E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Carstens Die Flüchtlingslager St. Peter-Böhl und Pelikan
2. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7583-7672-6
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Kapitel Deutscher Nachkriegsgeschichte
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-7583-7672-6
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das Flüchtlingslager St. Peter-Böhl kenne ich aus eigener Anschauung. Von 1949 bis 1955 "wohnten" meine Familie und ich in der Baracke Bremen (oben), obwohl wir Einheimische waren. Meine Erinnerungen an das Lager und seine "Insassen" sind noch recht lebhaft. Vom Lager "Pelikan" kenne ich die meisten Bewohnerinnen und Bewohner. Als es im Februar 1951 aufgelöst wurde, zogen die meisten "Pelikaner" in das Lager Böhl um, unter ihnen viele Ausgebombte aus Hamburg. Es ist das dritte Mal seit 1988, dass ich mich mit den beiden Flüchtlingslagern St. Peter-Ordings auseinandersetze. Ich fand immer neue Facetten. Da beide Lager nicht als Flüchtlingslager konzipiert wurden, haben sie eine Vorgeschichte. Diese und die Entwicklung, die sie im Laufe der Zeit genommen haben, erzählt das Buch. Heute wird auf dem ehemaligen Lagergelände in Böhl "Golf" gespielt. Dabei heisst es doch immer "das Schicksal hat keinen Humor".
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Einleitung
Zum einen …
Der ehemalige Lagerarzt Dr. Detlev Drenckhahn, von dem im Verlaufe des Buches noch zu lesen sein wird, hat einmal in einem NDR-Interview über seine Erinnerungen an das Lager St. Peter-Böhl gesagt: „Wenn ich die Augen schließe und an das Lager denke, habe ich neben den typischen Lager-Geräuschen einen intensiven Geruch von Kohl in der Nase, der alle anderen Gerüche überdeckt.“
So ähnlich geht es mir auch. Zwar rieche ich nicht unbedingt die Dünste einer allgemeinen Kohlzubereitung, aber ansonsten habe ich eine intensive Erinnerung an das Lager Böhl, in dem ich insgesamt etwas mehr als 6 Jahre „gewohnt“ habe.
Als knapp zweijähriger, 1948 gebürtiger St. Peteraner, wurde ich zum Flüchtling. Die Jahre von 1949 bis 1955 verbrachten meine Eltern, mein Bruder und ich im Flüchtlingslager St. Peter-Böhl.
Meine Eltern hatten 1947 geheiratet und wir wohnten zunächst im Haus meines Großvaters Julius Carstens in der Böhler-Landstraße. Da weitere Verwandte dort wohnten, wurde es zu eng und diese Enge tat der Beziehung zu den Verwandten nicht wohl. Leider waren die Unterbringungsmöglichkeiten in St. Peter nach 1945 bedingt durch Ausgebombte und Flüchtlinge ausgesprochen angespannt, so dass uns ein Raum in einer Baracke des Flüchtlingslagers zugewiesen wurde. Es war ein „Zimmer“ in der Baracke Hamburg, das für vier Personen recht übersichtlich war. Eine Intervention meiner resoluten Mutter hatte Erfolg und wir zogen im Oktober 1950 in die Baracke Bremen, die parallel zum Seedeich lag und verfügten nun über zwei Räume. Wie jeder Barackenbewohner hatten auch wir einen kleinen Garten, der unverzüglich bestellt wurde. Dazu kamen Karnickelställe und Platz für eine kleine Schaukel war auch noch vorhanden. Die Ernte der Gartenfrüchte war aber konstant mäßig, da sich der sandige Dünenboden wenig für den Gemüseanbau eignete. Da die Gärten zur Seeseite lagen, brauchten wir nur das Gartentor öffnen und schon standen wir am Fuße des Deiches. Das mag im „Normalfall“ amüsant sein, aber bei entsprechenden Sturm- oder gar Springfluten stand das Seewasser auf der Seeseite zumeist am Deichfuß oder höher – insbesondere