Brunow | Verdeckte Spuren | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 321 Seiten

Brunow Verdeckte Spuren

Kriminalroman
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7472-0657-7
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Kriminalroman

E-Book, Deutsch, 321 Seiten

ISBN: 978-3-7472-0657-7
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Zwischen dem Haifischbecken Berlin und der vermeintlichen Idylle Sardiniens: »Brunow erzählt gekonnt davon, dass es in unserer Welt keine unschuldigen Gegenden mehr gibt.« Thomas Wörtche Ex-Polizist Gerhard Beckmann taucht ein in die sardische Kulturlandschaft und kämpft mit den Gespenstern der Vergangenheit Die Chinesin von Jochen Brunow: Im Herbst 2024 monatelang auf der Krimibestenliste von DLF Kultur Ex-Polizist Gerhard Beckmann lebt auf Sardinien mit den quälenden Gedanken an seine tote Frau. Eines Tages trifft er sich mit dem Journalisten David Richter, der eigens aus Berlin angereist ist und Genaueres über Beckmanns vorzeitige Pensionierung erfahren will. Waren dessen Ermittlungen zu Korruption am Flughafen BER zu brisant geworden? Der Besuch des Journalisten scheint schlafende Hunde zu wecken, denn Beckmann wird in seinem Refugium auf der Insel überfallen, und schon bald geht es um Leben und Tod ...

Jochen Brunow, 1950 geboren, studierte in Berlin Germanistik und Publizistik und arbeitete zunächst als Filmkritiker. Er schrieb Drehbücher, u. a. für die Kinofilme Berlin Chamissoplatz (1980) und System ohne Schatten (1983). Brunow gehört zu den Gründern des Berufsverbandes der Drehbuchautoren und leitete die Drehbuchakademie der dffb Berlin.
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1


Eine unbestimmte Unruhe hatte Gerhard Beckmann aus seinem Refugium auf die abgelegenen Landstraßen im Inneren der Insel getrieben. Die Stille war groß in den Bergen von Sardinien. Sie hatte eine Ausdehnung, hatte Struktur und Masse. Die Stille war lebendig, sie wohnte im gleißenden Licht der Sonne. Aus dieser Stille kamen die Geschichten der sardischen Erzähler, und diese Geschichten retteten vor ihr. Ihnen lauschte Beckmann gerne, wenn sich auf seinen Touren ins dünn besiedelte Inselinnere die Alten auf dem Platz vor der örtlichen Kirche im Schatten der Platanen begrüßten: »Mögest du hundert Jahre alt werden.« Und das Gegenüber erwiderte: »Mögest du sie zählen.«

Er selbst mit seinen einundsechzig Jahren fühlte sich jung, wenn er die Männer in den steifen Joppen mit den zerfurchten Gesichtern in einer der vier sardischen Sprachen reden hörte.

Die Stille der Landschaft war beinahe gewalttätig, sie konnte einen Menschen förmlich erschlagen. Sie konnte ihm den Geist verwirren, ihm den Verstand rauben, sodass er fehltrat und vom Felsen fiel. Sein Freund Lorenzo Farini, Maresciallo der Carabinieri in Porto San Paolo, hatte ihm davon erzählt; davon, wie im Licht der Dämmerung die Berge begannen, sich zu bewegen, die Trekkingtouristen sich verliefen und heillos verirrten.

Die Straße, der er folgte, war kaum befahren, schon länger war ihm kein Fahrzeug entgegengekommen.

Beckmann suchte den dreitausend Jahre alten Olivenbaum, der hier in den Bergen der Gallura irgendwo stehen sollte. Er verließ die SP 136 hinter Calangianus Richtung Lago di Liscia. Still standen die Korkeichenwälder. Der nackte, ochsenblutfarbene Stamm eines Baums leuchtete wie eine Wunde im Grün des Hains. Die Reifenstollen des mehr als zwanzig Jahre alten Range Rovers gruben sich in den Schotter einer schmalen Parkbucht. Die leere Mineralwasserflasche rollte vom Beifahrersitz.

Steil stieg der Hang rechts von ihm an. Skurrile Felsformationen ragten vereinzelt aus der Macchia. Beckmanns Blick ging über eine leicht abfallende Wiese hinunter zum Stausee. Wie flüssiges Blei schimmerte die Oberfläche des Lago di Liscia. Seine kahlen, trockengefallenen Ränder erinnerten daran, dass dieses große Gewässer von Menschenhand gestaut wurde. Zungen gleich leckte das Wasser hinein in die Täler zwischen den umliegenden Hügeln und Bergen.

