Breitscheidel | Abgezockt und totgepflegt | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

Breitscheidel Abgezockt und totgepflegt

Alltag in deutschen Pflegeheimen
11001. Auflage 2011
ISBN: 978-3-8437-0167-9
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Alltag in deutschen Pflegeheimen

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

ISBN: 978-3-8437-0167-9
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Dahinsiechende Bewohner, ausgebeutete Arbeitskräfte, fragwürdig verwendete öffentliche und private Gelder - das, was Markus Breitscheidel während seiner Tätigkeit in verschiedenen Alters- und Pflegeheimen erlebte, sprengte nicht selten die Grenze der Menschenwürde und Rechtschaffenheit. Sein Buch ist ein erschütterndes Protokoll der katastrophalen Zustände in unserem Pflegesystem.

Markus Breitscheidel, Jahrgang 1968,  war Marketingleiter einer großen Werkzeugfirma. Sein Buch »Abgezockt und totgepflegt«, ein Undercover-Bericht über die Zustände in deutschen Pflegeheimen, wurde zum Bestseller und löste eine breite gesellschaftliche Diskussion aus.   Der Autor ist bei allen Medien bekannt und als Experte gefragt.
Breitscheidel Abgezockt und totgepflegt jetzt bestellen!

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Senioren- und Pflegestation Grimm in Norderstedt bei Hamburg


Das Familienunternehmen


Nach dem Süden soll es jetzt der Norden sein: Ich entscheide mich für Hamburg und ziehe in ein Einfamilienhaus im Stadtteil Barmbek.

Ich bleibe meinem anfänglich gefassten Vorsatz treu, mich immer bei der erstgenannten Adresse des Arbeitsamtes zu melden und dort anfangen zu wollen, ohne andere Arbeitsangebote zu testen. Das erste Heim auf der Arbeitsamtsliste in Hamburg ist ein evangelisches Pflegeheim. Sein Pflegedienstleiter hätte mich gern eingestellt, erzählt mir aber gleichzeitig, dann einer russischen Pflegehelferin kündigen zu müssen. Das ist die Bedingung des Arbeitsamtes. Diese Pflegehelferin hätte nach der Anstellung in dem Heim keine Arbeitserlaubnis erhalten, weil – so die Argumentation der Behörde – es genug Deutsche ohne Arbeit gäbe, die als PflegerInnen arbeiten möchten. Ich überlege es mir anders – mein Vorsatz ist schließlich kein Dogma – und lehne die Stelle dankend ab.

Am nächsten Tag stelle ich mich bei der zweiten Adresse der Liste vor. Das Bewerbungsgespräch dauert fünf Minuten. Christiane Prieß, die Inhaberin der Senioren- und Pflegestation Grimm in Norderstedt, hat nur eine Frage: »Wie viele haben Sie denn am Tag gepflegt?« Mit meinen 12 bis 15 Schwerstbedürftigen in München bin ich der richtige Mann. Am nächsten Tag trete ich den Dienst an.

In einem Neubaugebiet in Norderstedt, einem Vorort im Norden Hamburgs, hat Frau Prieß vier kleine, schlichte Fertighäuser aus den siebziger Jahren angemietet. Sie liegen in einem Karree, in der Mitte ist ein gepflegter Garten. In einem Haus hat sie im Obergeschoss das Büro untergebracht sowie die Küche, zwei Bewohnerinnen in Einzelzimmern – und den einzigen Treppenlift der ganzen Anlage. In diesem Haus empfängt die Heimleiterin die Angehörigen und handelt die Mietverträge aus. In den drei anderen Häusern liegen die BewohnerInnen, meist in Mehrbettzimmern und wenigen Einzelzimmern.

Die Pflegestation Grimm ist eine Gesellschaft des bürgerlichen Rechts, also ein privates Unternehmen mit Gewinnabsichten. Die Löhne sind niedrig, es gibt weder Schicht- noch Wochenendzulagen. Mein Lohn beträgt 1400 Euro monatlich brutto und ist damit um 350 Euro geringer als in München.

Alle Betten in den vier Häusern sind belegt, insgesamt betreuen wir 28 BewohnerInnen. Die in den oberen Etagen Untergebrachten kommen kaum aus ihren Zimmern heraus, da wir sie nur zu zweit die Treppen hinuntertragen könnten. Wir arbeiten aber so gut wie nie zu zweit in einem Haus. Mit Treppenlift wäre es uns möglich gewesen, doch den gibt es nur in dem Haus, in dem sich das Büro befindet. Dort dient er überwiegend zu Repräsentationszwecken.

