E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Carlin Oscar Pistorius
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-8419-0378-5
Verlag: Edel Sports - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Die Suche nach der Wahrheit
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-8419-0378-5
Verlag: Edel Sports - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Format: EPUB
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John Carlin erfolgreicher Journalist, Autor, Filmregisseur, ist Sohn eines schottischen Vaters und einer spanischen Mutter, aufgewachsen in Buenos Aires. Nach seinem Studium der Literatur an der Oxford University war er für die britische Tageszeitung The Independent Chefredakteur in Südafrika, danach für deren Sonntagsausgabe in New York. Seit 1998 arbeitet er für El País in Barcelona. Carlin ist Autor u.a. von Playing the enemy (als Invictus verfilmt von Clint Eastwood).
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1
Nicht den Schnellen gehört im Wettlauf der Sieg, ... sondern jeden treffen Zufall und Zeit.
KOH 9, 11
Er balancierte auf den Stümpfen seiner amputierten Beine, hielt eine 9-mm-Pistole mit beiden Händen umklammert und schoss viermal auf eine Tür im Badezimmer in der obersten Etage seines Hauses. Es war die Toilettentür. Irgendjemand war dahinter.
Verwirrt und unter Schock stehend taumelte er auf die durchlöcherte Tür zu und versuchte, sie zu öffnen. Sie war verschlossen. »Oh Gott! Was habe ich getan?«, schoss es ihm durch den Kopf.
Seine Ohren waren noch so betäubt vom lauten Knallen seiner Schüsse, dass er seine eigenen Schreie nicht hörte. Er eilte durch einen schmalen Gang ins Schlafzimmer und stützte sich dabei an der Wand ab, um nicht umzufallen. Im Schlafzimmer öffnete er eine Schiebetür, die auf den Balkon hinausführte, und schrie: »Hilfe! Hilfe! Hilfe!« Seine Beinprothesen standen neben dem Bett. Er zog sie an, rannte ins Badezimmer zurück und versuchte vergebens, die Toilettentür einzutreten. Er schrie immer verzweifelter. Wieder rannte er ins Schlafzimmer. Nun schnappte er sich einen Kricketschläger, den er dort aufbewahrte, um sich im Falle eines Falles gegen Einbrecher wehren zu können. Er kehrte ins Badezimmer zurück und hieb mit aller Kraft auf die verriegelte Tür ein. Endlich gab eines der massiven Holzelemente nach, sodass er die Hand durch den entstandenen Spalt strecken und die Tür aufschließen konnte. Und da lag sie, seine Freundin, auf dem Boden zusammengesackt, ihr Kopf auf der Klobrille. Ihre blauen Augen blickten leer, Blut quoll aus ihrem Arm, ihrer Hüfte und ihrem Kopf. Sie bewegte sich nicht, aber vielleicht, so hoffte er, atmete sie noch. Der widerwärtige metallische Geruch, der von ihren Wunden aufstieg, raubte ihm fast die Sinne, doch er nahm all seine Kraft zusammen, um ihren glitschigen, blutverschmierten Körper von der Toilette zu heben. Durch die Finger seiner Hand, mit der er ihren Kopf stützte, sickerte Blut. Er legte ihren Körper auf den weißen Marmorboden im Bad und flehte Gott unter Tränen an, ihr Leben zu retten. Er griff nach einem Handtuch, beugte sich über sie und versuchte, die Blutung an ihrer Hüfte zu stillen. Doch während er völlig aufgelöst und verzweifelt auf ihren zertrümmerten Schädel und die leblosen Augen starrte, dämmerte ihm, dass selbst Gott angesichts der schrecklichen Kopfschusswunde nichts mehr ausrichten konnte – dieses Grauen konnte durch nichts wieder ungeschehen gemacht werden.
Es war Donnerstag, der 14. Februar 2013. Valentinstag. Die Schüsse wurden zwischen 3:12 Uhr und 3:14 Uhr abgefeuert. Sie fielen in einem Haus im Silver Woods Estate, einer bewachten Villensiedlung am Ostrand der südafrikanischen Hauptstadt Pretoria. Es gehörte dem »Blade Runner« Oscar Pistorius, dem weltberühmten 26-jährigen Sportler, der als erster behinderter Sprinter an den Olympischen Spielen teilgenommen hatte, dem »schnellsten Mann ohne Beine«. Er hatte die Schüsse abgefeuert. Sein Opfer war Reeva Steenkamp, 29 Jahre alt, Model und aufstrebender Star einer südafrikanischen Reality-TV-Serie. Durch ihren Tod erlangte sie über Nacht weltweit traurige Berühmtheit.
