E-Book, Deutsch, 160 Seiten, Format (B × H): 138 mm x 208 mm
Burgarth Wenn Mann scheitert
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7655-7741-3
Verlag: Brunnen Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wahre Geschichten von Krisen, Umwegen und neuen Perspektiven. Männer berichten von Lebenskrisen und ihrem Scheitern und was ihnen geholfen hat, neuen Lebensmut zu finden.
E-Book, Deutsch, 160 Seiten, Format (B × H): 138 mm x 208 mm
ISBN: 978-3-7655-7741-3
Verlag: Brunnen Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hauke Burgarth (Jg. 1964) lebt in Pohlheim bei Gießen. Der gebürtige Hamburger ist verheiratet, Vater von 4 erwachsenen Kindern und hat drei Enkel. Er arbeitet freiberuflich als Lektor und Autor für verschiedene Verlage. Daneben engagiert er sich in Teilzeit als Pastor einer Freikirche und arbeitet ehrenamtlich für ein humanitäres Hilfswerk. Er schwärmt für Kunst, Bücher und gute Gespräche. In seiner Freizeit fährt er außerdem gern Motorrad - am liebsten auf bergigen und kurvenreichen Nebenstrecken.
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Martin: Blindes Vertrauen
Einen der bekanntesten alten Griechen hat es wohl in Wirklichkeit nie gegeben: Damokles. Genau: Das war der mit dem Schwert. Sein Beispiel zeigt bis heute, dass das gute Leben, das man führt, schnell vorbei sein kann.
Damokles soll ein Bediensteter von König Dionysios aus Syrakus gewesen sein. Ständig äußerte er sich begeistert und überschwänglich über seinen König und ließ gleichzeitig durchblicken, dass er selbst auch gern so glücklich wäre, auf dem Thron zu sitzen. Irgendwann konnte der Monarch es nicht mehr hören und räumte seinen Platz. Vorher ließ er jedoch ein Schwert über dem Thron anbringen, das nur mit einem Pferdehaar befestigt war. Ganz klar: Irgendwann würde das reißen. So hatte Damokles sein Ziel erreicht und fühlte sich doch nicht wohl mit dem Schwert über seinem Kopf. Die Lektion des Königs, dass jedes Glück enden kann und auch wird, kam bei ihm an. Er gab dem Herrscher seinen Platz zurück und beklagte sich nicht mehr. Das Damoklesschwert wurde als Synonym für drohendes Unheil sprichwörtlich.
Martin kennt diese Geschichte. Immer wieder sprachen andere davon, dass auch über ihm ein Damoklesschwert hängen würde, doch eigentlich stimmte das nicht. Da hing zwar eine Bedrohung über seinem Leben, doch er konnte ihr nicht ausweichen. Er konnte nicht sagen: Alles klar, ich habe meine Lektion gelernt. Setzt das Leben wieder auf „Start“ und lasst mich noch einmal von vorne anfangen.
Als er 1972 in Helmstedt geboren wurde, gab es die deutsch-deutsche Grenze noch. Wenige hundert Meter hinter dem Haus seiner Eltern endete die Welt für ihn. Er hörte schon früh: „Vorsicht! Geh nicht zu nah an die Grenzanlagen.“ Dort standen Zäune, der sogenannte Todesstreifen und Wachtürme mit Soldaten, die alles durch ihre Ferngläser beobachteten. Gleichzeitig war die Autobahn A2 Richtung Marienborn eine wichtige Verbindungsstrecke in die DDR hinein. Das alles war damals für ihn allgegenwärtig und normal.
Martin war das Jüngste von fünf Kindern. Stärker als Grenzzaun und Todesstreifen beschäftigte sie als Familie eine erbliche Augenerkrankung, die vier der Kinder betraf. Sie hatten schon früh Sehprobleme, und es war klar, dass sie irgendwann erblinden könnten. Während andere Jungs in seinem Alter sich nie irgendwelche Gedanken um körperliche Einschränkungen machen mussten und sich nur fragten, ob sie lieber so gut wie Karl-Heinz Rummenigge oder wie Rudi Völler Fußball spielen wollten, kannte Martin seinen „Gegner“ bereits mit lateinischem Namen: Retinitis Pigmentosa. Und er wusste, dass diese Netzhautdegeneration dafür sorgen würde, dass er immer schlechter und irgendwann wahrscheinlich gar nicht mehr sehen könnte.
Daheim war das immer mal wieder Gesprächsthema, aber es bestimmte nie das Klima. „Du wirst deinen Weg gehen, die Schule abschließen und einen Beruf ergreifen. Dabei wird vieles geschehen, was dir nicht gefallen wird, aber so ist das im Leben. Es wird auch viel Schönes geschehen, worüber du dich freuen kannst.“ Sätze wie diese hörte Martin von seinen Eltern immer wieder. Sie packten ihre Kinder nicht in Watte, erlaubten ihnen so viel wie möglich und förderten sie, so gut es ging.
Das begann in der katholischen Kirchengemeinde, wo Martin selbstverständlich an allen Kinderaktionen teilnahm. Wenn es mit den Pfadfindern ins Gelände ging, stellte sich nie die Frage: „Kann der Junge mitkommen?“ Stattdessen ging es darum, wie Draußensein, Zelten und Geländespiele trotz seiner Einschränkung auch für ihn gute Erfahrungen werden konnten. Ähnliches galt für Martins Lieblingsort: Kurz vor der Grenze lag der Bauernhof einer befreundeten Familie. Er liebte es, dort zu sein. Wann immer es ihm möglich war, half er bei der Ernte mit, arbeitete in der Scheune oder ritt mit dem Pony aus. Die Frage „Darf ein Kind, das nicht gut sieht, so etwas machen?“ stellte sich nicht. Sogar Prinz, das Pony, schien zu verstehen, dass seine Augen eben für dieses Kind mitsehen mussten.
