E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Büchler Unter dem Apfelbaum
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-903061-06-4
Verlag: Septime Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-903061-06-4
Verlag: Septime Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Magda, Mathilda, Marlies, Milla - vier Generationen einer Familie, die von Sprachlosigkeit geprägt ist. Während Magda immer stiller wird, kommt Milla bereits stumm zur Welt. Und obwohl die vier Frauen über ein Jahrhundert verstreut leben, vermischen sich ihre Schicksale zunehmend.
Vier Generationen von Frauen und ihre Lebensgeschichten: Millas Urgroßmutter Magda wird 1902 im Alter von zehn Jahren an einen reichen Hof gegeben, um zu arbeiten und die eigene Familie zu entlasten. Da Magda bei der Geburt ihrer Tochter Mathilda stirbt, schickt ihr Mann diese ins Internat einer Landwirtschaftsschule. Der Krieg veranlasst Mathilda, die eigene Tochter, Marlies, vor der anrollenden Front fortzuschicken, während sie selbst das Gut zu hüten versucht.
"... Die Plane des letzten Wagens verdeckte ihr den Blick auf Marlies. Mathilda kniff die Augen zusammen, suchte nach einem Riss oder einem Loch in der Plane, nach einer Möglichkeit, hineinzuspähen und etwas zu sehen, was das Herzklopfen und die Übelkeit eindämmte, die sie mit jeder Wagenlänge stärker spürte, die sich der Treck entfernte. Mathilda hob die Hand und öffnete den Mund. Ein stummer Schrei verpuffte in der Kälte."
Marlies' Tochter, Milla, ist von Geburt an taub und stumm und wird schließlich in die Obhut einer Bäuerin gegeben, die ihr Haus als Heim für behinderte Jugendliche führt. Dies ist der Beginn der Geschichte, wir schreiben das Jahr 1973
Autoren/Hrsg.
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Mathilda sah zum Gutshaus hinüber. »Darfst ihn sogar halten und so. Schmeckt anders als ein Hirschkäfer.« Da sie dort keiner hören würde und es hier alle sicher nur lustig fänden, konnte sie sich einen Schrei wie gestern ersparen. »Idiot«, sagte sie, stand auf und ging hinter Ludwig vorbei. »Dich hätten sie auch gleich schlachten sollen.« Zwischen seinem Gelächter hindurch hörte Mathilda ihn gegen die Stallwand pinkeln. Blitzschnell griff sie um seinen Oberarm herum in die Hemdtasche, zog den Schaber heraus und trat auf den Hofplatz. »He, was soll das?« »Hast du schon ein totes Schwein gesehen, das sich selbst die Borsten wegmacht?«, rief sie über die Schulter zurück und stellte sich, ohne Lehrer Gentz oder die anderen mit einem Blick zu beachten, an den freien Platz des zweiten Holztrogs und schabte über die dampfende Haut des Schweins, als hätte sie nie etwas anderes getan. »Verschwinde, das ist mein Platz.« Ludwig riss sie am Zopf hoch und zerrte. Sie stolperte rückwärts und fiel. Er gab nicht nach und so hing sie mehr an seiner Hand, als sie am Boden kniete, streckte die Hände hinunter, wollte sich aufstützen, um den Zopf zu entlasten, reckte zugleich den Hals, um den Zug zu verringern. »Aus«, zischte sie, das Ziehen in der Kopfhaut und diese Wut überall, sie konnte nicht reden, schreien vielleicht, aber schreien nützt nicht, sie … … dreh dich um und schlag ihm in die Magengrube, flüsterte ich ihr zu. Zum stummen Zeugen eignete ich mich nicht mehr, vergaß jedoch, dass ein Gedanke alleine noch nicht handlungsfähig macht. »Lass sie jetzt los«, hörte Mathilda Lehrer Gentz’ Stimme. Ludwig gab den Zopf frei. Mathildas Arme zitterten, als sie sich auf dem Boden abstützte. Vor ihren Augen verschwammen wenige Schritte entfernt die Sandalen des Lehrers. »Du, Irmi, kannst jetzt in den Hafer gehen«, hörte Mathilda ihn sagen. Sie rieb sich die Kopfhaut und wischte mit dem Ärmel über Nase und Augen. Ausgerechnet Irmgard war es, die an ihrer Statt am Blutbottich stehen musste und rührte. Mathilda sah ihr bleiches Gesicht, den angespannten Hals, mit dem sie die Nase so weit weg vom Blutgeruch streckte wie nur möglich. Tränen liefen über diesen Hals. Mathilda fühlte sich elend. »Das wirst du lernen müssen«, sagte Lehrer Gentz. »Blutscheu hat hier noch keiner absolviert. Und arbeitsscheu erst recht nicht.