganz und gar verändert: Die Beine waren nicht mehr steif, er hatte die Schultern nach vorn gezogen, und seine Schritte wirkten übertrieben vorsichtig. Sie sah in den Rückspiegel, bis das Gesicht des Mannes ihn ganz ausfüllte – sein Mund war hart und schmal, die zusammengekniffenen Augen blickten unsicher –, und dann wandte sie ihm den Kopf zu.
Das war der erste Schock.
Er stand drei Schritte von ihrer Tür entfernt, zielte mit dem Revolver auf sie und sagte irgendwas über ihre Hände – er bellte sie an, sein Gesicht war wutverzerrt –, und er mußte es mehrmals wiederholen und wirkte immer wütender, bis sie endlich verstand: Lassen Sie Ihre Hände da, wo ich sie sehen kann!
Zuerst hatte sie vor lauter Angst nichts sagen können. Sie hatte stumpf gehorcht, eingeschüchtert von der elementaren Gewalt des Augenblicks. Er hatte sie, noch immer den Revolver in der Hand, aus dem Wagen gezerrt, ihr Gesicht an das heiße Blech und Glas gepreßt, ihre Arme auf den Rücken gedreht, um ihr die Handschellen anzulegen, sich mit seinem ganzen Gewicht gegen sie gelehnt und mit dem Amboß seines Knies ihre Beine auseinandergedrückt. Dann hatte er sie abgetastet, erst die Knöchel, dann die Beine hinauf bis zu den Hüften, dann den Bauch, die Achselhöhlen, prüfend, forschend. Sie hatte seine scharfe männliche Ausdünstung gerochen, die Verachtung und Wut, und bei den Frikativ- und Plosivlauten hatte sie seinen heißen Atem am Ohr gespürt. Er war energisch, geradezu brutal gewesen und hatte ihr nichts erspart. Vielleicht hatte er ihr Fragen gestellt oder Anweisungen gegeben, vielleicht hatte er...