E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Buchzik The Power of No
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-608-12407-1
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Warum wir endlich unbequem werden müssen
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-608-12407-1
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dana Buchzik, geboren 1983, ist Journalistin und Kommunikationsberaterin. Sie arbeitete unter anderem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Spiegel Online, die Süddeutsche Zeitung, Die Welt und DIE ZEIT. 2017 war sie Redaktionsleiterin der »No Hate Speech«-Kampagne des Europarats gegen Hass im Netz. Sie lehrte an der Freien Universität Berlin und gibt Workshops zu den Themen »Umgang mit Hass und Verschwörungserzählungen« und »Grenzen setzen«. Online findet man sie unter: danabuchzik.de & @herzkater
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Soziologie Allgemein
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychologie / Allgemeines & Theorie Psychologie: Allgemeines
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychologie / Allgemeines & Theorie Psychologie: Sachbuch, Ratgeber
- Sozialwissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie Sozialpsychologie
Weitere Infos & Material
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Grenzverletzungen frühzeitig erkennen
Viele von uns nehmen Grenzverletzungen erst wahr, wenn unsere Psyche oder unser Körper Alarm schlagen: Wut oder Traurigkeit, Scham oder Ekel, Übelkeit oder ein verkrampfter Kiefer. Vielleicht registrieren wir noch, dass uns gerade etwas entgleitet, aber es ist zu spät: Wir werden entweder sprachlos oder richtig laut. Machen uns klein oder zetteln einen Streit an, bei dem alle Beteiligten verlieren werden. »Herz und Emotionen rasen«, so fasste es eine Leserin bei Instagram zusammen. Das Treffen beschäftigt uns noch lange, nachdem es vorbei ist; wir sind ungeduldig und gereizt. Die Erinnerung an die Situation löst vielleicht Wochen oder gar Jahre später noch Zorn oder ein Gefühl von Ohnmacht aus.
Um es mit Kommunikationsberaterin Franzi von Kempis zu sagen: Wir kennen oft nur unsere roten Linien und nicht die orangefarbenen.[66] Das kann hohe emotionale Folgekosten bedeuten. Um handlungsfähig zu bleiben, müssen wir auch die Wahrnehmung früher Warnzeichen trainieren. Dabei sind zwei Strategien besonders wichtig: Achtsamkeit und Faktenüberprüfung.
Online finden sich mittlerweile zahllose Apps, Bücher und Kurse zum Thema Achtsamkeit. Ein Klassiker ist der Body Scan: Nehmen Sie sich idealerweise einmal täglich Zeit, Ihren Körper bewusst wahrzunehmen, vom großen Zeh bis zum Kopf. Wo spüren Sie Verkrampfungen, wo Weichheit? Wo Kälte, wo Wärme?[67] Achten Sie auf wiederkehrende Muster: Zwickt bei Stress häufig der Nacken? Oder eher der Bauch? Werden Sie zappelig? Bekommen Sie Kopfschmerzen? Je besser Sie Ihren Körper kennen, desto sensibler sind Sie für seine ersten Warnsignale. Versuchen Sie, direkt zu intervenieren, wenn Sie Anspannung bemerken: Legen Sie beispielsweise eine Hand auf Ihren Bauch, konzentrieren sich auf Ihren Atem und spüren nach, wie Ihre Bauchdecke sich hebt und senkt. Falls das in einer sozialen Situation nicht ohne Weiteres möglich ist: Versuchen Sie, etwas länger aus- als einzuatmen.