« Nun war sie gemeint, wusste Mathilda, auch ohne aufzusehen. »Geh endlich an deinen Platz, Thilda.« Eine seiner Sandalen machte einen Schritt auf sie zu. Die große Zehe bohrte sich durch die Socke. Mathilda wollte Irmgard noch etwas sagen, wenigstens mit den Augen. Aber die lief schon davon, bevor sie an den Blutbottich trat. Sie begann zu rühren und hob das Kinn; zwang ihre Mitschüler mit gelassenem Blick, das Grinsen einschlafen zu lassen und die Ketten wieder aufzunehmen, die Schweine im heißen Wasser zu schwenken und die restlichen Borsten zu entfernen. »Holt jetzt die Leitern«, Lehrer Gentz deutete Ludwig und den beiden, die soeben die Zuber für das Waschen der Därme und Mägen gebracht hatten. Mathilda blickte in den Himmel. Schwalben zählen und Schäfchenwolken interessierte sie mehr. Schließlich kannte sie jeden Handgriff. Die Sonne stand hinter den Kastanienbäumen. Es mochte sieben Uhr sein, nur noch die beiden Schweine zum Abkühlen aufhängen, Innereien heraus und einwassern, dann frühstücken gehen. Sie hielt der Sonne das Gesicht entgegen und schloss die Augen. Einer ließ die Stehleiter über das Pflaster rattern. Sie hörte die Jungs die dünnen Ketten über die obersten Sprossen legen. Ganz anders klangen die als die groben, mit denen die Schweine durch die Tröge gezogen wurden. Neben ihr spuckte einer aus. Mathilda stellte sich taub. »Wo ist der Strick? Wer bindet die Hinterläufe?« Lehrer Gentz schlurfte vorbei. »Du, Luzi? Ja, probier’s. Wo sind die Haken?« Mathilda hörte einen Kuckuck rufen, irgendwo dengelte jemand eine Sense. »Nicht einschlafen, Thilda, rühren.« Sie wusste, dass ihr Rührtempo nicht langsamer geworden war. Lehrer Gentz hatte sich bereits abgewandt, als sie die Augen öffnete. Einer der Fleischhaken klinkte in der Leiterkette ein, das erste Schwein wurde aus dem Trog gehievt. »Zieht, zieht ordentlich, fest, ja, gut so. Ilse, du öffnest den Bauch und raus mit dem Darm.« Mathilda kehrte ihnen den Rücken zu. Am Himmel zog ein Schwarm Stare hinüber zum Kartoffelacker am Hügel. Die Ernter mussten auf dem Rückweg sein. Die Sonne stand halb über den Kastanien. Zwanzig Minuten nach acht, vielleicht. »So, jetzt aber.« Mathilda riss es um. Sie klammerte sich an den Holzlöffel, versuchte damit nach hinten zu schlagen, lag auf dem Boden, neben ihr die gebundenen Hinterläufe des zweiten Schweins. Sie trat um sich, verlor den Löffel, griff über Kopf, wo Ludwig an ihrem Zopf zerrte und kicherte. »Gut so, Ilse«, hörte sie Lehrer Gentz irgendwo sagen. Schreien war zwecklos. »Aller guten Schweine sind drei.« Kurz spürte sie Ludwigs Atem an ihrem Ohr. Mit einem Ruck zog es sie auf die Knie, die Kette rasselte über die Leitersprossen, zog Mathilda auf die Beine, ihre Wange klebte an der Schweinekeule. Sie schloss die Augen, schloss die Ohren, das Herz, schloss das Gelächter der anderen aus, ihre Gesichter, streckte sich auf die Zehenspitzen, um die Schmerzen am Kopf zu dämpfen, sie umklammerte den Kadaver, versuchte sich hochzuziehen, die Leiter schwankte, vielleicht lachten die anderen, lachten noch lauter, endlich laut genug, genug … »Genug jetzt!«, rief Lehrer Gentz. »Lasst sie sofort herunter.« Sie schlug die Augen auf. »Erst noch den Darm raus und den Magen, wenn sie schon so schön hängt.« Ludwig fuchtelte mit dem Messer vor ihrem Gesicht. »Schluss jetzt.