Brink Grenzen der Anstalt
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-8353-2094-9
Verlag: Wallstein Verlag
Format: PDF
Kopierschutz: 0 - No protection
Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860?-?1980
E-Book, Deutsch, Band 20, 551 Seiten
Reihe: Moderne Zeit
ISBN: 978-3-8353-2094-9
Verlag: Wallstein Verlag
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Cornelia Brink, geb. 1961, Historikerin am Historischen Seminar der Universität Freiburg. Veröffentlichungen u.a.: Ikonen der Vernichtung, Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945 (1998), Auschwitz in der Paulskirche. Erinnerungspolitik in Fotoausstellungen der sechziger Jahre (2000).
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1;Inhalt;6
2;1. An der Schwelle zur Anstalt Einführende Überlegungen zu einer Gesellschafts-und Kulturgeschichte der Psychiatrie;10
2.1;1.1 Irrenanstalten, Heil- und Pflegeanstalten, psychiatrische Kliniken;12
2.2;1.2 Wahnsinn, Irrsinn, Geisteskrankheit, psychische Krankheit: Begriff und Gegenstand;16
2.3;1.3 Untersuchungszeitraum, Fokus, Quellen und Methode;18
2.4;1.4 Geschichtsschreibung der Psychiatrie als Gesellschafts- und Kulturgeschichte;32
3;2. Die Etablierung der geschlossenen Anstalt (1850-1868);37
3.1;2.1 »Die Mutter im Irrenhaus«: frühe Irrenhausskandale;37
3.2;2.2 Irre, Irrenanstalten und Irrenärzte zwischen Medizin, Recht und Polizei;49
3.3;2.3 Die Entscheidung für die geschlossene Irrenanstalt;70
3.4;2.4 Die Psychiatrie geht an die Öffentlichkeit: Irrenärzte und das »Publicum«;85
4;3. Die erste »Crisis der öffentlichen Irrenfürsorge«;102
5;4. Die »Irrenfrage« zwischen Psychiatrie und Recht (1885-1923);110
5.1;4.1 Anstaltsboom im Kaiserreich;110
5.2;4.2 Recht, Psychiatrie und Polizei;136
5.3;4.3 »Zustand der Rechtlosigkeit«: Die Irrenrechtsreformbewegung;146
6;5. Risse in der Wand Irrenbroschüren für die Öffentlichkeit;166
6.1;5.1 Selbstnormalisierung durch Abgrenzung: Die Irren sind immer die Anderen;170
6.2;5.2 Normalität und Normabweichung: Antworten von Psychiatern;188
7;6. Die zweite Krise der Psychiatrie;194
8;7. »Durch Wissenschaft zur Wirtschaft« Die Ökonomisierung der Irrenfürsorge in den Krisenjahren der Weimarer Republik;206
8.1;7.1 Sparverordnungen von »außen«: Die Gutachten des Reichssparkommissars;209
8.2;7.2 Sparvorschläge von Psychiatern;221
8.3;7.3 Polizeirecht und Anstaltspsychiatrie;256
8.4;7.4 Zur Lage der Heil- und Pflegeanstalten am Ende der Weimarer Republik;267
9;8. »Transportkranke« und andere Patienten Anstaltspsychiatrie und Krankenmord im Nationalsozialismus;271
9.1;8.1 Wege in die Anstalt. Verwaltungs-, Straf- und Zivilrecht;276
9.2;8.2 Verlegen und Sparen (1933-1939);288
9.3;8.3 Wege in den Tod I: Die Aktion T4 (1940-1941);299
9.4;8.4 Wege in den Tod II: Anstaltspsychiatrie und regionale »Euthanasie« (1943-1945);312
9.5;8.5 Ein öffentliches Geheimnis;328
10;9. Die Radikalisierung von Einschluss und Ausschluss aus der psychiatrischen Versorgung (1931/32-1945);347
11;10. Nachkrieg in der Psychiatrie;361
12;11. Anstaltsunterbringung in der Bundesrepublik Rechtsnorm und Rechtspraxis (1949-1969);373
12.1;11.1 Die Psychiatrie auf der Anklagebank: Der Fall Corten und die Schlangengruben (1950);373
12.2;11.2 Von den Unterbringungsgesetzen der Länder zu den Psychisch-Kranken-Gesetzen;393
12.3;11.3 Rechtsreformen;405
13;12. »Von Türen, die sich öffnen« Psychiatriekritik und Psychiatriereform (1969-1975/79);411
13.1;12.1 Die Reform vor der Reform;413
13.2;12.2 Psychiatrie und Öffentlichkeit;427
13.3;12.3 Der Weg zur Psychiatrie-Enquete;462
14;13. Die dritte Krise der Psychiatrie und die Öffnung der Anstalten;479
14.1;13.1 An der Schwelle der Anstalt;481
14.2;13.2 Bedingungen der Psychiatriereform;490
15;14. Kein Schluss;495
16;Dank;501
17;Abkürzungen;502
18;Literatur;504
18.1;Vor 1945;504
18.2;Nach 1945;518
(S. 346-347)
Die Geschichte der Psychiatrie in den späten Weimarer Jahren lässt sich mit Detlev Peukert als »Geschichte von Legitimationskrisen und organisatorischem Verfall« charakterisieren. In der Weltwirtschaftskrise, so Peukert, sei die Grenze sozialer Staatstätigkeit ans Licht getreten, die sich fatalerweise prozyklisch entwickelt habe: »In wirtschaftlichen Boomjahren besaß man die Mittel zum Ausbau der Leistungen, obwohl ihre Beanspruchung relativ gering war.