Beckmann stieg aus. In der Stille der Bergluft hallte das Geräusch der zufallenden Autotür seltsam nach. Wegen der Dürre vor ihrer Zeit abgefallene Eicheln lagen im Sand. Gleichmütig brannte die Sonne. Im Staub entdeckte er die verwischten Spuren kleiner Paarhufer. Die Wildschweine waren überall. Das flache Ufer erschien ihm einladend, und das Wasser versprach Abkühlung. Er zog Hemd und Hosen aus und lief nackt die Wiese hinunter.

Der See war frischer, kühler als das Meer, in dem er sonst seine morgendliche Runde schwamm. Es gab eine merkwürdige kalte Unterströmung. Nahe der Zufahrt zum See hatte er im Vorüberfahren flüchtig ein Schild gesehen. Hatte da etwas gestanden wie ? Gab es hier gefährliche Strömungen, Driften oder Wirbel? Nach einem Moment des Zweifels fühlte Beckmann sich in der Einsamkeit und dem klaren Wasser sicher. Er schwamm zu einem der Felsen, die glatt poliert aus dem Wasser ragten wie die gekrümmten Rücken von Walen. Er zog sich auf einen sonnenwarmen Stein hinauf, streckte sich aus.

Die Stille wurde durchdrungen vom Geräusch eines Fahrzeugs, das nach einem Moment erstarb. Beckmann blinzelte in die Sonne und erkannte im Gegenlicht einen Wagen, der mitten auf der etwas entfernten Brücke angehalten hatte. Er sah den Fahrer aussteigen, den Wagen langsam umrunden, die Heckklappe öffnen und einen Sack herausheben. Beckmann dachte zunächst, dass der Mann illegal Müll im See entsorgen wollte, doch dann zog er ein Gewehr aus dem Sack, vermutlich eine Lupara, wie die Sarden ihre kurzen Schrotflinten nannten, und knickte den Lauf des Gewehres, um es in aller Ruhe zu laden.

Beckmann sah das Mündungsfeuer der Waffe Bruchteile von Sekunden, bevor der Knall des Schusses von den nahen Bergen widerhallte. Instinktiv rollte er sich blitzschnell vom Stein ins Wasser und blieb hinter dem Felsen in Deckung.

Er war nicht sicher, ob der Schuss ihm gegolten hatte. Er hatte keinen Einschlag von einem Geschoss oder von Schrot wahrgenommen. Wie ein schweres Tuch senkte sich die Stille wieder über See und Berge, ohne den Knall wirklich auszulöschen. Beckmann schaute hinter sich. Dort war kein Mensch, kein Tier. Nur die sanft gekräuselte Oberfläche des Wassers und, unter dem cyanblauen Himmel gleichgültig schweigend, die Berge waren zu sehen. Wollte der Mann ihn nur erschrecken oder tatsächlich bedrohen? Daran mochte Beckmann nicht ernsthaft denken. Die Sarden waren verrückt, einfach unberechenbar. Er musste unwillkürlich kichern. Aber die Unberührtheit und Schönheit der Natur hatten ihre Unschuld verloren und wirkten auf einmal unheilvoll. Warum sollte hier das Baden verboten sein? Oder kam Nacktheit in dieser Gegend der Insel immer noch einer Provokation gleich?

Beckmann blieb einen Moment hinter dem Felsbuckel im Wasser liegen. Sein Gefühl, in der abgelegenen Landschaft allein zu sein, war offensichtlich trügerisch gewesen. Vorsichtig spähte er Richtung Brücke. Obwohl der Felsen ihn deckte, hatte Beckmann das Gefühl, dass der Mann ihm direkt in die Augen schaute, und tauchte schnell wieder ab. Hatte der Mann ihn schon länger beobachtet? War er ihm gefolgt? Gegen welche ungeschriebene Regel hatte Beckmann verstoßen? Aus der Deckung heraus sah er, wie der Mann mit großer Gelassenheit die Waffe wieder im Kofferraum verstaute, in seinen Wagen stieg und langsam die Brücke verließ. War die Gefahr vorüber? Beckmann konnte den weiteren Verlauf der Straße nicht einsehen und wartete ab. Auch wenn er sich nicht mehr unmittelbar bedroht fühlte, schwamm er wenig später doch sehr zügig ans Ufer.

Der Vorfall hatte ihn aufgewühlt, seinen Blick auf die Umgebung verändert. Als er sich zurück in seinen Wagen schwang, knarrte der alte, rissige Ledersitz wie ein Sattel. Beckmann saß da, schaute sich mehrmals um, sah keine Menschenseele und rollte auf die Landstraße.

