Buch, Deutsch, Band 65, 252 Seiten, Format (B × H): 140 mm x 215 mm, Gewicht: 322 g
Reihe: Schriften des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung Köln
Die Politik der beruflichen Bildung seit 1970
Buch, Deutsch, Band 65, 252 Seiten, Format (B × H): 140 mm x 215 mm, Gewicht: 322 g
Reihe: Schriften des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung Köln
ISBN: 978-3-593-38866-3
Verlag: Campus
Das deutsche System der Berufsbildung befindet sich im Wandel. Der Zugang zur Ausbildung, ihre Finanzierung und die Beteiligung der Unternehmen haben sich verändert. Marius Busemeyer zeichnet diesen Prozess nach, nimmt aber vor allem die politische Dimension der Berufsbildung in den Blick. Seine Dokumentation und Rekonstruktion der politischen Debatten zwischen Gewerkschaften, Arbeitgebern und staatlichen Akteuren der letzten vier Jahrzehnte zeigt den langfristigen Wandel in der Politik der beruflichen Bildung. Dabei wird deutlich, wie stark die politische Geschichte der beruflichen Bildung in Deutschland mit Veränderungen im Bereich der Arbeitsbeziehungen verknüpft ist.
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Vorwort. 9
Kapitel 1
Einleitung. 11
Kapitel 2
Das deutsche Berufsbildungssystem im Wandel. 17
2.1 Zugang zu beruflicher Erstausbildung. 17
2.1.1 Entwicklung von Angebot und Nachfrage nach Ausbildung. 17
2.1.2 Wandel von Bildungs- und Beschäftigungskarrieren. 18
2.1.3 Sinkendes Ausbildungsangebot und Warteschleifen seit Anfang der Neunzigerjahre. 28
2.2 Ausbildungsbeteiligung und Übernahmequoten. 41
2.3 Die Finanzierung der beruflichen Erstausbildung. 47
2.3.1 Datenlage und Überblick. 48
2.3.2 Entwicklungstrends seit den Siebzigerjahren. 53
2.4 Berufsbildung im Wandel: Die wichtigsten Erklärungsansätze. 62
2.4.1 Struktureller Wandel der Wirtschaft. 62
2.4.2 Ansteigende Kosten der Ausbildung. 71
2.4.3 Teilarbeitsmärkte und Rekrutierungsstrategien von Unternehmen. 74
2.4.4 Zwischenfazit. 76
Kapitel 3
Die Politik der beruflichen Bildung. 78
3.1 Die Siebzigerjahre: Hohe Reformansprüche und ihr Scheitern. 79
3.1.1 Reformeuphorie. 79
3.1.2 Ernüchterung. 88
3.1.3 Die Entdeckung der Neuordnungspolitik. 96
3.1.4 Grundsteinlegung für das Übergangssystem. 101
3.2 Die Achtzigerjahre: Korporatistische Selbstverwaltung und regierungspolitische Zurückhaltung. 106
3.2.1 Allgemeine Berufsbildungsreform. 106
3.2.2 Einzelaspekte. 117
3.2.3 Die Politik der Zahlen. 121
3.2.4 Neuordnungspolitik. 124
3.3 Die Neunzigerjahre: Institutionalisierung der dualen Berufsausbildung in den neuen Bundesländern. 127
3.3.1 Berufsausbildung in den neuen Bundesländern. 127
3.3.2 'Reformprojekt berufliche Bildung'. 139
3.3.3 Neuordnungspolitik. 145
3.4 Neuere Entwicklungen: Europäisierung, Modularisierung und Segmentierung. 147
3.4.1 Bündnispolitik und Sofortprogramme. 148
3.4.2 Ausbildung als Gegenstand der Tarifpolitik. 150
3.4.3 Wiederbelebung der Finanzierungsdebatte. 151
3.4.4 Berufsbildungsreform. 157
3.4.5 Liberalisierung und Deregulierung der Rahmenbedingungen. 165
3.4.6 Modularisierung durch Europäisierung?. 166
3.4.7 Berufsbildungspolitik der Großen Koalition. 169
Kapitel 4
Der Wandel der Arbeitsbeziehungen und die Berufsbildungspolitik. 176
4.1 Arbeitsbeziehungen im Wandel. 176
4.2 Die Politik der beruflichen Bildung im Wandel. 181
4.2.1 Betriebliche Ebene. 181
