E-Book, Deutsch, 179 Seiten
Bruun Der Ring
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-96537-298-6
Verlag: OTB eBook publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 179 Seiten
ISBN: 978-3-96537-298-6
Verlag: OTB eBook publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Viktor Heller will eine junge Frau vor dem Leben in der Kriminalität bewahren, doch ihr 'Onkel' hat etwas dagegen. Heller, bisher ein mustergültiger Bürger nutzt die gefundene Plakette eines Polizisten, um die Welt ein kleines Stück gerechter zu machen. Und immer wieder stellt sich die Frage: 'Was ist ein Menschenleben?' (Amazon)
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I
Drüben auf der Fensterreihe verlöscht die Glut. Die Sonne ist untergegangen. Die Pappeln längs des Hügelkammes, wo die Chaussee läuft, ducken sich vor dem kalten Luftzug aus Osten. In der dünnen Luft blitzt ein Stern auf. Der Spiegel des Flusses verblaßt, die Ufer werden fahl. Der letzte Tagesschimmer verliert sich auf der Mitte des Stromes. Der Mann, der auf dem Brückenkopf steht und ins Wasser hinunterstarrt, knöpft seinen Rock fester, denn von dem Wasserspiegel beginnen jetzt die Nebel aufzusteigen. Die Wirbel tief unten an den Brückenpfeilern sind bereits von Dunkelheit erfüllt, doch scheinen sie lauter zu rauschen, seit man sie nicht mehr sehen kann. Der Mann geht längs des Kais auf die Stadt zu. Die Laternen blitzen auf, zuerst die großen, fernen im Zentrum, dann die kleinen aus den Gassen und längs des Hafens. Dort weiter hinten, wo der Kai in eine Straße übergeht, leuchtet über einer Tür ein rotes Schild. Ein Seidel, dessen Konturen von roten elektrischen Flammen gebildet werden, wirft seinen Schimmer auf einen vergoldeten Engel über der Tür. Er erkennt den Ort wieder. Hier war er gestern abend, hier, wo die Häuserreihen aufhören und Biergärten, kleinen Villen und Schuppen Platz machen. Gegen elf Uhr war es gewesen. – – Es war ein merkwürdiger Abend, den er dort hinter dem Seidel und vergoldeten Engel verbrachte – der erste eindrucksvolle seit seiner Abreise aus Kopenhagen. An dem alten verstimmten Klavier hatte ein blutjunges Mädchen gesessen – freimütig und aufrecht – mit einer spitzen roten Mütze auf dem Kopf. Was hatte das Zigeunermädchen, wie sie genannt wurde, gespielt? Keine bekannte Melodie, keine Noten, – von Frühjahr – Blätterrauschen – Vogelgezwitscher zwischen aufbrechenden Knospen – Geklingel von Straßenbahnen hatte sie gespielt, und mitten durch den Lärm ein dünner Diskant, eine hervorbrechende Träne – Erinnerungen eines Kindergemütes. Hier blickte einer von seinem Bierkrug auf, als habe jemand hinter der Tür ihm zugerufen, – dort drehte einer sich breit um und starrte mit offenem Munde – Es war brechend voll gewesen. Rauch und Speisedunst hingen in Säcken unter den Kronleuchtern. Im Nebel hinter dem Schenktisch eine dicke Büfettdame, Hals und Kragen entblößt. Seidel und Flaschen – Dunst aus der Küchenluke – der fette, weiße Hals und der Bierschaum die einzigen Lichtflecke im Nebel. Die Gläser warfen den Schein des Kronleuchters zurück. Ein Oberkellner, mager, schmalschultrig, mit strammem Rücken und schlenkernden Gliedern, lief von Loge zu Loge, mit einem karierten Tuch über der Schulter. Lebhafte Rattenaugen in einem langen, gelblichen Gesicht, ein Nußknackerlächeln, dreckig liebenswürdig, ehrerbietig grimassierend – »Sehr wohl, Herr! – Herrr – Herrrr!