Bracher | Die Verdächtigung | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Bracher Die Verdächtigung


1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-86241-607-3
Verlag: Assoziation A
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-86241-607-3
Verlag: Assoziation A
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Beatriz Bracher verarbeitet in dem Roman »Die Verdächtigung« das gesellschaftliche Trauma der brasilianischen Militärdiktatur von 1964 bis 1985, das sie anhand eines Einzelschicksals darstellt. Durch eine Sprache von seismografischer Genauigkeit gelingt es ihr auf exemplarische Weise, die persönlichen Tragödien und inneren Konflikte der Menschen unter der Militärdiktatur nachempfindbar zu machen. Ihr Roman ist zugleich eine über den zeitgenössischen Kontext hinausweisende Auseinandersetzung mit der Frage von Schuld, Verantwortung und der Bosheit falscher Verdächtigung.

Beatriz Bracher wurde 1961 in São Paulo geboren. Sie studierte Literaturwissenschaften und war Mitbegründerin der Zeitschrift »34 Letras«, später des Verlags »Editora 34«, in dem sie acht Jahre als Lektorin tätig war, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Beatriz Bracher gilt als eine der herausragenden Stimmen der brasilianischen Gegenwartsliteratur. 2008 erhielt sie für ihren Roman »Antonio« (2007, dt. Übersetzung 2013, Assoziation A) den Prêmio Jabuti, den wichtigsten Literaturpreis Brasiliens. Beatriz Bracher ist auch eine erfolgreiche Drehbuchautorin. Für »Meu Amor« erhielt sie beim Filmfestival in Rio de Janeiro 2009 den Preis für das beste Drehbuch. »Die Verdächtigung« ist ihr zweiter auf Deutsch erschienener Roman.

