Brasch | Wunderlich fährt nach Norden | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Brasch Wunderlich fährt nach Norden

Roman
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-10-400691-8
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-10-400691-8
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der neue Roman von Marion Brasch nach ?Ab jetzt ist Ruhe? »Wunderlich war der unglücklichste Mensch, den er kannte.« Als Marie ihn verlässt, versinkt er in Selbstmitleid. Doch schon bald schubst ihn eine anonyme SMS zurück ins Leben, und Wunderlich tritt eine Reise an. Eine Reise, die vieles verändert und bei der nicht alles mit rechten Dingen zugeht. ?Wunderlich fährt nach Norden? ist die Geschichte eines Mannes, der Entscheidungen scheut und sich dem Zufall überlässt. Auf seiner Fahrt wird Wunderlich zum Abenteurer. Doch vor allem entdeckt er, was er vergessen wollte, und findet, was er nicht gesucht hat. Dieser Roman ist eine Liebeserklärung an die sonderbaren Momente des Lebens - so leicht, komisch und berührend, wie uns diese Geschichte nur Marion Brasch erzählen kann.

Marion Brasch wurde 1961 in Berlin geboren. Nach dem Abitur arbeitete die gelernte Schriftsetzerin in einer Druckerei, bei verschiedenen Verlagen und beim Komponistenverband der DDR, später fürs Radio. Bei S. FISCHER erschienen die Romane »Ab jetzt ist Ruhe«, »Wunderlich fährt nach Norden« und zuletzt »Lieber woanders«.
Brasch Wunderlich fährt nach Norden jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Etwas hört auf, und etwas beginnt


Wunderlich war der unglücklichste Mensch, den er kannte. Er kannte zwar nicht viele Menschen, doch was spielt das für eine Rolle, wenn das Unglück größer ist als man selbst. Wobei das eigentlich nicht stimmte, denn Wunderlichs Unglück war etwa einen Kopf kleiner als er und hieß Marie.

»Es geht nicht«, hatte sie gesagt. »Wir können nicht zusammen sein.«

»Warum denn nicht? Ich hab dich doch lieb, Marie.«

»Ich weiß, Wunderlich. Ich hab dich auch lieb. Aber während deine Liebe von hier bis ganz dort hinten reicht, kommt meine nur bis ungefähr da.«

Sie hatten auf dem Dach des Hauses gesessen, in dem Wunderlich wohnte, und Marie hatte erst über die anderen Dächer hinweg auf den Horizont gezeigt und dann auf das Haus gegenüber, wo ein dicker Mann im Unterhemd auf dem Balkon stand und rauchte.

»Bis zu ihm?«

»Nein, nicht bis zu ihm. Das war nur eine Metapher.«

Dann hatten sie geschwiegen. Sehr lange. Wunderlich hatte Marie von der Seite angeschaut, doch er konnte sie nicht gut erkennen, weil seine Augen voller Wasser waren.

Irgendwann war Marie aufgestanden und hatte ihn umarmt. »Mach’s gut, Wunderlich«, hatte sie gesagt. »Ich wünsch dir Glück.« Dann war sie gegangen.

Das war jetzt zwei Stunden her. Wunderlich saß noch immer auf seinem Dach und konnte es nicht fassen. Sein größtes Glück hatte sich durch einen einzigen Satz in sein größtes Unglück verwandelt und ihm Glück gewünscht. Das ergab überhaupt keinen Sinn.

»Marie, das ergibt überhaupt keinen Sinn«, sagte er in die Nacht. »Schnauze!«, antwortete die Nacht aus einem geöffneten Fenster im Haus gegenüber. Sonst wusste sie nichts dazu zu sagen.

Wunderlich schüttelte traurig den Kopf und war gerade aufgestanden, um zu gehen, als das Telefon in seiner Hosentasche brummte. Marie! Sie hatte es sich bestimmt anders überlegt und wollte, dass er zu ihr kam. Doch es war nicht Marie. Es war anonym. Für gewöhnlich zeigte das Telefon einen Namen oder wenigstens eine Nummer an, wenn es Nachrichten übermittelte. Doch da stand nur . Und Anonym hatte ihm eine Nachricht geschickt.