« Er sah alles, hörte alles, tätschelte im Vorbeieilen das Rotkäppchen, das beim Anschlagen auf ihrem Taburett hüpfte. Jemand rief »Valencia«. Das Mädchen drehte den Kopf um – das dichte, kurze Haar flog bei der schnellen Bewegung – und was sah der Fremde? Der Atem stockte ihm vor Verwunderung – er sah große erstaunte Kinderaugen, so leuchtend blau, wie er sie noch nie gesehen hatte, Wangen von weicher, unschuldiger Rundung – einen weißen Hals und ein rotes Seidenband, das irgend etwas Verborgenes unter dem Ausschnitt der salatgrünen Bluse trug. Die Brust noch kaum gerundet, auch der Arm unter dem Halbärmel noch ein Kinderarm, ohne Geschichte – Und dieses Kind nickte mit unschuldsoffenem Blick all den Augen zu, die sie begehrlich anstarrten, Augen, die sich erfahren in die Tiefe des Kindergemütes einzuschleichen versuchten. Ein Kriegsinvalide mit einem grünen Augenschirm legte den Kopf in den Nacken, schob den Schirm zurück, um ihr Augen zu machen, hob sein Seidel und bewegte die plumpen Lippen, feucht und rot, zu einer lüsternen Bitte. Sie lachte, machte ihm auch Augen, ohne zu ahnen, um was er bat, noch was er begehrte. In der Pause lud der Fremde sie zu einem Glase Bier in seiner Loge ein. »Mein Onkel erlaubt es nicht!« Ernst, mit treuherzigen Augen – ein artiges Mädchen – Konfirmandin mit einer Zigeunermütze auf dem dunklen, weichen Kinderhaar. Jubel – Faustschläge auf den Tischen – »Der Onkel erlaubt es nicht!« Das Mädchen lachte mit. Sie warf den Kopf in den Nacken, daß das Haar ihr um die Ohren flog. Ein klingendes Lachen, das dem erstaunten Beobachter ans Herz griff. Ein Kind mit der Haltung einer Erwachsenen. Das Leben klopfte stark und munter in ihr – das war das Geheimnis. Der Mann mit dem Augenschirm kam aus seiner Loge, das Seidel in der Hand. Er wollte auf sie zugehen – Im selben Augenblick aber war der Ober da. Ein Tablett in jeder Hand, das verzerrte Gesicht in komisch keusche Falten gelegt, einen Schelm in seinen Rattenaugen – »Die ausgestellten Waren dürfen nicht berührt werden! Keine Flecke auf den weißen Decken, wenn ich bitten darf! Wollten Sie einen Foxtrott bestellen, mein Herr? – Fräulein Teresa, einen Foxtrott für den Herrn mit dem Augenschirm!« Die Finger hüpfen über die Tasten, das Haar um die Ohren. Ihr Mund lächelte, während sie spielte, als ob die Luft rein, der Mensch gut und die Decke voller Lerchengezwitscher sei. Lange saß der fremde Herr in seiner Loge. Man sah, daß er hier nicht hergehörte. Einer blickte seine Schlipsnadel verstohlen an, ein andrer taxierte seinen Covercoatmantel – Rheinländer war er jedenfalls nicht. Berliner? – Ausgeschlossen. Zivilist – Polizist in neuer Einkleidung? Während der Besatzung konnte man seiner Sache nie sicher sein. Die Engländer hatten ihre eigenen Lokale, ihre eigenen Methoden – hier durften ihre Soldaten nicht verkehren – und dort durften die Bürger der Stadt nicht verkehren. Doch kam es vor, daß in Zivil – hm, ja, vielleicht ein Engländer. Was ging's einen an, man trank und schwatzte weiter. Auch dem Mädchen auf dem