E-Book, Deutsch, 736 Seiten
Brandhorst Das Erwachen
17001. Auflage 2017
ISBN: 978-3-492-97802-6
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thriller
E-Book, Deutsch, 736 Seiten
ISBN: 978-3-492-97802-6
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Andreas Brandhorst, geboren 1956 im norddeutschen Sielhorst, schrieb mit seinen futuristischen Thrillern und Science-Fiction-Romanen wie »Das Schiff« und »Omni« zahlreiche Bestseller. Spektakuläre Zukunftsvisionen sind sein Markenzeichen. Zuletzt erschien im Piper Verlag der Roman »Infinitia«.
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1 Axel Krohn
Hamburg
Minus neun
Mssgr.: Gitty 3.1, verschl., Codierung Elliptic Curve, sichere Verbindung best. Von: Rosebud An: AK47 Mssg.: Freut mich sehr, dass Sie erfolgreich gewesen sind. Wir treffen uns um 23:00 am alten Hafen, im Büro des Kontorhauses. Seien Sie pünktlich, ich warte nicht gern. (Ranking: 31) Mssgr.: Gitty 3.1, verschl., Codierung Elliptic Curve, sichere Verbindung best. Von: AK47 An: Rosebud Mssg.: Einverstanden. Ware gegen Geld, wie vereinbart. (Ranking: 314) |
Der Treffpunkt beim alten Hafen gefiel ihm nicht: zu dunkel, zu abgelegen, ideal für eine Falle. Axel Krohn stellte den Motor des alten Ford ab, den er in einem mehrere Kilometer entfernten Parkhaus gegen seinen Tesla eingetauscht hatte, und spähte in die Nacht.
Zweifel stiegen in ihm auf. Weshalb ließ er sich auf so ein Treffen ein, noch dazu an einem solchen Ort? Geschäfte dieser Art ließen sich leicht und sicher über das Netz erledigen. Aber diesmal ging es um wirklich viel Geld, eine ganze Million, und der Kunde namens Rosebud hatte auf einer persönlichen Begegnung bestanden.
Axel berührte das Display seines Handys, das ihn mit dem Darknet verband, und überprüfte den Messenger. Keine neuen Nachrichten von Rosebud. Dessen Ranking war sogar noch besser geworden, von 31 auf 30. Offenbar hatte er in der Zwischenzeit zwei oder drei andere Geschäfte getätigt und gute Bewertungen erhalten, was darauf hindeutete, dass er kein Endkunde war, sondern ein Zwischenhändler, der gelegentlich auf die Dienste von Spezialisten zurückgriff. Er schien tatsächlich vertrauenswürdig, jedenfalls vertrauenswürdig genug für eine persönliche Begegnung.
Axel Krohn stieg aus und hörte das Klicken der automatischen Türverriegelung. Weit und breit war kein anderes Fahrzeug zu sehen.
Ein Regentropfen fiel ihm auf die Stirn, als er an den Gebäuden auf der rechten Seite emporsah. Links strömte träge und dunkel das Wasser der Elbe. Axel klappte den Kragen seiner Jacke hoch und ging los. Das alte Kontorhaus ragte hundert Meter vor ihm auf, alle Fenster ohne Licht. Als er es erreichte, regnete es in Strömen.
Die Tür stand offen.
Axel blieb vor dem Eingang stehen, unter dem kleinen Vordach, auf das der Regen prasselte, und sah auf die Uhr. Zwei Minuten vor elf. War Rosebud noch nicht eingetroffen?
Er betrat das dunkle, stille Gebäude. Das Flackern eines Blitzes warf für Sekundenbruchteile helles Licht in die Eingangshalle und riss eine breite Treppe aus der Finsternis. Das ehemalige Büro des seit vielen Jahren leer stehenden Kontorhauses befand sich im zweiten Stock.
Axel hatte den Fuß auf die erste Stufe gesetzt, als er ein Geräusch zu hören glaubte: ein leises Knirschen wie von einem vorsichtigen Schritt auf schmutzigem Boden. Er hielt den Atem an und lauschte mit offenem Mund. Nichts. Alles blieb still.
Langsam ging er die Treppe hoch und dachte dabei an den Stick in seiner Hosentasche und die Daten, die darin gespeichert waren, zusammen mit einem kleinen Programm, das er selbst entwickelt hatte. Die Daten betrafen einen Zugang zu den Computersystemen der Europäischen Zentralbank, und das kleine Programm, Intruder genannt, ermöglichte es, Kontrolle über sie zu erlangen. Axel wollte es an diesem Abend verkaufen, für eine satte Million.
Er wusste nicht, was Rosebud – oder dessen Kunden – mit den Daten und dem Intruder anstellen wollte. Geld abzweigen und auf irgendwelche Offshore-Konten überweisen? Manipulation der internationalen Finanzsysteme, einzelner Banken oder des Euro? Ging es um Geld oder Politik? Um etwas Kleines, vielleicht nur die Beobachtung interner Vorgänge und Entscheidungswege, oder etwas Großes, zum Beispiel einen Anschlag auf das finanzielle Herz von Europa? Im Darknet, dem tiefen, dunklen Teil des Internets, tummelten sich längst nicht mehr nur gewöhnliche Kriminelle, sondern auch politische Fanatiker, Terroristen und Geheimdienste, wobei die Grenzen fließend waren.