Um 3:19 Uhr griff Pistorius zum ersten Mal zum Telefon und rief seinen Nachbarn und Freund Johan Stander, den Manager von Silver Woods, an. Eine Aufzeichnung des Telefonats belegt, dass der Anruf 24 Sekunden dauerte. »Johan, bitte, bitte, kommen Sie zu meinem Haus«, schrie er. »Ich habe Reeva erschossen. Ich dachte, sie sei ein Einbrecher. Bitte, bitte, bitte, kommen Sie schnell.« Anschließend rief er den Notruf an. Dort riet man ihm, er solle versuchen, Reeva selbst ins Krankenhaus zu bringen. Als Letztes telefonierte Pistorius mit dem Wachdienst von Silver Woods. Alle drei Gespräche fanden in einem Zeitraum von fünf Minuten statt.
Stöhnend und schluchzend hob Pistorius in einem ungeheuren Kraftakt den blutüberströmten Körper seiner Freundin auf und trug sie auf seinen Armen aus dem Badezimmer über den Flur zu einer grauen Marmortreppe, wobei ihr Kopf leblos auf seiner Schulter hing. Die Pistole, mit der er geschossen hatte, war nicht mit normaler 9-mm-Munition geladen. Wäre dem so gewesen, hätte Reeva vielleicht noch eine Überlebenschance gehabt. Stattdessen enthielt ihr Magazin Dumdumgeschosse, die ihr Ziel nicht einfach nur durchschlagen, sondern sich nach dem Aufprall in der Einschussstelle verformen und eventuell zersplittern, wodurch sie größtmöglichen Schaden anrichten.
Als er mit der toten oder sterbenden Frau auf den Armen die Treppe halb hinabgestiegen war, betrat der Wachmann Pieter Baba sein Haus durch den Vordereingang; hinter ihm erschienen wenige Augenblicke später Stander und dessen erwachsene Tochter Carice. Bei ihnen stand kurz darauf auch Frankie Chiziweni, ein junger Mann aus Malawi, der auf Pistorius’ Grundstück lebte und dort als Gärtner und Haushälter arbeitete.
Durch seinen Tränenschleier hindurch sah Pistorius, wie ihn alle vier anstarrten und bestürzt ihre Hände vors Gesicht hielten. Er brüllte sie an, ihm zu helfen, aber einen Schreckensmoment lang standen sie nur wie angewurzelt da, ohne glauben zu können, was sie mit eigenen Augen sahen. Es war unfassbar: Vor ihnen stand ihr sanftmütiger, zuvorkommender Nachbar, der Nationalheld Oscar Pistorius, und auf seinen Armen trug er Reeva Steenkamp, das immer lächelnde, warmherzige Fotomodel, das in den vergangenen Monaten oft bei ihm zu Besuch gewesen war. Sie hatte ein T-Shirt und Shorts an, ihre langen Beine hingen schlaff herab. Er trug lediglich ein paar glänzende Basketballshorts, die ihm über die Knie reichten und den oberen Teil seiner hautfarbenen Prothesen bedeckten. Hinter ihm verlief eine blutige Spur die Treppe hinab, bis dahin, wo er stand. Blut rann ihm den Rücken hinab, durchtränkte ihre Kleider, ihr blondes Haar, seine Shorts, es rann ihm über seine Beine, über seinen nackten Oberkörper, seine Schultern – in Strömen.