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Ich lese weiter, mal sehen, wie José diese Szene beschreibt. Vielleicht ist sein Gedächtnis durch sein reges Phantasieren besser als meins. Ich kann mich nicht an ein Wort meiner Eltern erinnern, das uns verboten hätte, an den schwarzen Flötenkasten zu gehen, oder Vater zu bitten, uns etwas vorzuspielen. Aber das Thema durfte so wenig berührt werden wie der schwarze Flötenkasten selbst, das wussten wir. Immer nur samstags nach dem Mittagessen, bevor seine Freunde zur Roda eintrafen, übte unser Vater ein bis zwei Stunden. Wir saßen dann um ihn herum, unterhielten uns im Flüsterton oder lasen, Mutter nähte etwas an einem unserer Kleidungsstücke oder spülte das Mittagsgeschirr, aber immer wussten wir, Vater spielte nicht für uns, wie bei einer konzentrierten Lektüre, die wir nicht unterbrechen durften und an der wir nicht teilhaben konnten. Vielleicht hat man es uns so nie gesagt, aber wir wussten es, ich wusste es, und ich nehme an, José auch, denn wir haben unseren Vater nie gebeten zu spielen, obwohl wir sehr oft (und daran erinnere ich mich gut) den Wunsch hatten, es zu tun. Die Isolation, in der Vater sich dann jedes Mal befand, glich einer schwebenden Traumblase. In diesen Stunden gab ich immer vor, auf dem Parkettboden liegend ein Buch zu lesen, und kontrollierte die Bewegungen meines Kopfs und meiner Füße, damit er nicht merkte, dass ich ihm zuhörte, nicht merkte, wie sehr ich es genoss. Aus irgendeinem Grund wusste ich, meinem Vater gefiel das nicht, und ich fürchtete, er würde nie wieder spielen, wenn wir in der Nähe waren. Armandos Ahnungslosigkeit öffnete Vaters schwarzen Kasten, und heraus kam die reine Musik. Musik für Armando, Musik mit Armando; eine fröhliche Komplizenschaft von Schüler und Meister, die ich nie zuvor erlebt hatte und die sich weder auf andere Momente mit unserem Vater oder das Leben zu Hause ausweitete noch es vergiftete. Die Scheu und Musik eines Joaquim Ferreira übersetzte Dona Joana ihren Kindern mit tiefem Verständnis und sensiblem Gespür. Sie lehrte uns Verehrung und die Ehrfurcht vor einer höheren und erhabenen Macht, vor ihrem Wüten, vor dem wir uns in Acht nehmen und das wir meiden sollten, indem wir eben dieser Macht keinen Grund dafür gaben. Armandos Gegenwart, durch die meine eigene Kindlichkeit sichtbar wurde, verwandelte meinen Vater in einen Menschen mit einer Passion. Sollte es irgendwelche Zweifel daran gegeben haben, dass Renato Armandos Sohn war, sollte ich sie gehabt haben, mehr aus einer Ablehnung Luizas heraus als aus anderen Gründen, so wurden sie zerstreut, als der Junge elf, zwölf Jahre alt war, das Alter, in dem ich seinen Vater kennengelernt hatte. Lígias Blick veränderte sich, und die Schmeicheleien des Jungen machten mich wütend. Ich entdeckte etwas an Renato, das mir an Armando früher Angst gemacht hatte und das ich nicht hätte benennen können: die Macht der Verführung als Überlebensstrategie. Nach ein paar Monaten verlor Armando das Interesse an der Cavaquinho und sein Enthusiasmus schlug um in Langeweile, was bei ihm recht normal war. Aber was Armando in Joaquim Ferreira geweckt und was den schwarzen Flötenkasten geöffnet hatte, war nicht mit dieser Gabe des Flüchtigen ausgestattet. Vater begriff Armandos Begeisterung für seine Musik nicht als die Laune eines Jungen, und es tat mir weh, das herablassende Verhalten meines Freundes mitzuerleben, der sich genötigt fühlte, dem Flötisten für seine Großzügigkeit zu danken, der seinerseits verunsichert lachte, weil die neue Situation ungewohnt für ihn war, und der den jeden Tag besser und desinteressierter werdenden Cavaquinho-Spieler zu motivieren versuchte. Als Jugendliche sind es unsere Freunde, an die wir uns heften. Alles Mögliche lockt uns von zu Hause weg, und wir kehren jedes Mal vor Kraft nur so strotzend an diesen Ort zurück, der uns nun auf einmal spießig erscheint. In dieser Zeit vermehren sich unsere Zellen, und wir nehmen plötzlich Gerüche wahr, die wir nicht verstehen, aber wollen. Eliana wuchs heran und mit ihr ein Geruch, der mich wahnsinnig machte, was ich nicht verstand und mir auch nicht eingestand. Und sie wuchs und wurde und wusste nichts von ihrem eigenen Geruch und seiner Wirkung auf mich. Ich liebte ihre Art zu lachen, erst unterdrückt, dann offen und feucht. In meiner Erinnerung sind ihre Zähne für immer strahlend weiß. Feuchte Steinchen, die aussahen wie … keine Ahnung was, etwas Köstliches und Unantastbares. Die anderen mussten dann über ihr verzögertes Lachen lachen, sie selbst errötete, und diese Farbe ist, was mir noch am Lebendigsten vor Augen steht. Golden und geschmeidig. Eine runde Messingvase, auf der sich der Sonnenuntergang spiegelt. Es gab kein Wort für den rosafarbenen Schimmer auf ihren Wangen, der sich auf ihrem ganzen, schon strahlenden Gesicht ausbreitete. Ich zitterte, als ich diese Haut berühren durfte. Wir glauben, Jugendliche seien törichte Wesen, aber noch heute muss ich daran denken, wie ich den Mut fand, ihr Gesicht zu berühren. Würde