4.2.2 Tarifpolitik. 184
4.2.3 Neuordnungspolitik. 187
4.2.4 Allgemeine Berufsbildungsreform. 197
4.3 Zusammenfassung und Ausblick. 202
Anhang: Zusätzliche Daten und Statistiken. 208
Abbildungen und Tabellen. 221
Abkürzungen. 224
Literatur. 226
3.3 Die Neunzigerjahre: Institutionalisierung der dualen Berufsausbildung in den neuen Bundesländern
Die Fragen der Berufsbildungspolitik der Siebziger- und Achtzigerjahre nach
der Sicherstellung eines quantitativ und qualitativ ausreichenden Angebots an
Ausbildungsstellen, der Zuschneidung und Neuordnung von Ausbildungsberufen
durch Kompromisse zwischen Berufsbreite und Berufstiefe sowie die
Anbindung der beruflichen Bildung an allgemeine Bildung, Hochschulen und
Weiterbildung spielten auch in den Neunzigerjahren eine wichtige Rolle. Das
dominierende Thema war allerdings, wie das Modell der dualen Ausbildung auf
die neuen Bundesländer übertragen werden könnte und welche Rückwirkungen
dies auf das Ausbildungssystem der alten Länder haben würde. Diese Debatte
wird im Folgenden zuerst behandelt, anschließend weitere wichtige Themen der
Berufsbildungspolitik der Neunzigerjahre.
3.3.1 Berufsausbildung in den neuen Bundesländern
Die Berufsausbildung hatte wie in der BRD auch in der DDR, dem 'Arbeiterund
Bauernstaat', einen hohen Stellenwert (Schäfer 1990a). Zwischen beiden
Ausbildungssystemen gab es aufgrund der gemeinsamen Geschichte durchaus
Ähnlichkeiten (Berger 1995: 29; Locke/Jacoby 1997: 38),55 die eine Übertragung
des westdeutschen Modells auf die neuen Bundesländer möglich erscheinen ließen:
So war die Berufsausbildung in der DDR ebenso wie in Westdeutschland
hauptsächlich eine betriebliche Ausbildung, anders als in den übrigen Ostblock-
Staaten (Autsch 1995: 24; Schäfer 1990a: 283). Ein wesentlicher Unterschied
war, dass westdeutsche Betriebe in einem marktwirtschaftlichen Umfeld agierten
und ostdeutsche im Rahmen einer planwirtschaftlichen Ordnung. Darüber
hinaus war bedeutsam, dass in der BRD der theoretische Teil der Ausbildung in
öffentlichen Berufsschulen in kommunaler Trägerschaft vermittelt wurde, während
in der DDR die betrieblichen Berufsschulen überwogen, die im Grunde
ebenfalls staatliche Institutionen und den Betrieben nur 'angelagert' waren
(Autsch 1995: 19–20; Johnson 1995: 134–135; Schäfer 1990d: 292). Die Tatsache, dass die Entscheidung zur Einstellung von Auszubildenden in Westdeutschland
unter die einzelbetriebliche Verfügungsmacht gestellt wurde, hatte dort
quantitative Engpässe entstehen lassen. In der DDR musste sich das Ausbildungsangebot
den volkswirtschaftlichen Gegebenheiten und Planungen unterordnen
(ebenso wie die Berufswünsche der Jugendlichen), und Großbetriebe
wurden teilweise verpflichtet, Lehrlinge aus anderen Betrieben auszubilden
(Autsch 1995: 21; Berger 1995: 29; Jaudas et al. 2004: 95). Durch die Reformen
der Achtzigerjahre wurde neben der Vermittlung von fachlichen Qualifikationen
zunehmend die Ausprägung von sozialistischen Handlungs- und Denkweisen
zum Ziel (Schäfer 1990c: 328). Die Steuerung der beruflichen Bildung erfolgte
nicht im Rahmen einer institutionellen Struktur der Selbstverwaltung, sondern
auf hierarchische Weise durch staatliche Institutionen (das Staatssekretariat für
Berufsbildung und das Zentralinstitut für Berufsbildung der DDR; Autsch
1995: 22; Schäfer 1990d: 292–293).