Wenn die BewohnerInnen in ihren Betten liegen, stehen Rollstühle und Gehwagen ständig im Weg. Kaum jemand hat seine eigenen Möbel mitgebracht, in den Zimmern stehen unansehnliche Schränke aus Möbellagern, manchmal ein Plastikstuhl, bei den meisten ein Fernseher. Es ist eng, jetzt im Frühsommer stickig, die Luft verbraucht.

Zum Pflegepersonal gehören zwei examinierte Kräfte, zuständig für alle 28 BewohnerInnen und alle drei Schichten (Früh-, Spät- und Nachtdienst). Mindestens eine Schicht pro Tag muss also ohne ausgebildete Pflegerin arbeiten. Neben diesen zwei Pflegerinnen beschäftigt Frau Prieß nur noch ungelernte Kräfte, zu meiner Zeit sind wir sieben PflegehelferInnen. Zusammen mit den Examinierten sind es insgesamt neun angestellte Pflegekräfte. Vorgeschrieben wären 15 Pflegekräfte, also acht examinierte und sieben Hilfskräfte, um die BewohnerInnen vorschriftsmäßig versorgen zu können. Die fehlenden sechs ausgebildeten Mitarbeiterinnen hätten die medizinische Versorgung und die organisatorische Betreuung übernehmen müssen, die wir als Helfer gar nicht leisten dürfen – aber täglich geleistet haben.

Der Pfleger der Nummern


Am Anfang meines ersten Frühdienstes stelle ich Katrin Heydorn, seit rund acht Jahren Pflegehelferin, meine Kardinalfragen: »Woher bekomme ich Pflegematerial? Wo sind die Inkontinenzmittel und der Medikamentenschrank? Wo liegt der Waschraum?« Mit ihren knappen Antworten ist die Einweisung beendet. Katrin drückt mir einen Zettel mit Zimmernummern in die Hand und lässt mich ziehen.

Der Dienst beginnt um 6.30 Uhr, wir sind zu zweit und haben 28 BewohnerInnen zu waschen, anzuziehen, in die Rollstühle zu heben und mit Frühstück und Medikamenten zu versorgen. 14 von ihnen aber liegen schon angezogen im Bett, mit ihren Tagesdecken zugedeckt. Der Frühdienst hat zwei Möglichkeiten, die anfallende Arbeit zu erledigen: Wenn zwei Pflegehelfer gemeinsam arbeiten, dann teilen sie sich die übrigen 14 BewohnerInnen auf, sodass jeder sieben Personen für die Morgentoilette übernimmt. Wenn die zweite Kollegin eine ausgebildete Pflegekraft ist, dann muss der Zweite, in diesem Fall ich, die 14 BewohnerInnen allein betreuen, während die Pflegerin die medizinische Versorgung und die Tagesorganisation übernimmt.

Wieder stehe ich vor der ersten Tür, dahinter Frauen, die ich noch nie zuvor gesehen habe und nun waschen muss. Ich kenne keinen Namen, nicht den Grund und die Dauer ihres Aufenthalts. Ich weiß nicht, wie stark sie körperlich oder geistig eingeschränkt sind. Ich kenne keine Biografie. Nur Nummern. Ich klammere mich an die Handlungsanweisungen für die Grundpflege.

Nachdem ich eingetreten bin, stelle ich mich vor und hoffe auf eine erste Reaktion. Ist die Frau, die dort liegt, bei Bewusstsein? Bewegt sie sich, ist sie gelähmt? Hat sie mich überhaupt wahrgenommen? »Guten Morgen, ich werde Sie jetzt waschen.« Ich stelle meine Schüssel mit Wasser, Lotion und Waschlappen ab und fange auch schon an. Die bettlägerigen Bewohnerinnen wasche ich im Bett, ziehe die Decke weg und das Nachthemd aus, entferne die Höschenwindel und beginne, sie abzureiben, erst den Oberkörper, Arme, Busen, Rücken, Bauch, dann den unteren Körper, Genitalien, Po, Beine, Füße. Ich wasche schnell. Im Akkord. Ich schwitze. Ich wasche sie wie ein Baby. Kann die Frau das Bett verlassen, dann hebe ich sie in den Rollstuhl, fahre sie ins Bad, vor das Waschbecken und ziehe ihr dort das Nachthemd aus. Wasche sie wie ein Kind.