mich heute etwas mit dieser gewaltigen Intensität verzaubern, hätte ich wohl kaum den Mut, den ich damals hatte. Ich zitterte, wollte mich auf dem Weg, den ich gedanklich so oft genommen hatte, langsam vortasten, noch vor der Haut den Haarflaum fühlen, nun ganz real. Und sie schloss die Augen, öffnete leicht die Lippen und schenkte mir endlich diese blitzende Steinchen. So ist es gewesen. Ich habe die Briefe gefunden, beziehungsweise die Berichte. Es sind gute Dokumente, rein formal nicht so schlimm, wie ich sie in Erinnerung hatte, und inhaltlich relevant. Irgendetwas läuft schief im Bildungsapparat. Der humanistische Messianismus, die revolutionäre Katechese und der utilitaristische Pragmatismus haben sich in Luft aufgelöst, die Lehrer straucheln und gehen unter, die Schuld gibt man den Schülern. Die Eltern verlangen eine Disziplin, die sie nicht durchsetzen, die Schüler einen Respekt, den sie selbst nicht aufbringen, die Lehrer einen Sinn, den sie in ihrem Leben nicht finden. Von der Schule wird erwartet, was einem im Leben nicht gelingt. Und dieses unzufriedene Leben überflutet die Schulen mit der zerstörerischen Gewalt eines Seebebens. Die Direktoren fechten ihre Kämpfe aus und wissen nicht, welcher Krieg es eigentlich ist, an dem sie da teilnehmen. Wozu noch erziehen? Wozu noch Menschen zu freien, couragierten, kritischen und richtungsweisenden Bürgern heranziehen? Zu Bürgern mit einem eigenen Ziel in jedem Jahrzehnt? Ja, und nun? Es gibt keinen anderen Ausweg als die Komplexität. Die Komplexität der Welt, des Landes, der Stadt, des Viertels und der Familie; der Komplexität jeder einzelnen Disziplin; vor allem des Menschen. Kindheit, Jugend, Erwachsensein, Alter und Tod. Der Mensch, dieses nervige Wesen, das einen Bruder hat, Bruder des Vaters, Bruder der Mutter, ein Kind, neidisch ist, einen Schwager hat, baden muss, sich rasieren, zu einer Besprechung gehen, die Brotkrümel wegmachen muss, eifersüchtig ist, Geld hat, kein Geld hat, Zeit hat, Wut und Langeweile. Eliana war zurückhaltend. In Armandos Gegenwart wurde sie noch stiller, meiner Meinung nach ein wenig zu ergeben. Sie selbst hätte von sich gesagt, sie sei einfach aufmerksam und interessiere sich für die Ideen des Bruders, dabei war sie immer sprungbereit, ihm etwas zu trinken oder die speziellen Armando-Nüsse zu holen. Die nach Armando benannten, berühmten Gerichte waren von Haus zu Haus ein wenig anders, sein Gaumen war eklektisch, könnte man sagen. Oder auch, dass er wie ein Don Juan die Fähigkeit besaß, aus jeder Köchin das Beste herauszuholen. Eliana aber kochte nun mal nicht gern, und darum trank er bei uns Bier und aß diese großen Cashew-Nüsse, die Eliana dann einfach rasch röstete. Im Umgang mit Dona Esther war Eliana ungeduldig. Sie wurde zu einem einfältigen Kind, wenn sie mit ihrem Bruder oder ihrer Mutter zusammen war. Als Grundlage für das Schreiben der Berichte wollte ich mit den künftigen Lehrern sprechen, mit Studenten der Fächer Geschichte, Geografie, Biologie, Chemie, Mathematik, Physik und Portugiesisch, junge Burschen um die zwanzig, einundzwanzig, die als Teil ihres Lehramtsstudiums jedes Jahr im Unterricht der Grundschule und der Sekundarstufe hospitieren mussten. Ich hörte auf, selbst zu reden, und versuchte, den für die Umschulungskurse verantwortlichen Lehrern zuzuhören, jenen, die die Verzweiflung und den Verdruss der amtierenden Lehrer ganz direkt zu hören bekamen. Was hatten diese Leute gesehen und gehört? Ich interviewte ein paar Direktoren und Lehrer; besuchte die Unterrichtsräume, die Flure, bestätigte den Bestand der Bibliotheken, die Einhaltung der Ordnung und Sauberkeit, das Vorhandensein von Computerräumen, wohnte einigen Lehrerkonferenzen bei. Ich sprach mit Eltern und Schülern, mit Administratoren, Koordinatoren, Pädagogen, mit Leitern und stellvertretenden Leitern der einzelnen Abteilungen des Ministeriums für Bildung und Kultur. Und genau wie die junge Frau Teresa hatte ich das Gefühl, mich eher auf der Suche nach Fragen zu befinden als auf der Suche nach Antworten. Mit dem Regierungswechsel vor zwei Jahren erhielt ich einen Ruf ans Ministerium für Bildung und Kultur, lehnte sofort ab und fragte mich erst im Nachhinein, warum eigentlich. Lígia war...


Beatriz Bracher wurde 1961 in São Paulo geboren. Sie studierte Literaturwissenschaften und war Mitbegründerin der Zeitschrift »34 Letras«, später des Verlags »Editora 34«, in dem sie acht Jahre als Lektorin tätig war, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Beatriz Bracher gilt als eine der herausragenden Stimmen der brasilianischen Gegenwartsliteratur. 2008 erhielt sie für ihren Roman »Antonio« (2007, dt. Übersetzung 2013, Assoziation A) den Prêmio Jabuti, den wichtigsten Literaturpreis Brasiliens. Beatriz Bracher ist auch eine erfolgreiche Drehbuchautorin. Für »Meu Amor« erhielt sie beim Filmfestival in Rio de Janeiro 2009 den Preis für das beste Drehbuch. »Die Verdächtigung« ist ihr zweiter auf Deutsch erschienener Roman.



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