E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Brodersen Lebewohl, Martha
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-98568-075-7
Verlag: Kanon Verlag Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Geschichte der jüdischen Bewohner meines Hauses
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-98568-075-7
Verlag: Kanon Verlag Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Historikerin Ingke Brodersen war Herausgeberin der politischen Buchreihe rororo aktuell und leitete ab 1990 den Verlag Rowohlt Berlin. Für das Goethe Institut gab sie eine mehrsprachige europäische Zeitschrift heraus. An Berliner Schulen führte sie acht Jahre lang Demokratie- und Kommunikations-Trainings durch. Seit den 1990er Jahren begleitet sie Flüchtlinge beim Ankommen. Die Geschichte der deutschen Juden ist oft Gegenstand ihrer zahlreichen Publikationen.
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Zehnter August 1942
An diesem Tag wurde Clara Marcus aus dem vierten Stock des Vorderhauses der Berchtesgadener Straße 37 in Berlin-Schöneberg zum »Abtransport« nach Theresienstadt geholt. Zwei Wochen später war sie tot. Diese Wohnung, in die die Gestapo eindrang, ist heute mein Zuhause.
Die Lücke im Stuck
Von der Gewalttat an jenem Tag wusste ich nichts, und den Namen von Clara Marcus kannte ich nicht, als ich an einem regnerischen Dezemberabend zum ersten Mal den Hausflur unseres künftigen Zuhauses betrat. Ich hatte höchstens einen flüchtigen Blick für die von einer großbürgerlichen Vergangenheit zeugenden Spiegelwände, die Marmorsäulen, die Jugendstil-Ornamente im Eingangsflur. Ich war erschöpft von einem langen Arbeitstag, müde und hungrig, vor meinem leeren Magen hing meine einjährige Tochter im Tragetuch, die mit mir frühmorgens auf den Flug nach Berlin gegangen war. Dort wartete in Charlottenburg ein neuer Arbeitsplatz auf mich, ich sollte ein nach der Wende gegründetes Unternehmen aufbauen und suchte eine Bleibe für meine Familie und mich.
In den letzten Monaten hatte ich mir schon etliche Mietwohnungen angeschaut, keine schien mir geeignet. Und alle teuer. An diesem Abend hatte mich der hartnäckige Makler Herr K. nach Schöneberg gelockt, ins Bayerische Viertel, dort waren wir mit einer Wohnung im vierten Stock verabredet. Bei meinen ersten Besichtigungen war ich noch die anliegenden Straßen abgelaufen, hatte Lärmpegel, Kita-Nähe, öffentliche Verkehrsanbindung und Einkaufsmöglichkeiten geprüft. Diese Vergewisserung, ob das Umfeld halbwegs tauglich war, hatte ich inzwischen aufgegeben – ich wollte einfach nur noch eine Wohnung mit Heizung und Badewanne.
Der Fahrstuhl hielt direkt neben der Wohnungstür. Ihr abblätterndes Dunkelbraun schien mich wissen lassen zu wollen, dass mich keine ästhetischen Überraschungen hinter der Tür erwarteten. Am liebsten hätte ich gleich abgewunken und wieder kehrtgemacht, aber da hatte Herr K. mit seinem feinen Gespür für die Absprungbereitschaft seiner Kundin schon entschlossen den Klingelknopf gedrückt.
In der Wohnung lebte eine Männer-Wohngemeinschaft, die in der Zeit des Nachwende-Hypes auf dem Berliner Wohnungsmarkt, vermutlich im Schulterschluss mit Eigentümern und Maklern, ein neues Win-win-Geschäftsmodell entdeckt hatte: Als Mieter signalisierte man Bereitschaft zum Auszug – gegen eine beträchtliche und durch nichts gerechtfertigte »Abstandszahlung«, die der Käufer zu leisten hatte. Das ermöglichte dem Makler, eine »bezugsfertige« Wohnung zum Verkauf anzubieten, ein barwerter Vorteil. In mir fand das Modell eine willige, weil wehrlose Kundin. Ich war die monatelang erfolglose Suche längst leid. Außerdem war ich an diesem Abend auch noch spät dran, ich musste mein Flugzeug erreichen. Also sagte ich ja, nachdem ich mit gleichgültigem Blick die abgehängte Decke im Flur registriert und sinniert hatte, ob damit wohl feuchte Stellen oder ein anderer Makel kaschiert werden sollten, bevor ich dann für einige tausend D-Mark Eigentümerin eines rotgestrichenen, sechzig Zentimeter breiten Sperrholzregals wurde.
Darunter bettete ich zwei Wochen später eine Luftmatratze mit Schlafsack für mein Kind und mich. Der Raum war leer, die Wohngemeinschaft inzwischen ausgezogen. Nur das Rot des Regals gab dem Zimmer ein bisschen Rouge. Kurz vor dem Einschlafen fielen die Scheinwerfer eines Autos, das in unsere Straße einbog, auf eine merkwürdige Lücke im Stuck der Zimmerdecke – eine große Ecke der Rosetten-Girlande fehlte. Ein Bombenschaden? Schlampigkeit? Konkurs des Stuckateurs? Bis in die Träume dieser ersten Nacht hinein verfolgte mich der Auftrag, irgendwann nachzuforschen, was es damit auf sich hatte.