Die Frau schämt sich. Ich schäme mich. Wir gucken uns nicht in die Augen. Wir überspielen es mit Geplänkel. Nur schnell hinter mich bringen, denke ich und werde fahrig, wenn ich nicht schnell genug arbeite. Einige sagen laut, was sie denken: »Kann nicht wenigstens eine Kollegin von Ihnen kommen?« Aber es sind nie genug Pflegerinnen im Einsatz, um den Wunsch erfüllt zu bekommen. Die Leiterin scheint darauf bei der Diensteinteilung keine Rücksicht zu nehmen. Besteht die Bewohnerin dennoch darauf, nur von einer Frau gewaschen zu werden, bleibt sie ungewaschen liegen. Manche sind nicht mehr in der Lage, ihre Wünsche auszusprechen – sie versuchen, sie auf andere Weise zu äußern.

Leonore Dierksen redet nicht und zeigt kaum Reaktionen auf Fragen und Annäherungen. Also will ich ohne ihre Zustimmung beginnen, sie zu waschen, und ziehe die Bettdecke fort – mit Schlägen und Schreien hält sie mich vom Leib. Katrin, zur Hilfe gebeten, erzählt mir, dass Frau Dierksen in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs vergewaltigt wurde.

Nachdem ich an diesem ersten Vormittag die BewohnerInnen derart »betreut« und gehetzt meinen Zettel abgearbeitet habe, treffe ich Katrin im Dienstzimmer. Auch Bernhard Neuhaus, der Bruder von Frau Prieß, sitzt dort am Tisch. Bernhard ist Hausmeister, repariert das Allernötigste, pflegt den Garten und kocht für die BewohnerInnen, wenn die Köchin frei hat. Ich nutze unsere Begegnung und möchte von meiner Kollegin wissen, was mich schon die ganze Zeit beschäftigt. Das Gedächtnisprotokoll von dem folgenden Gespräch trage ich nach dem Dienst in mein Tagebuch ein. Ich frage Katrin:

»Wieso liegt denn die Hälfte der BewohnerInnen schon vor sechs Uhr angezogen im Bett?«

Katrin ignoriert meine Frage, nestelt an der Kaffeekanne herum und redet erst, nachdem Bernhard das Zimmer verlassen hat:

»Du weißt doch, dass Bernhard der Bruder von Frau Prieß ist?«

Ich: »Ja, dass hat er mir bereits gesagt.«

Sie: »Frag besser nichts, wenn er da ist. Er sitzt jede Pause hier. Er und die Köchin beobachten uns. Wenn wir was falsch machen, melden sie das sofort der Chefin.«

Ich: »Wieso die Köchin?«

Sie: »Die Köchin ist die Schwester von Frau Prieß. Gemeinsam halten die hier alles unter Kontrolle. Manchmal erinnert mich das an den rumänischen Geheimdienst. Es ist offensichtlich, dass sie spionieren, und schon fühlt man sich unsicher.«

Ich: »Aber warum sind denn nun einige Bewohner schon so früh angezogen?«

Bernhard kommt wieder, und meine Frage verhallt ein zweites Mal.

Das Geheimnis der Nachtschicht


Eine Woche später habe ich mit Gisela Feltz, einer der beiden ausgebildeten Pflegerinnen, meinen ersten Nachtdienst. Zuerst verteile ich die Medikamente, meistens Schlafmittel. Damit die BewohnerInnen eine ruhige Nacht haben, so Giselas Erklärung. Bis 22 Uhr helfe ich in Haus 1 und 2 beim Auskleiden und Zubettgehen, Gisela übernimmt Haus 3 und 4. Lediglich vier Bewohnerinnen entscheiden selbst, wann sie ins Bett gehen, alle anderen unterliegen dem Stationsablauf, das heißt dem Willen der Pfleger, da sie in die Pflegestufe II eingestuft sind. Pflegestufe II sieht vor, dass jemand ins Bett zu bringen ist, ob gewünscht oder nicht. Falls eine Bewohnerin es wagt, Wünsche oder Einwände zu artikulieren, werden diese unter Kommandos erstickt.

Ich bin kaum fertig, da wartet...


Breitscheidel, Markus
Markus Breitscheidel, Jahrgang 1968,  war Marketingleiter einer großen Werkzeugfirma. Sein Buch 'Abgezockt und totgepflegt', ein Undercover-Bericht über die Zustände in deutschen Pflegeheimen, wurde zum Bestseller und löste eine breite gesellschaftliche Diskussion aus.  
Der Autor ist bei allen Medien bekannt und als Experte gefragt.

Markus Breitscheidel, Jahrgang 1968,  war Marketingleiter einer großen Werkzeugfirma. Sein Buch »Abgezockt und totgepflegt«, ein Undercover-Bericht über die Zustände in deutschen Pflegeheimen, wurde zum Bestseller und löste eine breite gesellschaftliche Diskussion aus.  
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