Wenn dagegen in Krisenzeiten die sozialpolitische Intervention besonders dringlich benötigt wurde, drängte der Staat auf Einsparungen und Leistungsabbau.« Wer in einer Heil- und Pflegeanstalt untergebracht war, konkurrierte um Unterstützung mit der großen Gruppe der Wohlfahrtserwerblosen, meist jüngere arbeitsfähige Menschen, die häufig einer Familie vorstanden, außerdem mit der Klientel der allgemeinen Fürsorge, den Alten und Siechen, Witwen, alleinstehenden Frauen mit Kindern, den Sozialrentnern, Kleinrentnern und den Kriegsopfern.
Die Frage, welche Kosten für die geschlossene Fürsorge und insbesondere für Geisteskranke und Behinderte zu rechtfertigen waren, hat den Weimarer Wohlfahrtsstaat von Beginn an begleitet. Seit Ende der 1920er Jahre kannte die öffentliche Debatte um den sozialen Ort von Psychiatrie und psychisch Kranken nur noch einen Fokus: »Sparsamkeit in der Anstalt «. Sämtliche Experten, die sich zu Wort meldeten, teilten die Auffassung, die bisherigen finanziellen Aufwendungen seien angesichts der allgemeinen Notlage ein Luxus, den man sich nicht mehr leisten könne und der öffentlich nicht zu legitimieren sei.
Psychiater machten hier keine Ausnahme. Je knapper die wirtschaftlichen Ressourcen wurden, desto größer wurde auch unter denen, die für ihre Patienten hätten eintreten können, die Bereitschaft, sie vor allem bei jenen Kranken einzusparen, von denen zu erwarten war, dass sie keine produktiven Leistungen mehr erbringen würden. Der Geisteskranke, so formulierte es 1930 stellvertretend für viele seiner Kollegen der reformorientierte Psychiater Wilhelm Alter, repräsentiere einen Ausfall an Produktion, »nicht nur in seiner Person, sondern auch durch den Personalanspruch, den seine Verpflegung erfordert.
Sie ist volkswirtschaftlich eine langwierige, unproduktive Konsumption fremder Arbeitskraft.«4 Alters Äußerung liest sich wie der Kommentar zu einer Fotografie, die drei Jahre später, 1933, im ersten Jahrgang der Zeitung Neues Volk erscheinen sollte. Die Aufnahme zeigt einen offensichtlich behinderten jungen Mann. In ein langes dunkles Kleidungsstück gehüllt sitzt er auf einem Holzstuhl. Die Augen hält er geschlossen, seine rechte Hand und beide Füße sind verkrampft.
Hinter ihm steht ein zweiter junger Mann in weißer Jacke. Freundlich in die Kamera lächelnd, hat er seine Hände auf die Schultern des Sitzenden gelegt. Im Hintergrund sind Bäume und ein Maschendrahtzaun zu erkennen. »Dieser Pfleger«, heißt es in der Legende, welche die Herausgeber dem Bild beigefügt hatten, »ein gesunder kraftvoller Mensch, ist nur dazu da, um diesen einen gemeingefährlichen Irren zu betreuen. Müssen wir uns dieses Bildes nicht schämen?«