Körperreaktionen und starke Gefühle sind wichtige Hinweisgeber. Wir müssen sie ernst nehmen – und überprüfen, wo genau das Problem liegt: Weisen sie uns beispielsweise darauf hin, dass wir von unserem Gegenüber invalidiert werden? Der Begriff »Invalidierung« stammt von der Psychologin Marsha Linehan. Sie beschreibt damit zwischenmenschliche Situationen, in denen wir fehlender Empathie bis hin zu missbräuchlichem Verhalten ausgesetzt sind, etwa indem unser Gegenüber uns ignoriert, wichtige Erfahrungen unseres Lebens relativiert oder leugnet oder uns insgesamt ungerecht behandelt. Linehan erklärt auch, dass Invalidierung in manchen Situationen hilfreich sein kann: Nämlich dann, wenn wir falschliegen und unsere Haltung oder Wahrnehmung der Situation nicht angemessen ist.[68]
Ein Beispiel aus meiner Kommunikationsberatung: Eine erwachsene Tochter war fuchsteufelswild, weil ihr im Ausland lebender Vater bei einem Deutschlandbesuch nicht sofort angerufen hatte, um ein Treffen zu vereinbaren. Ich fragte, ob es nicht möglich sein könnte, dass der Vater Rücksicht nehmen wollte – die Tochter hatte gerade ihr drittes Kind auf die Welt gebracht und ihr Schlafrhythmus war entsprechend aus den Fugen. Oder ob er sich generell nicht aufdrängen, sondern ihr den Raum lassen wollte, sich von sich aus zu melden, wenn sie das Bedürfnis nach einem Treffen hatte. Die Tochter aber hatte für sich die Regel aufgestellt, dass sich der Vater immer zuerst melden musste; alles andere erschien ihr als Beweis für Lieblosigkeit. Bloß: Diese Regel ist nicht universell gültig, sodass alle Menschen sie kennen würden. Deswegen wäre die Tochter in der Pflicht gewesen, diese Regel (besser: diese Erwartung) ihrem Vater zu kommunizieren. Stattdessen ging sie davon aus, dass er sie auf magische Weise von allein kennen müsste – und schuf so die perfekte Voraussetzung für Verletzungen und Missverständnisse. Als ihr Vater ein paar Tage später anrief, begrüßte sie ihn mit einem Wutanfall.
»Manchmal behandeln wir Gefühle so, als wären sie Fakten«, schreibt Marsha Linehan: »Je stärker die Emotionen sind, desto mehr glauben wir, dass sie auf Tatsachen beruhen.«[69] Unsere Wahrnehmung ist aber keine objektive Wahrheit, sondern wird durch viele Faktoren beeinflusst. Durch frühere Erfahrungen mit anderen Menschen etwa, die dafür sorgen, dass wir bei manchen Begriffen oder Verhaltensweisen wütend oder ängstlich werden, obwohl unser aktuelles Gegenüber etwas ganz anderes damit meint.[70] Oder durch ganz banale Aspekte wie Erschöpfung, Hunger oder Dehydrierung. Oder durch Influencer und Online-Coaches, die entwicklungspsychologische Konzepte wie die Bindungstheorie nicht verstehen (wollen) und daraus pauschale und gefährliche Ratschläge ableiten: Menschen werden nur noch in gut für deine Entwicklung versus zutiefst toxisch eingeteilt. Wer nicht jede Kleinigkeit validiert und feiert, sondern auch mal nachfragt, widerspricht oder einfach eine schlechte Phase hat, muss vermeintlich sofort aus dem eigenen Leben entfernt werden: Das kleinste Gefühl von Irritation oder Missmut gilt als objektiver Beweis für schwerwiegende Vergehen. Dabei bringt es jede zwischenmenschliche Beziehung mit sich, dass unsere Bedürfnisse auch einmal (oder phasenweise auch länger) nicht erfüllt werden. Problematisch wird es erst, wenn das Ungleichgewicht dauerhaft besteht und ein Klärungsgespräch und damit auch die Aussicht auf Veränderung verweigert wird. Auch wenn manche Influencer etwas anderes in die Kamera flöten mögen, ein Kontaktabbruch sollte in einer Freundschaft oder Beziehung immer die letzte Option sein und nicht die erste.[71] Wenn wir von uns wissen, dass wir oft mit starken Gefühlen reagieren, kann es hilfreich sein, wiederkehrende Konfliktsituationen mit guten (und schonungslos ehrlichen) Freunden oder im Rahmen einer Psychotherapie zu reflektieren. So stellen wir sicher, dass wir weder uns noch anderen Unrecht tun, und können neue Wege finden, um überschießende Gefühle zu regulieren. Denn Invalidierung schmerzt oft selbst dann, wenn unser Gegenüber die Fakten auf seiner Seite hat.[72]
Was tun, wenn Sie selbst eine Grenze überschritten haben?
