E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Reihe: Servus Krimi
Brandstetter Perchtenjagd
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7104-5224-6
Verlag: Servus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Meiberger-Krimi
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Reihe: Servus Krimi
ISBN: 978-3-7104-5224-6
Verlag: Servus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Maries Mutter wusste nicht, wie es passiert war. Ihre Tochter hatte sich seit Wochen darauf gefreut. Auf die Mandeln, die Lichterketten. Sie war noch nie auf dem Adventmarkt in St. Wolfgang gewesen. Und es war das Größte für sie. Vor Aufregung hatte sie ihre Hand gedrückt. Dann waren die Perchtenläufer gekommen. Und Marie war nicht mehr da. Sie hätte ihre Tochter nie losgelassen. Nie. Ob der Entführer einer der Perchten war, konnte sie nicht sagen. Nur dass Marie nicht weggelaufen wäre. Das war alles, woran sie denken konnte. Und an die Kälte in der alten Salzburger Polizeiinspektion. Nicht nur ihre Gedanken waren gelähmt, auch ihr Körper. Von dem Eisblock, der sich jetzt in ihrem Hals formte. Nie hätte sie Marie losgelassen. Oder doch? Sie hatte ihr Kind verloren. Sie war schuld. Sie hatte Marie verloren. Der Psychologe schaute sie jetzt an. Mehr noch. Er schaute direkt in sie hinein. Wortlos. Die einzige Stimme war die aus dem Nebenzimmer. Von dem Polizisten, dem, der so hieß, wie Nestroy. »Wenn ma das Kind nicht hamm’, bevor’s finster wird, dann sinkt die Chance, dass ma’s lebend finden, unter zehn Prozent.« Ihr Verstand hatte an dieser Stelle einen Knoten bekommen. Sie wünschte sich, ihn zu verlieren. Die Wand, hinter der sie die Stimme hörte, war alt. Eine blöde Gipswand, die grinste, mit ihren Rissen, die sie auslachte. Ein verfallenes Lachen in abblätterndem Kalk. Maries Mutter wollte ihre Stirn dagegenschlagen. So fest sie konnte. So oft sie konnte. Bis keine Gedanken mehr da waren. Der Blick des Psychologen hinderte sie daran. In seinen Augen war kein Trost, nur eine Erinnerung. Daran, dass Marie sie brauchte. Auf die Polizei konnte sie sich nicht verlassen, und der Psychologe, so viel hatte sie verstanden, tat das auch nicht. Sein Griff war fest, als er ihr aufhalf. Sein Blick zu den diensthabenden Beamten glich einem Kommando. In diesem Moment wusste sie, dass er mehr als ein psychologischer Betreuer war. Die beiden Polizisten, die jetzt aus dem Nebenzimmer kamen, taten, was er sagte, und das machte ihn zu ihrer letzten Hoffnung. Der Name des Psychologen war Meiberger, und er las diesen Gedanken in ihren Augen, konnte aber nicht darauf eingehen. Zu sehr war er mit einer Hypothese beschäftigt, die seit dem Verschwinden der kleinen Marie in seinem Kopf Form annahm, die er aber noch nicht ganz greifen konnte. Eine Hypothese, die das Einzige war, was das kleine Mädchen in seinen Augen noch retten konnte. Meiberger hielt sich dabei an einem Gesetz aus der Psychologie fest. Einem sogenannten Gestaltgesetz. Dieses besagt, dass unser Gehirn komplex erlebte Sachverhalte immer zu möglichst simplen Strukturen zusammenfügt. Um ein Ganzes zu schaffen. Gerade das passierte Meiberger jetzt selbst, in diesem Moment. Vor dem Salzburger Rathaus, in dem die Polizeiinspektion untergebracht war, peitschte ihm beim Rauskommen eine herbe Kälte in den Nacken, im selben Moment, als der Blick von Maries Mutter ihn durchbohrte. Zwei Ereignisse, die in seiner Wahrnehmung zusammenpassten, aber selbstverständlich losgelöst voneinander auftraten. So wie die beiden anderen Sachverhalte, die in seinen Gedanken Tango tanzten. Das Auftauchen der Perchtenläufer passte vom Zeitpunkt her perfekt zum Verschwinden des Kindes. Trotzdem gab es keinen einzigen tatsächlichen Beweis für einen Zusammenhang. Es könnte in Wahrheit auch nur so sein wie mit der Kälte im Nacken und dem Blick der Mutter. Perfekt passend, aber ohne tatsächlichen kausalen Zusammenhang. Die Gestalten, die Maries Mutter mit dem Verschwinden ihrer Tochter zusammenbrachte, die Perchten, waren nur eine Gruppe Jugendlicher gewesen, die man allesamt befragt hatte. Niemand stand in Verbindung zu der Mutter oder dem Mädchen, und für alle Beteiligten war es nichts Ungewöhnliches. Eine Horde Verkleideter, die als Attraktion auf dem Adventmarkt einen Perchtenlauf aufführten. Maries Mutter, die aus Berlin hierhergezogen war, hatte allerdings keine Ahnung von den hiesigen Bräuchen. Für sie war es ein grausiges Schauspiel. Meiberger versuchte, den hilflosen Blick der Mutter zu erwidern, was nicht leicht war. Ihr Griff um seinen Arm war stärker als seiner um ihren, obwohl er schätzungsweise gut fünfzig Prozent ihres Gewichts auffing. Die Salzburger Altstadt fing ihrerseits die beiden auf, umhüllte sie, während Meiberger das Salz sehen konnte, das ihm von der vereisten Straßendecke