Mechanisch folgte Wunderlich dieser Aufforderung und schaute nach vorn. Im Haus gegenüber waren inzwischen alle Lichter erloschen, und die Stadt führte ihre üblichen schlaflosen Selbstgespräche.

»Warum tust du das, Marie?«, wandte er sich traurig an sein Telefon und wollte es gerade wieder in seine Hosentasche stecken, als es erneut brummte.

Er traute seinen Augen nicht. Wie war das möglich? Er schaltete das Telefon aus und wieder ein.

»Jetzt bin ich nicht nur unglücklich, sondern verliere auch noch den Verstand«, jammerte er und schaute besorgt auf die Flasche Rotwein neben sich. Sie war leer. Er schüttelte den Kopf und seufzte tief, dann kletterte er vom Dach, ging hinunter in seine Wohnung, legte sich ins Bett und schlief sofort ein.

Am nächsten Morgen wurde Wunderlich von den Kirchturmglocken geweckt. Es war Sonntag, und sonntags taten die Glocken immer so, als sei der Tag des Jüngsten Gerichts gekommen. An diesem Morgen hatten sie sich jedoch auch noch Zugang zu seinem Schädel verschafft, wo sie dröhnten, grollten, hämmerten und tosten. Er hielt seinen Kopf zwischen den Händen fest, bis es vorbei war. Ganz langsam quälte sich die Erinnerung an die vergangene Nacht durch den dumpfen, grauen Nebel hinter seiner Stirn: Marie. Fort. Unglück.

Wunderlich stand auf, schleppte sich in die Küche, füllte ein Glas mit kaltem Wasser, trank es aus, füllte ein weiteres Glas und trug es zu seinem Bett. Als er sich gerade wieder hinlegen wollte, brummte das Telefon auf seinem Nachttisch.

Er ließ das Telefon fallen. Es war also nicht der Rotwein, der seine Wahrnehmung getrübt hatte. Vielleicht habe ich einen Nervenzusammenbruch, dachte er. Oder ich werde wahnsinnig. Andere hören Stimmen, ich lese eben Kurznachrichten. – Ihn schauderte. Er legte sich ins Bett, zog die Decke über den Kopf und wartete darauf, dass die Sturzbäche, die plötzlich aus seinen Augen schossen, wieder versiegten. Es dauerte lange. Sehr lange.

Als es vorbei war, setzte er sich auf die Bettkante. Zu seinen Füßen lag das Telefon. Vorsichtig schob er es mit seinem großen Zeh ein Stück von sich weg.

Nichts.

Er streckte seinen Fuß, zog das Telefon wieder zu sich heran und kickte es beherzt etwas weiter weg.

Keine Reaktion.

Wunderlich hob das Telefon auf und knallte es mit einer übermütigen Bewegung auf sein Bett. Aus dem Brummen, das nun folgte, meinte er einen leicht genervten Unterton herauszuhören. Vorsichtig nahm er das Telefon wieder in die Hand.

»Wer zum Teufel bist du?«

»Aber du mischst dich in mein Leben ein, da hab ich ja wohl ein Recht darauf zu erfahren, wer du bist!«

»Aber was willst du von mir?«

»Du weißt es nicht?«

»Aber warum ich? Du kennst mich doch gar nicht.«  

Wunderlich schloss den Mund, um ihn sofort wieder für ein erregtes »Woher weißt du das alles!?« zu öffnen.

Keine Antwort.

»Hallo?«

Das Telefon schwieg.

Er schaltete es aus und wieder ein.

Nichts.

Er entfernte den Akku und setzte ihn wieder ein.

Das Display blieb dunkel.