Ihre Namen
Von Clara Marcus und den anderen jüdischen Bewohnern unseres Hauses hörte ich erst Jahre später. Der Berliner Finanzbeamte Andreas Wilcke hatte die Namen aus den Akten der nationalsozialistischen Oberfinanzdirektion geborgen, 6069 Jüdinnen und Juden, die aus unserem Quartier deportiert worden waren; ohne Wilcke wären sie spurlos im mörderischen Getriebe des »Dritten Reiches« und der eifrig schreddernden deutschen Nachkriegsgesellschaft untergegangen. Wilcke hielt ihre Namen, zusammen mit ihren Geburts- und Deportationsdaten, handschriftlich auf Karteikarten fest. Oft sind das die einzigen dokumentarischen Zeugnisse, die es von ihnen noch gibt. Sie tapezieren heute die Wände des Willy-Brandt-Saals im Rathaus Schöneberg.
Auf diesen Karteikarten war erst ein Drittel der Juden erfasst, die damals im Bayerischen Viertel beheimatet waren. Hier wohnten überwiegend jene, die es sich leisten konnten – Ärzte, Rechtsanwälte, Künstler, Unternehmer –, unter ihnen viele, die international bekannt wurden. Der Psychoanalytiker Erich Fromm war am Bayerischen Platz zu Hause, dort, wo sich heute die Commerzbank mit neun Stockwerken dem Himmel entgegenreckt, Billy Wilder kurzzeitig am Viktoria-Luise-Platz, die Fotografin Gisèle Freund und Albert Einstein in der Haberlandstraße. Von ihnen las ich, als ich den vom Bezirk und dem Haus der Wannseekonferenz erarbeiteten Katalog »Orte des Erinnerns« in den Händen hielt, in den die Namen von Wilckes Karteikarten Eingang gefunden hatten.
Die Lektüre war ein Augenöffner. Penibel listet der Katalog auf, wer aus welcher Straße, aus welchem Haus zum »Transport« gezerrt worden ist. In unserer Straße aus den Nummern 2, aus dem Nachbarhaus mit der Nummerierung 2/3, aus 3, 4, 7, 13, 24, und die meisten aus den Nummern 35 und 37. So las ich die Namen der Menschen, die aus unserem Haus auf die Todesreise geschickt worden waren: Jacob und Helena Berger ins Warschauer Getto, James und Elsbeth Brandus, Martha Cohen, Oskar Mendelsohn, Alfred Rosenbaum, Paula Pauline Suransky, Ida Wolle, Hermann Katz, Clara Marcus nach Theresienstadt, Bertha Sternson und Hedwig Steiner nach Riga, Betty und Kurt Rechnitz nach Sobibór, Else Herzfeld und Alice Heinrichsdorff nach Auschwitz, Hertha Glücksmann und Sara Ihlenfeld nach Trawniki, Max Markus ins KZ Sachsenhausen. Und das waren noch nicht alle, was ich aber erst später wusste.
Der Schreck des Begreifens saß: Was für ein Haus war das, in das meine Kinder, ihr Vater und ich gezogen waren? Wer waren diese einstigen Bewohner? Woher kamen sie? Was wurde aus ihnen? Wer von ihnen wurde aus unserer Wohnung im vierten Stock geholt? Irritierende Fragen. Ich wurde sie nicht mehr los.
Rusts Kautsch
Wenn ich zur U-Bahn am Bayerischen Platz gehe, komme ich an der Löcknitz-Grundschule vorbei. Hier sind meine Kinder zur Schule gegangen. 1904 war sie eingeweiht worden, zwei Jahre später hatte sie schon mehr als 1000 Schüler, und mitten im Ersten Weltkrieg führte sie gemischte Klassen aus Jungen und Mädchen ein. Das war damals ungewöhnlich.
Vor der Schule steht ein Schild: »Sämtliche Berliner Bezirksämter sind angewiesen, jüdische Lehrkräfte an den städtischen Schulen sofort zu beurlauben. 1.4.1933«. Das Schild gehört zu den achtzig Tafeln, die die Künstler Renata Stih und Frieder Schnock 1993 in den Straßen unseres Viertels an den Laternenmasten installiert haben. Auf jedem Schild findet sich eine der zahlreichen antisemitischen Verordnungen, mit denen die Juden in den Jahren des Nationalsozialismus gedemütigt (»An Juden werden keine Seife und Rasierseife mehr ausgegeben oder verkauft«), isoliert, entrechtet (»Jüdische Ärzte dürfen nicht mehr praktizieren«), enteignet, ausgehungert wurden (»Die Versorgung von Juden mit Fleisch, Fleischprodukten und anderen zugeteilten Lebensmitteln wird eingestellt«). Die Tafeln führen jedem Vorübergehenden die fortlaufend erlassenen Maßnahmen zur Enteignung des Lebens der Juden vor Augen: Berufsverbote für Rechtsanwälte, Ärzte, Lehrer, Schauspieler und Musiker, Kündigung von Telefonanschlüssen, Badeverbot im Wannsee, Verbot des Verkaufs von Zeitungen und Bücher an Juden, Verbot der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, Zwangsabgabe des Führerscheins, Promotionsverbot, Abgabe warmer Kleidung.
Ab dem 11. November 1938 wurden jüdische Kinder auf Weisung des Reichserziehungsministers Bernhard Rust von allen öffentlichen Schulen verbannt (»Jüdische Kinder dürfen keine öffentlichen Schulen mehr besuchen«). Es könne »keinem deutschen Lehrer und keiner Lehrerin mehr zugemutet« werden, ihnen Unterricht zu erteilen, behauptete der Minister. Rust, vor seinem Antritt als »Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung« selbst Lehrer für Latein und Deutsch, sah die nationalsozialistische Ausrichtung aller Bildungsinstitutionen als seine Mission. Die gymnasiale Schulzeit wurde verkürzt, der Religionsunterricht abgeschafft, »Vererbungslehre« eingeführt und die Anzahl der Sportstunden erhöht, schließlich sollten die Jungen »schnell wie Windhunde und hart...