Seit einigen Jahren ist sie in den sozialen Medien in aller Munde: die Nonpology.[73] Bei einer Nicht-Entschuldigung übernimmt eine Person (oder ein Unternehmen) nicht wirklich Verantwortung für das eigene Fehlverhalten, sondern relativiert es oder schiebt die Schuld den Umständen oder anderen Personen zu. Klassische Nonpologies klingen beispielsweise so: »Es tut mir leid, wenn du dich jetzt angegriffen fühlst.« – »Fehler passieren jedem.« – »Ich hab’s nur gut gemeint! Sorry, dass du das falsch verstanden hast!«– »Tut mir ja leid, aber du hast mich auch provoziert!«
Nonpologies können Konfliktsituationen nicht entschärfen. Meist machen sie alles nur schlimmer. Eine richtig gute Entschuldigung besteht aus fünf Schritten. Erstens: Dem Gegenüber zuhören und seinen Gefühlen Raum geben.[74] Zweitens: Fehlverhalten eingestehen und Verantwortung übernehmen. Drittens: Nicht rechtfertigen, sondern erklären, wie es zum Fehlverhalten gekommen ist. Viertens: Reue ausdrücken, ohne dabei im Selbstmitleid zu zerfließen, und konkrete Schritte ankündigen, um diesen Fehler nicht zu wiederholen. Fünftens: Entschädigung anbieten.[75] Auch hier geht es nicht um uns, sondern um unser Gegenüber. Kaufen Sie nicht impulsiv etwas oder schreiben einen pathetischen Brief, sondern fragen Sie die Person, deren Grenzen Sie verletzt haben, was sie sich jetzt von Ihnen wünscht.[76]
Psychologische Studien zeigen, dass eine aufrichtige Entschuldigung bei unserem Gegenüber Blutdruck und Herzfrequenz senkt und angespannte Gesichtsmuskeln entkrampft. Sie fördert Empathie und erhöht so die Wahrscheinlichkeit, dass die betroffene Person verzeihen kann.[77]
Wie Sie Manipulation entlarven
Das Wichtigste zuerst: Wir alle manipulieren andere Menschen. Der Psychologe James Tedeschi hat Manipulation nicht nur als normal eingeordnet, sondern sogar als Ausdruck sozialer Kompetenz.[78] Wie bei so vielem im Leben macht die Dosis das Gift: Wenn jemand einen Raum betritt und lautstark seufzt, dass es ja wirklich sehr heiß sei, statt jemanden direkt anzusprechen und zu bitten, dass er oder sie ein Fenster öffnet, bedeutet das streng genommen eine Manipulation, aber sie ist derart geringfügig, dass sie niemanden länger beschäftigen oder gar belasten wird.[79] Wenn hingegen jemand beruflich wie privat immer wieder versucht, nur den eigenen Willen durchzusetzen, ist das ein ernsthaftes Problem.[80] Rainer Sachse, Psychologe und Begründer der Klärungsorientierten Psychotherapie, sieht bei Manipulation alle Beteiligten in einer aktiven Rolle:
Sie funktioniert nur, wenn der Manipulator einen Schlüssel (die manipulative Strategie) hat; aber sie funktioniert auch nur dann, wenn der Manipulierte ein dazu passendes Schlüsselloch aufweist, sich also manipulieren lässt! Also sollten Sie sich hier zwei Fragen stellen: Wodurch werde ich manipulierbar (was ist mein...