entgegenfunkelte. Ein Blick nach oben, und der Rathausturm schoss aus dem Himmel, wie versteinert in seinem verschneiten Rokoko. Meiberger fixierte im Gehen die Turmuhr, goldene Zeiger vor römischen Ziffern. Sieben Uhr dreißig. Die kleine Marie war jetzt seit vier Stunden verschwunden, und die Stadt mit ihren verschneiten Mauern und Barockfassaden sah Meiberger an, als ob das alles seine Schuld wäre. Und als ob sein Verstand nicht schon genug mit Widersprüchen zu kämpfen hätte, tauchten jetzt auch noch Engel am Himmel auf. Strahlend gelbe Engel, Umrisse von Flügeln und Sternen, die Weihnachtsbeleuchtung der Altstadt, die sich in stromfressendem Neon in seine Retina bohrten. Meiberger wusste, dass die junge Mutter in der Griesgasse geparkt hatte. Er hatte den diensthabenden Wachtmeister umgehend wissen lassen, dass es unverantwortlich war, die Frau von St. Wolfgang allein hierher fahren zu lassen. Aber keine Chance, sie hatte darauf bestanden, so wie sie es auch jetzt tat. Maries Mutter konnte nicht zulassen, dass ihr diese letzte Normalität genommen wurde, denn dann … dann müsste sie sich den Umkehrschluss eingestehen. Dass ihr Leben nie mehr so sein würde wie vorher. Weil Marie wirklich weg war, nicht nur kurz woanders und … Die Mutter stoppte ihre Gedanken. Sie klammerte sich fester an Meiberger, und er konnte fühlen, dass sie zitterte, als sie nach vorne zum Makartsteg nickte, der wie ein funkelnder Bogen über der tiefschwarzen Salzach schwebte. Erst im zweiten Moment erkannte Meiberger den Kleinwagen der Frau, der gegenüber zugeschneit im Parkverbot stand. Davor ein Straßenmusiker, der voller Freude auf sein Keyboard klimperte, über ihm strahlten die leuchtenden Eiszapfen um die Wette. Meiberger hielt die Frau stützend am Arm, als er mit ihr die Straße überquerte, und dabei fegte ein Windstoß so eisig gegen sein Gesicht, dass sich seine Wangen zusammenzogen. Dazu diese Musik, das Licht, die Häuserreihe. Meibergers Stadt ließ ihn nicht in Ruhe denken, sie drängte sich ihm auf, mit ihrer Weihnachtsstimmung, ihren harmonischen Schornsteinen und leuchtenden Gassen. Als ob sie ihm vorhalten wollte, dass man doch bitteschön froh zu sein hatte, so kurz vor Weihnachten. Es war jetzt eigentlich an der Zeit, seine Familie in den Arm zu nehmen. Aber Meiberger hatte keine Familie mehr, und wenn er versagte, würde die Frau neben ihm bald dieses Schicksal teilen müssen. Das alles waren zum Glück nur Gedanken, in Worte fasste er das Gegenteil. Mit ruhigem Tonfall versuchte er, eine Frau zu beruhigen, die nie wieder ruhig sein würde, nicht bevor die kleine Marie wieder da war. Seine Worte waren Floskeln, das wussten beide, aber sie mussten nur für hundertfünfzig Meter reichen, vielleicht auch nur hundertzwanzig, die paar Schritte bis zu ihrem Auto, einem Auto, das sie in ihrem Zustand gar nicht lenken sollte. Als ob der Wind es Meiberger noch schwerer machen wollte, drückte er ihn mit aller Kraft von seinem Ziel weg, und die kleinen Schneeflocken, die G’fraster, fanden das lustig, sie setzten sich in seinen Wangen fest wie vereiste Nadelspitzen. Als sie das Auto endlich erreicht hatten, klebten die weihnachtlichen Klavierklänge des Straßenmusikers zäh in Meibergers Gehörgang, und er ertappte sich für eine Sekunde bei der Vorstellung, wie die Schneeflocken im Takt von »Stille Nacht« auf seine Haare glitten. Und da bekam er es zu fassen: Kausalattribution war das Stichwort, die fachliche Bezeichnung für den permanenten Selbstbetrug des eigenen Gehirns. Es war der Rückschluss zur Hypothese der Gestaltgesetze und mit ihm der entscheidende Hinweis. Festlich verpackt, mit einer goldenen Schleife. Der Täter war nicht mit den Perchten gekommen. Unabhängig von der Aussage der Mutter und der Interpretation der Kripotrotteln. Das wollten ihre Gehirne ihnen nur weismachen, so wie Meibergers Hirn ihm gerade erzählen wollte, dass das Keyboard des Straßenmusikers ein Klavier war. Der Täter war davor schon da gewesen. Nahm man das als gegeben an, so musste er es geplant und das Eintreffen der Perchten abgewartet haben. Das war ein echter Hinweis, denn es schloss eine spontane Tat aus. Damit offenbarte sich ein nicht zu unterschätzender Vorteil, denn genau da konnte Meiberger ansetzen und Rückschlüsse ziehen. Jetzt gab es wieder eine Chance, wenn die Theorie hielt, könnte er das Mädchen vielleicht noch rechtzeitig finden. Die Ironie dieses Sachverhalts bestand darin, dass der Täter in genau dem Moment, in dem Meiberger diesen Gedanken fasste, ebenfalls da war. Unbemerkt, nur fünf Meter von ihm und der Frau entfernt. Von der anderen Straßenseite aus beobachtete er, wie der Psychologe ihr jetzt in das Auto half. Wie sie sich dabei an ihn klammerte. Wie das letzte Blatt an einem sterbenden Baum. Wie Maria sich damals an ihren Josef...