Deutlich schwieriger war das Leben in der Schule. Mit dem Unterrichtsstoff kam Martin gut zurecht, aber seine Mitschüler und auch etliche Lehrer konnten nicht gut damit umgehen, dass er für manches länger brauchte, weil er zum Beispiel immer wieder an die Tafel gehen musste, um zu erkennen, was dort stand. Er brauchte schon in der Grundschule Sehhilfen: große Lupen, um Bilder und Texte zu erkennen, und eine starke Lampe am Platz, damit er genug Licht zum Sehen hatte. Regelmäßig zogen seine Mitschüler hier den Stecker heraus. Wenn Martin etwas vorlesen sollte, ging die Lampe nicht an und er musste erst einmal aufstehen und den Stecker wieder einstecken. Das gab jedes Mal Gelächter in der Klasse. Wenn er am Ende des Schultags seine Sachen zum Klassenschrank trug, damit sie eingeschlossen werden konnten, stellten ihm manche ein Bein oder schoben ihren Ranzen so in den Gang, dass er darüber stolpern musste. Er litt unter diesen dauernden Bosheiten.
Die Lehrkräfte reagierten kaum auf solche Schikanen. Sie taten sich auch schwer damit, ihn in den Unterricht zu integrieren, wenn es um mehr als Lesen, Schreiben und Rechnen ging. Oft saß Martin einfach nur daneben und konnte nicht mitmachen, etwa wenn im Sport Ballspiele auf dem Programm standen oder im Kunstunterricht eine Zeichentechnik verlangt wurde, die Martin mit seinem eingeschränkten Sehvermögen nicht umsetzen konnte. Eine echte Förderung war nicht möglich. Mehr und mehr realisierte Martin: Hier bin ich nicht richtig.
Das Mobbing blieb nicht auf den Klassenraum begrenzt. Ein Mitschüler lauerte ihm regelmäßig auf dem Schulweg auf, beschimpfte ihn als „Scheißblinden“ schlug, trat und bespuckte ihn und schubste ihn auch auf die Straße. Woher kam dieser Hass? Martin wusste es nicht. Er fühlte sich hilflos und ausgeliefert. Wie sollte er als Kind damit umgehen? Zum Glück für ihn bekam ein anderer Junge diese Szenen mit. Er holte ihn daraufhin morgens ab und begleitete ihn zur Schule, und auch mittags liefen sie meist zusammen und er beschützte ihn. So litt er einerseits unter den Anfeindungen oder der Ignoranz von Menschen, erfuhr aber gleichzeitig, dass sich andere immer wieder an seine Seite stellten und für ihn da waren. Wenn er frustriert oder mit Kopfschmerzen von der Anstrengung nach Hause kam, fühlte er sich daheim immer angenommen und willkommen. Dabei spielte auch Gott eine selbstverständliche Rolle, denn seine Eltern segneten ihn morgens und zeichneten ihm dazu ein Kreuz auf die Stirn, abends sprachen sie ein Nachtgebet mit ihm. Selbst wenn er immer wieder Schwierigkeiten erlebte, wusste Martin: Ich bin nicht allein.
Nach der Grundschule und der Orientierungsstufe war jedoch klar, dass er in diesem Umfeld nicht bleiben konnte. Mit vierzehn Jahren kam er ins Landesbildungszentrum für Blinde, ein Internat in Hannover. Den Umzug dorthin erlebte er nicht als schmerzhafte Trennung, sondern als großen Schritt in die Freiheit. Hier war er kein Außenseiter, sondern einer von vielen. Die Lehrerinnen und Lehrer waren geschult und erfahren im Umgang mit Augenerkrankungen wie seiner und kamen damit zurecht. Hier wurde er nicht mehr ständig mit dem konfrontiert, was er nicht konnte. „Was bringst du mit? Was kannst du – und vor allem: Was willst du?“ Das wurden leitende Fragen im Unterricht. Zusätzlich lernte Martin Schlagzeug und Klavierspielen. Er kämpfte im Judo, ruderte und konnte auf einer besonders präparierten Laufbahn Langstrecken laufen. Plötzlich merkte er, dass er viel mehr konnte, als er bisher gedacht hatte. Aber er lernte auch, aktiv mit seiner Behinderung umzugehen. Noch hatte er einen Rest Sehstärke, doch selbstverständlich musste er Blindenschrift lesen und schreiben lernen.
Nach seinem Realschulabschluss zog Martin weiter an die „blista“, die Blindenstudienanstalt in Marburg. Hier startete er richtig durch. Er besuchte die Oberstufe und lernte parallel, seinen Alltag als Blinder in einer Welt der Sehenden zu bewältigen. Das begann bei der Wohnungseinrichtung und dem Kochen und hörte beim Unterwegssein im Straßenverkehr noch längst nicht auf. Niemand musste hier einem anderen die eigene Situation erklären. „Wir waren Freunde, Schule und Selbsthilfegruppe in einem“, beschreibt Martin diese Zeit. Nach dem Abitur flossen Tränen, denn die dreißig Schülerinnen und Schüler seines Jahrgangs verteilten sich auf ganz Deutschland, um weiterzulernen oder zu studieren. Martin zog nach Braunschweig und schrieb sich als erster Blinder an der Technischen Universität für Biologie ein. Er wollte schon immer wissen, wie das Leben funktioniert, also hatte er sich für dieses Fach entschieden.
Hier begegnete er wiederum Menschen, die ihm vieles möglich machten, und anderen, die gar nicht mit seiner Behinderung klarkamen. Zu Beginn besuchte er in Braunschweig eine Studienberatung für Menschen mit Behinderung. Die hatten keine Vorstellung, was sie...