Die offizielle Rhetorik der Bundesregierung sah anfangs von einem einfachen
Transfer des westdeutschen Systems auf die neuen Länder ab und sprach
lieber von einer Zusammenführung zweier Systeme: 'Der Beitritt der neuen
Ländern sollte jedenfalls nicht dazu führen, die dort gewonnenen spezifischen
Erfahrungen generell für obsolet zu erklären' (Bundesregierung 1991b: 1).56 Es
wurde jedoch bald deutlich, dass man an einer Übertragung des dualen Systems
ohne Abstriche interessiert war, auch, weil sich die Etablierung eines alternativen
Ausbildungssystems im Osten auf die Machtbalance im Gesamtsystem
ausgewirkt hätte (Johnson 1995: 155).
Die Bildungspolitik im Allgemeinen hatte in der Phase unmittelbar nach
der Wende eine große Bedeutung. Bereits im Mai 1990 konstituierte sich die
Gemeinsame Bildungskommission von BRD und DDR, die die Zusammenführung
der beiden Systeme vorbereiten sollte. Die 'gegenseitige Orientierung
der Bildungspolitik beider Staaten und eine schrittweise Zusammenführung der
beiden Bildungs- und Wirtschaftssysteme' (BMBW 1995[1990]b: 208) wurden
in der konstituierenden Sitzung zum gemeinsamen Ziel erklärt (siehe auch den
Vorschlag zur Einrichtung einer Gemeinsamen Bildungskommission, BMBW
1995[1990]c: 207). Die westdeutschen Vertreter wollten den Reformprozess
in der DDR unterstützen, aber auch das westdeutsche Bildungssystem in der
DDR etablieren (vor allem in den Bereichen berufliche Bildung und Hochschulbildung;
Fuchs/Reuter 1995a: 201). In der dritten und abschließenden Sitzung der Gemeinsamen Bildungskommission circa vier Monate später wurde bereits
die Übernahme des 'Hamburger Abkommens', ein wichtiger Grundpfeiler
des westdeutschen Bildungsföderalismus, in den Einigungsvertrag beschlossen
(BMBW 1995[1990]a: 221). In der beruflichen Bildung wurde die 'schnellstmögliche
Einführung des Ordnungsrahmens der Bundesrepublik für Berufsbildung
(Berufsbildungsgesetz, Handwerksordnung, Berufsschulgesetz, Ausbildungsordnungen
und Rahmenlehrpläne)' in den neuen Bundesländern angestrebt
(BMBW 1995[1990]a: 222).
Der beruflichen Bildung wurde nochmals eine besondere Bedeutung zuerkannt
(Fuchs/Reuter 1995b: 23; siehe auch die Betonung der beruflichen Bildung
im 'Gemeinschaftswerk Aufschwung-Ost', Bundesregierung 1991a: 24–26).
Man traute dem dualen System zu, die befürchteten Probleme der Jugendarbeitslosigkeit
in den neuen Bundesländern ebenso wie in den alten zu lösen und
eine Abwanderung von Arbeitskräften in den Westen zu verhindern (BMBW
1995[1990]b: 208). Bereits im August 1990 beschloss die demokratisch gewählte
DDR-Volkskammer die Übernahme des BBiG in den Geltungsbereich der
DDR, sodass der Jahrgang 1990 zum größten Teil nach dem westdeutschen dualen
System ausgebildet werden konnte (Johnson 1995: 127). Die institutionelle
Infrastruktur und die entsprechenden intermediären Organisationen (Kammern,
Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, aber auch Länderadministrationen),
die im Rahmen des westdeutschen Modells eine wichtige Rolle spielen,
mussten allerdings noch aufgebaut werden.
Nach der Wiedervereinigung stand man vor verschiedenen Herausforderungen:
1. Durch die Umstellung einer planwirtschaftlichen auf eine marktwirtschaftliche
Ordnung waren ökonomische Verwerfungen zu erwarten, die sich auch
auf Beschäftigung und Ausbildung auswirken sollten (Betriebsinsolvenzen,
ökonomische Unsicherheit und daraus resultierende Zurückhaltung der Unternehmen
bei Einstellungen).
2. Die Trägerschaft der Berufsschulen musste von Betrieben auf Kommunen
und Kreise übertragen werden.
3. Die Kammern mussten erst als neue Institutionen errichtet werden und anschließend
sofort ihre Funktionen und Aufgaben im Rahmen des dualen
Systems übernehmen.
4. Die Anbindung der beruflichen Bildung an die allgemeine Bildung musste
geregelt werden (Schulgesetze der neu geschaffenen Länder).
5. Die strukturelle Schwäche des Handwerks musste behoben werden, damit
dieser wirtschaftliche Sektor wie im westdeutschen Modell seine besondere
Rolle in der Berufsbildung übernehmen konnte.