Wunderlich kapitulierte und ging ins Bad. Das Telefon nahm er mit. »Wegen Marie«, sagte er. »Nicht wegen dir.«

Zwanzig Minuten später saß er geduscht am Tisch und schlürfte seinen Kaffee. Vor ihm lag das Telefon. Spuk, dachte er. Alles nur ein böser Spuk. Er nahm es in die Hand und wollte gerade Maries Nummer wählen, als es ihm mit einem fordernden Brummen zuvorkam.

»Ach, leck mich doch«, knurrte Wunderlich und wählte Maries Nummer.

»Wunderlich«, sagte Marie.

»Marie«, sagte er.

Sie schwiegen eine Weile.

»Ich will nicht, dass es vorbei ist«, sagte er irgendwann.

»Ich weiß. Aber so ist es nun mal.«

»Du bist grausam, Marie.«

»Ja, das bin ich wohl. Und das tut mir auch sehr leid.«

»Aber können wir nicht …«

»Nein, Wunderlich. Wir können nicht.«

Dieser große Kloß in seinem Hals.

»Wunderlich?«

Und schon wieder so viel Wasser in seinen Augen.

»Ich leg jetzt auf«, sagte Marie.

Es tat so weh.

»Mach’s gut, Wunderlich.«

Marie legte auf.

Er weinte. Er versuchte sich zu erinnern, wann er das letzte Mal so viel geweint hatte. Er war keine Heulsuse, das hatte er seiner Mutter zu verdanken. Sie war eine strenge Frau gewesen und hatte ihn gelehrt, sich zusammenzureißen. »Nimm dir ein Beispiel an deiner großen Schwester«, hatte sie immer wieder gesagt. »Sie ist ein Mädchen und heult trotzdem nie.« Und es stimmte. Wunderlich hatte seine Schwester nur einmal weinen sehen. Das war bei der Beerdigung des Vaters, der an seinem kranken Herzen gestorben war. Die Augen seiner Mutter waren trocken geblieben, doch seine große, starke Schwester hatte geheult wie ein Schlosshund. Er hatte sich zusammengerissen, den Kloß in seinem Hals hinuntergeschluckt und die Hand seiner Schwester genommen. Da war er das einzige Mal größer und stärker gewesen als sie.

Das Telefon brummte.

»Was?« Wunderlich starrte ein weiteres Mal fassungslos auf sein Telefon.

Marie hatte ihn verlassen, das war schlimm. Doch Menschen verließen einander, so war nun mal das Leben. Hingegen ein Fremder, der mehr über ihn wusste als jeder andere? Der sogar seine Gedanken lesen konnte? Das widersprach jeder Logik, und Dinge, die der Logik widersprachen, waren ihm suspekt.

Wunderlich seufzte und schaute gedankenverloren aus dem Fenster, hinter dem die Stadt in der Mittagshitze döste. Auf dem Balkon gegenüber stand diesmal die dicke Frau des Unterhemdmannes. Sie goss Blumen, während eine fette Katze um ihre Beine strich. Vielleicht war das Leben dieser Frau genauso trostlos wie seins, doch sie hatte wenigstens einen Mann und eine Katze. Und er? Er hatte Liebeskummer und ein klugscheißendes Telefon. Aber vielleicht war das besser als gar nichts. Vielleicht sollte er einfach akzeptieren,...


Brasch, Marion
Marion Brasch wurde 1961 in Berlin geboren. Nach dem Abitur arbeitete die gelernte Schriftsetzerin in einer Druckerei, bei verschiedenen Verlagen und beim Komponistenverband der DDR, später fürs Radio. Bei S. Fischer erschienen die Romane 'Ab jetzt ist Ruhe', 'Wunderlich fährt nach Norden' und zuletzt 'Lieber woanders'.

Marion BraschMarion Brasch wurde 1961 in Berlin geboren. Nach dem Abitur arbeitete die gelernte Schriftsetzerin in einer Druckerei, bei verschiedenen Verlagen und beim Komponistenverband der DDR, später fürs Radio. Bei S. Fischer erschienen die Romane 'Ab jetzt ist Ruhe', 'Wunderlich fährt nach Norden' und zuletzt 'Lieber woanders'.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.