« Lehrer Gentz packte Ludwigs Handgelenk, sah ihn an. Mathilda griff nach dem Messer, damit hatte keiner gerechnet, und holte mit flinken, kräftigen Schnittbewegungen über ihrem Kopf aus, erwischte die Kette und den Schweinefuß, ihre Haare, schwang das Messer schnell, zweimal, dreimal, sie zappelte und dabei schrie sie endlich und schrie und sah, wie alle sie anstarrten, genau, keiner kam gelaufen, wenn sie schrie, alle erstarrten oder blickten weg, ja, tatsächlich, Lehrer Gentz, er wandte sich ab, und wieder erwischte sie den Zopf, wütend trat sie gegen das Schwein, stieß sich ab, noch einmal schnitt sie und fiel zu Boden, das Messer fest in der Hand. Still war es. Mathilda griff sich auf den Kopf. »Geht …« Lehrer Gentz räusperte sich. »Geht jetzt frühstücken.« Noch immer lachte niemand. Mathilda setzte sich auf, betrachtete das Messer. Ihre Hand zitterte. Keiner trat in ihr Blickfeld. »Du, Thilda, hol dein Kopftuch.« Lehrer Gentz musste irgendwo hinter ihr stehen. »Ich bespreche das mit dem Direktor inzwischen.« Mit dem Direktor besprechen. Mathilda legte das Messer in den Schoß und bedeckte den Kopf mit den Händen, strich mit den Fingerkuppen über Fransen und Strähnen, als streichelte sie den Flaum eines Kükens. Warum ausgerechnet mit dem Direktor? Wenn sie ohne Abschluss nach Hause geschickt würde, der Vater, er … sie mochte nicht daran denken. »Halt!«, rief Lehrer Gentz. »Ludwig, du nimmst erst noch den Zopf von der Leiter.« »Ich …?« »Tu, was ich dir sage.« »Nein!« Mathilda umklammerte das Messer. »Der rührt ihn nie wieder an!« Sie stand auf, drehte sich zu Lehrer Gentz. Ihr war schwindelig. Fünf Schritte stand er jetzt vor ihr, oder sechs, jetzt wurden es sieben und noch einen wich er zurück, als sie ihn nicht aus den Augen ließ. Mach noch einen, dachte sie, Angst sollst du vor mir haben, und du auch. Sie schaute sich nach Ludwig um. Der war verschwunden. »Na gut.« Lehrer Gentz wandte sich ab. »Aber zur ersten Schulstunde ist der Zopf fort.« Mathilda sah ihm auf dem Weg zur Schulkantine nach. Als er endlich um die Haselsträucher bog, ließ sie das Messer sinken. Ihre Knie sackten ein. Den Zopf jetzt zu holen, schaffte sie nicht. Nicht einmal hinsehen wollte sie und lief los, hinüber zur Stellmacherei. Das Tor stand offen. Sie hielt inne, kurz nur. Von Hans war nichts zu sehen, kein blonder Schopf, kein Buckel zwischen den Leiterwägen. Der Stellmacher war nicht da, frühstückte wohl. Sie huschte hinein, an den Holzrädern und Karren vorbei nach hinten, zur Kammer mit den Speichen. Kein Husten, tatsächlich, kein Hämmern oder Schleifen. Nur die Kufen für den Winter lehnten in der Kammer und die Stiele für Rechen, Spaten, Besen, Hacken und auf dem Fensterbrett, dort stand die Waschschüssel vom Hans, mit der Spiegelscherbe daneben. Mathilda blieb stehen, sofort zitterten ihr wieder die Knie. Sie griff nach dem nächsten Stiel, einem kurzen, dicken, stützte sich darauf, senkte die Stirn auf den Handrücken, versuchte die Beine zu beruhigen und konzentrierte sich auf den Schatten der Waschschüssel vor ihren Füßen. Mathilda schielte nach links. Irgendwo dort an der Wand musste der Schatten ihres Kopfes sein. Er verrutschte zwischen Leisten und Stielen. Sie richtete sich auf, näherte das Gesicht der Spiegelscherbe. Die war zwar groß genug, um ein Kinn zu rasieren oder einen Hobelspan aus dem Augenwinkel zu fischen. Aber sie erfasste keinen Mädchenkopf. Einzelne Fransen standen oberhalb des Ohrs weg. Mathilda zog eine Haarsträhne in das Spiegelbild. Sie endete auf Augenhöhe. Mit dem Messer schnitt Mathilda sie ganz ab, warf sie in die Waschschüssel und hockte sich auf den Boden. Der Zopf hing an der Leiter, der Direktor machte wahrscheinlich schon ihre Papiere fertig, vielleicht packte...