Er wollte dem Schuss nicht zu viel Bedeutung beimessen, entschied sich aber trotzdem, zurück an die Küste zu fahren. Oberhalb des Sees stieß er auf Hinweisschilder zu der dreitausendjährigen Olive namens S’Ozzastru. Er verdrängte den Vorfall und folgte den Wegweisern, schließlich hatte er die Größe der Landschaft, ihre Stille und Schönheit bisher stets ungestört genießen können und immer wieder die Gastfreundschaft der Sarden erfahren. Schnell fand er den Hang mit den uralten Bäumen. Das kleine hölzerne Kartenhäuschen am Eingang zum Feld war unbesetzt. Von der Sonne gebleicht, wellten sich hinter den verstaubten Fenstern des Kiosks Prospekte und Flyer.

Der Wind ging leicht durch die silbrigen Blätter des steinalten Olivenbaums auf dem sanft abfallenden Feld, strich weich über ihre seidige Unterseite, wie ein Musiker über die Saiten der Oud. Nur wenn man selbst still wurde, wenn man genau hinhörte, löste sich die Stille auf, wurde sie plötzlich hörbar und begann zu leben, zu pulsieren von den Tönen der kleinen, wirbellosen Lebewesen, der Fliegen und der Wespen, der Bienen und Schmetterlinge, dem Sausen der Libellen und dem halbstarken Krakeelen der liebeskranken Zikaden. Die Atmosphäre nahm Beckmann gefangen.

Er näherte sich dem knorrigen Stamm von zwölf Metern Umfang. Auf der schrundigen Rinde seidige Verpuppungen von Insekten, vom Holzmehl der Würmer bestäubte Spinnennetze, eine Armee von Ameisen, winzige Insekten, deren Namen er nicht kannte und die er zum ersten Mal überhaupt wahrnahm. Es gab auch Reste von verwachsenen, ewige Liebe beschwörenden Einritzungen lange vergangener Generationen. Beckmann legte sein Ohr auf den von Blitzeinschlägen und längst verwehten Stürmen mehrfach gespaltenen Stamm, lauschte dem feinen, sich verzweigenden, nicht abreißenden Strom des Geräuschs des Lebens durch alle Schichten, von den tiefgreifenden Wurzeln bis hinauf in die silbrigen Blätter. Mindestens dreitausend Jahre schon floss dieser Strom.

Die beeindruckende Präsenz dieses urwüchsigen Wesens legte sich über seine Erfahrung am Stausee. Leicht benommen von der Erkenntnis der eigenen Vergänglichkeit trat Beckmann zurück und machte ein paar zögerliche Schritte heraus aus dem schirmenden Schatten des weitverzweigten Astwerks, das ein Gespinst aus Gesichtern zeigte. Beckmann wusste, die Griechen hatten geglaubt, das Geäst der Oliven verkörpere menschliche Geister.

Doch weder das Antlitz seiner verstorbenen Frau noch das seiner Tochter vermochte er zu erkennen.

Schneidend tönte ein Warnsignal den Abhang herauf, holte ihn aus seinen Gedanken und ließ ihn herumfahren. Auf dem Parkplatz am Besucherkiosk fuhr ein vollklimatisierter Bus vor. Sein gewaltiges Horn zerfetzte noch einmal die Stille. Beckmann schwante, gleich würde sich eine Gruppe chinesischer Touristen auf das Olivenfeld stürzen, schließlich befand er sich bei den Olivastri Millenari auf dem Grund eines geschützten nationalen Naturdenkmals. Schnell trat er die Rückfahrt...


Brunow, Jochen
Jochen Brunow, 1950 geboren, studierte in Berlin Germanistik und Publizistik und arbeitete zunächst als Filmkritiker. Er schrieb Drehbücher, u. a. für die Kinofilme Berlin Chamissoplatz (1980) und System ohne Schatten (1983). Brunow gehört zu den Gründern des Berufsverbandes der Drehbuchautoren und leitete die Drehbuchakademie der dffb Berlin.

Jochen Brunow, 1950 geboren, studierte in Berlin Germanistik und Publizistik und arbeitete zunächst als Filmkritiker. Er schrieb Drehbücher, u. a. für die Kinofilme Berlin Chamissoplatz (1980) und System ohne Schatten (1983). Brunow gehört zu den Gründern des Berufsverbandes der Drehbuchautoren und leitete die Drehbuchakademie der dffb Berlin.



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