E-Book, Deutsch, 194 Seiten
Büchsenschuß Oleander - Vom Lesen und Töten
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-89841-855-3
Verlag: Schardt Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 194 Seiten
ISBN: 978-3-89841-855-3
Verlag: Schardt Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Wanduhr schlug drei. Ein loderndes Feuer knackte im Kamin. Im Speisesaal der Villa Oleander hatten sich die Hinterbliebenen an der großen Eichenholztafel versammelt. Nach der feuchten Kühle auf dem Friedhof genossen alle die Wärme des Feuers. Die Gesellschaft schwieg. Als das Testament verlesen ist, herrscht helle Aufregung, denn das verstorbene Oberhaupt der Oleanders hat verfügt, dass sich der Rest der Familie sein Erbe redlich verdient soll – mit Hilfe einer besonderen Schnitzeljagd durch die Hausbibliothek. Was jedoch als Spiel auf hohem Niveau beginnt, endet in einem tödlichen Spießrutenlauf...
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Samstagmorgen
Villa Oleander, Mai 2012 Ein unangenehm hoher, ja nervtötender Schrei hallte – oder sollte man besser schreiben: gellte? – durch das Haus. In Fernsehkrimis bedeutete das immer, dass eine Leiche entdeckt wurde. Und siehe da. Es war noch nicht sieben Uhr. Hagen öffnete die Augen und schielte auf seinen Nachttisch, Dörte ergriff unbewusst die starre Hand ihres Mannes und räkelte sich. Ursula und Marie schauten sich verschlafen und erschrocken zugleich an. Elke hielt in ihrem lüsternen Grunzen inne, während Albert sie weiter von hinten nahm und ihren breiten Hintern bearbeitete. Berthold und Helen schalteten beinah synchron ihre Nachttischlampen an, und Siegfried entdeckte verblüfft, dass sein Cousin und Zimmergenosse Gabriel bereits aufgestanden war. Auf der großen Dielentreppe kam die Haushälterin Gran Albert entgegen. In den Fluren war es noch dunkel, aber der große Speisesaal war bereits hell erleuchtet. „Etwas Furchtbares ist passiert“, Grans ohnehin zittrige Stimme bebte vor Angst und Erregung, „kommen Sie, kommen Sie.“ „Ja, Gran, was ist denn nur los? Ist der Kaffee ausgegangen? Haben Sie den Safe gefunden, und er ist explodiert, nich? Ist Stan explodiert?“ Albert versuchte sich körperlich erst mal zu beruhigen. Gran schaute ihn nur verstört an. Auf den oberen Fluren waren nun auch die anderen zu hören. In Bademänteln und Pantoffeln gekleidet, schritt die Familie Oleander verschlafen, ungekämmt und mit verklebten Augen einer nach dem anderen der wild gestikulierenden Gran folgend, die Treppe hinab, durch den Speisesaal in das Herrenkabinett. Hier brannte nur die grüne Tischlampe und beleuchtete das Zimmer spärlich. Auf dem Granittisch lagen mehrere aufgeschlagene Bücher, daneben ein Notizblock, ein Bleistift und ein Glas mit Rum. Der Boden war mit zerknüllten Blättern übersät, die Bücher in den Regalen waren herausgerissen und dann unsortiert und scheinbar hektisch wieder eingeräumt worden. „So haben wir gestern Abend das Kabinett aber nicht verlassen“, sagte Marie leise. „Hat jemand eingebrochen?“, fragte Elke sich an die Schulter ihres Mannes anlehnend. „Heißt es nicht: Ist jemand eingebrochen?“, erwiderte Marie geistesabwesend. „Hä?“ „Wie naiv. Welcher idiotische Einbrecher macht sich Notizen, lässt das Licht brennen und trinkt Schnaps?“, spöttelte Ursula. „Vielleicht ein dementer Alkoholiker mit Schreibblockade?“ Albert schob seine Frau sanft von sich. „Das war kein Außenstehender. Wie sollte er unbemerkt hinein und wieder hinausgekommen sein? Der elende Lump, ächhem, ist noch hier, unter uns, und versteckt sich.“ Siegfried schaute sich grimmig um und stierte mit zusammengebissenen Zähnen. „Fast richtig“, fuhr Hagen fort und begann sich wieder an seiner Ellenbeuge zu kratzen, „jemand von uns muss sich heute Nacht hier zu schaffen gemacht haben. Aber ich verstehe nicht, wieso Sie das so erschreckt, Gran? Zwar ist dieses Chaos nicht schön, aber in zwanzig Minuten lässt sich doch die Ordnung wieder herstellen.“ „Herr Hagen, es ist nicht die Unordnung. Schauen Sie dort hinten am Regal, in der Ecke!“ Ein dunkler Schemen war am hinteren Eckregal zu erkennen. Es schien die Silhouette einer ungewöhnlich großen Person zu sein. Helen betätigte den Lichtschalter. Ein Aufschrei ging durch die Menge der Anwesenden. Am Bücherregal hing – Gabriel. Tot. Erhängt. Bleich, mit offenem Mund und verdrehten blutigen Augen, Äderchen waren geplatzt. Seine übernatürliche Größe wurde durch einen blauen Schal verursacht, der sich, zur Schlinge geknotet, erst um Gabriels Hals wandte und dann im oberen Spalt der Bücherregal-Geheimtür verschwand. Offensichtlich musste er auf der Rückseite der Tür fixiert sein, so dass er das Gewicht des Toten tragen konnte. Gabriel hing etwa zwanzig Zentimeter über dem Boden an seiner blauen Henkersschnur. Er war mit einem Pyjama bekleidet und hatte darüber einen blauen Hausmantel geworfen, dessen Gürtelband offensichtlich die Schlinge abgegeben hatte. Aus der linken Brusttasche des Mantels stak ein kleinformatiges Buch heraus. „Was hat er da in seiner Brusttasche?