Im ersten Stock blieb Axel stehen und horchte. Nichts. Nur Regentropfen, die gegen schmutzige Scheiben prasselten, und ein gelegentliches, den Blitzen folgendes Donnern. Gab es hier Infrarotkameras, von Rosebud in der Dunkelheit versteckt? Axel trug eine Maske, eine hauchdünne Schicht aus bioaktivem Kunststoff, die seine Gesichtszüge veränderte und eine biometrische Identifikation verhinderte. Für gewöhnliche Gesichtserkennungssoftware blieb er unerkannt, aber Spezialprogramme ließen sich davon nicht täuschen. Doch damit war an diesem Ort kaum zu rechnen.
Es sei denn, seine Vergangenheit hatte ihn eingeholt und dies hier war eine Falle. Für einen Moment dachte Axel Krohn, in einem früheren Leben Aram Kaynak aus Kurdistan, über die Möglichkeit nach, dass seine alten Freunde, die zu Feinden geworden waren, einen Hinterhalt vorbereitet hatten. Sie suchten ihn seit Jahren.
Axel blickte nach oben, und das grelle Flackern eines weiteren Blitzes zeigte ihm ein leeres, staubiges Treppenhaus.
Vorsichtig ging er weiter, hielt mehrmals inne und lauschte in die Finsternis. Die Tür zum Büro im zweiten Stock war geschlossen. Axel zögerte kurz, bevor er sie öffnete und eintrat.
Vor ihm zeichneten sich die Umrisse alter Schreibtische und Büroschränke ab. Axel blickte noch einmal auf seine Armbanduhr. Eine Minute nach elf.
»Ich bin pünktlich!«, sagte er laut. »Sind Sie es ebenfalls?«
Keine Antwort. Draußen prasselte noch immer der Regen.
Axel Krohn ging am ersten Schreibtisch vorbei. Ein seltsam scharfer Geruch lag in der Luft.
Hinter dem nächsten Schreibtisch saß jemand, weit nach vorn gebeugt, sodass sein Oberkörper auf der Tischplatte und der Kopf auf den Armen lag.
»Rosebud?«, fragte Axel.
Die Gestalt, offenbar ein Mann, antwortete nicht. Sie schien zu schlafen.
Axel näherte sich, streckte die Hand aus und berührte den Mann an der Schulter. Der geriet in Bewegung, und der Bürostuhl unter ihm knarrte, als der Mann zur Seite kippte, fiel und mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden aufschlug.
Dunkle Flüssigkeit tropfte mit einem leisen Plop, plop vom Schreibtisch.
Plötzlich begriff Axel, woran ihn der scharfe Geruch erinnerte. Er stammte nicht vom Blut auf dem Schreibtisch, sondern von einer Schusswaffe. Der Mann, der neben dem Bürostuhl lag, war erschossen worden.
2 Der zweite Tote lag weiter hinten, zwischen mehreren leeren Abfallkörben. Axel starrte einige Sekunden auf die Leiche hinab, bevor er sich bückte und sie auf den Rücken drehte. Ein weiterer Mann. Das unvertraute Gesicht blieb halb in der Dunkelheit verborgen, aber das blutige Loch in der Schläfe war deutlich zu sehen. Zwei Tote. Wer von ihnen war Rosebud? War einer von ihnen Rosebud?
Die wichtigere Frage lautete: Befand sich der Mörder noch in der Nähe?
Axel drehte den Kopf und ließ den Blick durchs Büro schweifen. Die Dunkelheit machte es leicht, sich zwischen den Schreibtischen und Schränken zu verstecken. Der Mörder konnte dort noch immer auf der Lauer liegen und ihn beobachten.
Axel griff in die Jackentasche, holte die kleine Stiftlampe hervor, die er zu dem Treffen für alle Fälle mitgebracht hatte, und schaltete sie ein. Ihr Licht wanderte durchs Büro, er sah aber nur Tische, leere Schränke und alte Kabelbündel an den Wänden.
Axel wandte sich wieder dem Toten zu und begann damit, ihn zu durchsuchen. Seine Taschen waren leer. Keine Brieftasche, keine Ausweise irgendwelcher Art, keine Schlüssel – nichts. Ein Mann ohne Namen, vierzig oder fünfundvierzig Jahre alt, schmales Gesicht, kurzes schwarzes Haar … ein Loch in der linken Schläfe. Ein Fremder, den Axel nie zuvor gesehen hatte. Er tastete über Nase und Wangen. Keine Maske, keine biometrische Tarnung.
Zwei rasche Schritte – er hatte plötzlich das Gefühl, dass die Zeit drängte – brachten ihn zur ersten Leiche. Der Mann wirkte älter. Im Licht der Stiftlampe sah Axel schütteres Haar und graue, ins Nichts starrende Augen. Zwei Kugeln hatten ihn...