Taburett war der Fremde aufgefallen, neugierig betrachtete sie ihn von der Seite – den feinen, weichen Hut – die Schlipsnadel – Als die Uhr an der Wand elf schlug, erschien der dicknackige, kahlköpfige Onkel hinter dem Schenktisch. Im Vorbeigehen strich er dem Zigeunermädchen mit seiner kleinen fetten Hand über die Mütze – wurde des Fremden ansichtig und machte dem Covercoatmantel und der Schlipsnadel eine Verbeugung, mit zusammengeklappten Hacken; beendete seine Runde und kehrte mit Nackenfalten hinter den Schenktisch zurück, sagte ein paar Worte zur Mamsell, die ehrerbietig und vertraulich nickte, und verschwand durch eine Seitentür. Obgleich der Onkel es verboten hatte, gelang es dem Fremden dennoch, einige Worte mit dem Mädchen zu wechseln. Die Musik war zu Ende. Sie stand auf, nahm die Mütze ab, ordnete das Haar, glättete ihre Schürze, zog die Bluse herunter – »Schönen guten Abend!« sagte sie und knickste. »Guten Abend!« wurde aus den Logen geantwortet, aber keine Zurufe, keine Vertraulichkeiten – die ehrbare Runde des Wirtes hatte Ordnung und Anstand bewirkt. Es war ein anständiges Haus, man kannte seine Leute. Ein Haus mit Justiz – Als das Klavier geschlossen und der Bock beiseite gerückt war, trat das Rotkäppchen ans Fenster und guckte durch die Scheibengardinen auf die Straße. Auf dem Rückwege zögerte sie vor der Loge des Fremden. Nestelte an ihrem roten Halsband, hob die feinen Brauen und spitzte die Lippen, als ob sie eine Frage stellen wollte – Er bot ihr einen Platz an. Sie setzte sich auf die Kante des Stuhles. Trinken wollte sie nichts – des Onkels wegen – nein, danke! »Was tragen Sie an dem schönen Band, kleines Fräulein?« sagte er aufs Geratewohl. Die runden, spitz zulaufenden Finger zupften an dem Band. »Meinen Perlenring!« sagte sie lächelnd, über die Anrede »kleines Fräulein« erfreut. Auch er lächelte. »Von wem haben Sie ihn bekommen?« »Von meiner Mutter – meiner ersten Mutter« – sie sah ihn ernst an, ohne Scheu, »er ist von einem Bischof gesegnet worden.« Was sollte er noch sagen –? »Darf ich ihn mal sehen?« Sie schüttelte den Kopf und guckte auf das Band herab, ob es auch an seinem Platze säße. »Warum nicht?« »Ich muß gut auf ihn achtgeben – darf ihn niemandem zeigen.« »Sie heißen Teresa?« Der Ober hatte ja gesagt: Fräulein Teresa, einen Foxtrott. Sie hob die Brauen und nickte erstaunt. Strich darauf glättend über die Bluse, schob die Brust vor und sagte stolz: »Ich bin sechzehn Jahre alt.« Er hatte gedacht vierzehn, und zeitig entwickelt. Statt dessen war es umgekehrt: sechzehn, aber Augen und Gemüt eines Kindes. Er musterte sie noch einmal. Nur die Hände schienen erwachsen: Klavierhände. »Wer hat Sie so spielen gelehrt? Ohne Noten – aus freier Phantasie?« »Ich selbst.« Sie lachte mit ihrem klingenden, offenen Lachen. Darauf setzte sie sich bequemer zurecht, rückte ihm etwas näher. »Ich bin in Italien geboren,« erzählte sie, »aber ich war immer krank, als ich klein war.« Eine Lektion, die sie auswendig gelernt hat, dachte er bei sich. Sie merkte ihm die Veränderung an, betrachtete ihn fest und fügte in einem klagenden Ton hinzu: »Ach, ich war so lange, lange krank –« Sie entfernte erklärend die Hände voneinander, als ob sie an einem Gummiband...