“ Ursula begann sich als Erste zu regen und ging auf den Toten zu. „Agatha Christie hat geschrieben, dass, wenn in einem Krimi eine Bibliothek vorkommt, dort immer die erste Leiche gefunden werden muss“, bemerkte Marie. „Das ganze Haus ist eine einzige Bibliothek, es müsste hier von Leichen nur so wimmeln.“ „Halt, sollten wir nicht besser die Polizei rufen und so lang nichts verändern?“, warf Helen ein. „Und damit das Erbe verspielen?“, erwiderte Ursula. „Scheiß auf das Erbe, Gabriel ist tot!“ „Scheiß auf das Erbe? Was soll das? – Das Geld können wir noch bekommen, Gabriel ist uns für immer entschwunden.“ „Das ist ein Argument“, sagte Hagen, „wenn wir die Polizei holen, verlieren wir unnötig viel Zeit. Außerdem scheint es ja wohl ein Unfall zu sein. Es wird reichen, wenn wir die Polizei am Montag verständigen.“ „Was willst du denn dann der Polizei sagen? Etwa, dass wir zwei Tage lang eine Leiche im Haus versteckt haben, um das Spiel eines weiteren Toten um dessen Erbschaft zu Ende spielen zu können? – Machen wir uns damit nicht alle verdächtig? Uns eilt doch unser Ruf ohnehin schon voraus.“ „Was meinst du mit verdächtig, Marie? Vater hat doch eben von einem Unfall gesprochen? Wir sind hier nicht in einem Agatha-Christie-Krimi gefangen, oder?“, sagte Ursula und blieb zunächst stehen. „Was soll denn das für ein Unfall sein, bei dem man sich zufällig eine sauber gebundene Schlinge um den Hals legt, die dann an einem hoch gelegenen Punkt fixiert wird und man dann auch noch irgendwie den Halt verliert, so dass es zu einer versehentlichen Strangulation kommt?“ Maries Augenlid zuckte heftig. Die anderen schauten verlegen zur Seite. „Ja, seid ihr denn alle verrückt geworden?“, sprach Elke mit bebender Stimme. „Unser lieber Gabriel, mein Bruder, ist gerade gestorben, und ihr redet von nichts anderem als dieser beschissenen Erbschaft!“ „Kannst ja abhauen“, erwiderte Ursula schroff. „Das mach ich auch. Und dann geh ich zur Polizei und melde den Vorfall!“ „Das wirst du schön bleiben lassen! Sonst ...“, sagte Berthold erregt. „Was sonst! Bringst du mich dann auch um?“ „Elke, was sind das für Vorwürfe“, Hagen versuchte die Situation zu schlichten, „keiner wird gehen, und niemand wird umgebracht. – Gabriel war schließlich mein, äh, Sohn. Aber wenn wir jetzt die Polizei anrufen, verlieren wir das Erbe, und Gabriel kann man ohnehin nicht mehr helfen. Ich bin mir sicher, dass auch er es so gewollt hätte.“ „Vater, was ist das denn für ein bescheuerter Hollywood-Spruch! Gabriel war doch unser Denker und Geld für ihn eher ein notwendiges Übel. Er hat immer von Epikurs Garten geträumt und nicht von unermesslichen Reichtümern.“ „Was machen wir denn nun?“, fragte Helen. „Ich schlage vor, wir hängen ihn ab und bringen ihn erst mal in den Keller. Dort ist es, ächhem, kühl, so dass die Verwesung nicht so schnell fortschreitet.“ „Siegfried!“ „Albert, das ist doch nur logisch.“ „Ich dachte, das lernt man bei der Legion.“ „Möglich.“ „Was soll das denn nun ... egal, Berthold, Siegfried und Albert, ihr schneidet den Toten erst mal ab. Und Gran, Sie gehen und kochen eine große Kanne starken Kaffee.“ „In Bademänteln? Können wir uns nicht wenigstens erst umziehen?“ „Moment“, warf Marie ein, „wir sollten die Situation, so wie sie im Augenblick ist, dokumentieren und untersuchen, bevor wir Gabriel raustragen.“ „Da hat wohl jemand zu viel CSI gesehen“, spöttelte Ursula, ging dabei wieder auf den Toten zu. „Warte. Lasst uns den Tatort doch wenigstens gemeinsam analysieren. – Was fällt euch an dem Toten auf?“ „Das Buch in seiner Manteltasche ist eine Kröner-Ausgabe von Nietzsches ‚Wille zur Macht‘.“ „Sein Vermächtnis. Das passt in jedem Sinne.“ „Tante, bitte. Was seht ihr noch?“ „Das gibt’s doch nicht. Gabriel hat sich die Pantoffeln falsch herum angezogen. Oder ...“ „Oder jemand hat sie ihm falsch herum an die Füße gesteckt!“ Ein kurzes und unangenehmes Schweigen folgte. Allen war klar, was das bedeuten konnte. „Wo endet eigentlich das blaue Band?“ „Na, das ... äh ... scheint irgendwie im Regal zu stecken“, antwortete Helen und sah dabei Marie an. „Irgendwie ist gut“, überlegte Albert und reckte sich dabei in die Höhe, „das scheint förmlich zwischen zwei Hölzern im Regal zu verschwinden,...