Stander, der älteste der vier Hinzugekommenen, überwand als Erster seine Schockstarre. Er sagte, dass ein Krankenwagen unterwegs sei, und wies Pistorius an, Reeva auf einen Teppich neben einem Sofa im Wohnzimmer in der Nähe des Hauseingangs zu legen. Pistorius ging auf die Knie, legte sie behutsam ab und suchte in ihrem zertrümmerten Gesicht verzweifelt nach einem Lebenszeichen. Er öffnete ihren Mund und legte ihr dabei einen Finger zwischen die Lippen, als wollte er sie dadurch zum Atmen animieren. Die andere Hand presste er auf die Wunde an ihrer rechten Hüfte, wo die Blutung am stärksten war. Doch all seine Bemühungen waren vergebens. Es gab kein Anzeichen dafür, dass sie noch lebte. Und die Blutung ließ sich auch nicht stoppen. Carice Stander drückte ein Handtuch auf Reevas Hüfte, fragte Pistorius, ob er ein Seil oder Klebeband habe, mit dem man die Blutung der dritten Wunde stillen könnte, und nährte so seine vage Hoffnung, dass sie noch irgendetwas tun konnten, um ihr Leben zu retten. Es war inzwischen zehn Minuten her, seit er die Schüsse abgefeuert hatte. Ihre Augen waren geschlossen, und sie gab nicht den geringsten Ton von sich. Verzweifelt suchte Pistorius an der Innenseite ihrer Handgelenke nach ihrem Puls, aber da war nichts. »Bitte, Gott, bitte, lass sie am Leben. Sie darf nicht sterben!«, betete er. »Bleib bei mir, Liebste, bleib bei mir!«
Zwei Minuten nachdem die anderen hinzugekommen waren, betrat mit dem Arzt Johan Stipp ein fünfter Zeuge das Haus. Stipps Haus war nur etwa hundert Meter entfernt. Er war von den Schüssen aus dem Schlaf gerissen worden.
»Was ist passiert?«, fragte der Arzt.
»Ich habe auf sie geschossen. Ich hielt sie für einen Einbrecher. Ich habe auf sie geschossen«, schrie Pistorius, während er mit seinem Finger immer noch in ihrem Mund herumnestelte, um ihre Zähne, die fest zusammengepresst waren, irgendwie auseinanderzubekommen.
Dr. Stipp war zwar Radiologe, kein Notarzt, doch um die Vitalfunktionen zu überprüfen, musste man kein Spezialist sein. Er hatte wenig Hoffnung für Reeva, weil er sah, dass die Schädeldecke aufgebrochen war und Hirnmasse herausquoll. Er tastete an der Innenseite ihr Handgelenk ab: kein Puls. Er hob ihr rechtes Augenlid: die Pupille zog sich nicht zusammen. Es gab keinen Zweifel: Sie war hirntot, die Verletzungen waren tödlich.
Der Rettungswagen kam um 3:43 Uhr. Zwei Notärzte bestätigten Stipps Diagnose und erklärten Reeva für tot.
Schluchzend, jeder Hoffnung beraubt, schleppte sich Pistorius die Treppe hinauf. In Carice Stander stieg Panik auf. Ihr wurde klar, dass die Waffe, mit der er geschossen hatte, da oben noch irgendwo herumliegen musste und fürchtete, er würde tun, was sie an seiner Stelle vielleicht getan hätte. Sie lief ihm hinterher und überlegte, wie sie ihn davon abhalten könne, sich selbst eine Kugel durch den Kopf zu jagen – doch ihre Sorge war unbegründet, im Moment zumindest. Pistorius taumelte in Tränen aufgelöst durch den Flur zu seinem Schlafzimmer. Ein Teil von ihm sehnte sich danach, auch tot zu sein, doch genauso sehnte er sich nach Verständnis und Vergebung. Beides suchte er nicht bei seiner Familie, die zweifellos zu ihm stand, sondern bei seinem Freund Justin Divaris, jenem Mann, der ihn und Reeva vor ein paar Monaten miteinander bekannt gemacht hatte. Pistorius ging in sein Schlafzimmer und rief mit seinem Handy Divaris an. Das war um 3:55 Uhr.
»Es hat einen schrecklichen Unfall gegeben. Ich habe Reeva erschossen«, erklärte er Divaris, der zuerst gar nicht begriff oder glauben konnte, was er da hörte. Er bat Pistorius, sich erst einmal zu beruhigen und dann zu wiederholen, was er gesagt hatte. »Ich habe Reeva erschossen. Es war ein Unfall.« Wie schlimm denn die Verletzungen seien?,...