für ängstliche Naturen wenig erfreulich. Während die Erwachsenen damit zurechtkommen mussten, dass es für die Baracken i. d. R. weder einen Wasseranschluss noch eine Kanalisation gab (ein Toilettenhäuschen mit Plumpsklo stand neben einem Waschhaus), war die Situation für uns Kinder, was diesen Umstand anging, unproblematisch. Dafür gab es Spielkameraden in Massen und Deich und Dünen sorgten für ideale Spielplätze. Nur einmal in der Woche sah man Autos von unterschiedlichen Händlern und der Lagerarzt Drenckhahn fuhr ein Motorrad. Manchmal wurde vergessen, dass es eine ehemalige Militäranlage war – nur die in den Dünen umherliegende manchmal noch „scharfe“ Munition erinnerte daran. Die Soldaten hatten kurz vor „Toresschluss“ ihre Waffen in den Löschteich geschmissen, der zwischen der Küchenbaracke plus Kantine und der großen Garage von Einsmann lag. Die älteren Kinder fischten mit Akribie in dem Teich und einmal angelten sie eine Walther PPK-Pistole heraus (wir waren „Fachleute“), die allerdings von den Erwachsenen schnell konfisziert wurde. In der großen Küchenbaracke, die auch über einen Saal verfügte, fanden die „Lagerfeste“ statt. Im vorderen Teil war die Kantine, die vom Lagerleiter Karl Schulz betrieben wurde. Mein Bruder hatte noch das zweifelhafte Vergnügen, in die Lagerschule, die hinter der Baracke des Lagerleiters und des Arztraumes lag, eingeschult zu werden. Von all diesen Dingen möchte ich erzählen und werde auch nicht die Geschichte vergessen, als mich der Polizist Mausolf von einem der zwei Flaktürme rettete, die ihrer Funktion beraubt in der Mitte des Lagers standen. Merkwürdigerweise habe ich all diese Dinge im Gedächtnis behalten und könnte mir – wenn ich die Augen schlösse – sowohl das Lager als auch viele Bewohnerinnen und Bewohner vorstellen. Es hat wohl doch einen starken Eindruck auf mich gemacht, das Lager St. Peter-Böhl – darum verzeihen Sie mir meine – möglicherweise – sentimentale Reminiszenz.
Zum anderen …
Hätten Sie sich vorstellen können, dass wir im Jahre 2022 in Europa noch einmal einen Krieg haben würden?
Am 24. Februar 2022 begann Russland einen großangelegten Überfall auf die Ukraine. Die vom russischen Präsidenten Wladimir Putin befohlene Invasion des gesamten Staatsgebiets der Ukraine eskalierte den seit 2014 schwelenden Russisch-Ukrainischen Krieg.
„Das gemeinsame Haus Europa sichert den Frieden“, so rühmt die Bundesregierung die Errungenschaften, die mit dem Friedensprojekt Europa einhergehen. Aber: Unser Nachbarland an der östlichen Außengrenze der EU, die Ukraine, lebt noch nicht unter diesem Dach der Union. Mit Ausbruch des Krieges in der Ukraine ist eine Zeitenwende angebrochen, für ganz Europa, wie Bundeskanzler Olaf Scholz in einer Rede formulierte: ein „schwarzer Tag für Europa“. Russlands Präsident Putin hat eine militärische Großoffensive auf die Ukraine gestartet und damit einen neuerlichen Angriffskrieg in Europa ausgelöst. „Wir haben jetzt einen Krieg in Europa in einer Größenordnung, wie wir ihn nur aus der Geschichte kennen“, sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg. „Das ist ein schwerer Moment für die Sicherheit in Europa.“
Was aber, so werden Sie fragen, hat das mit unserem Thema zu tun? Heute wie damals wird eine Flüchtlingswelle ausgelöst. Menschen müssen ihre Heimat verlassen, weil ein Aggressor seine Machtfantasien auslebt.
Es klingt zwar wie eine Plattitüde, aber es ist wohl doch so, dass:
Jetzt wird es leider „etwas technisch“ …
Die Geschichte des Lagers St. Peter-Böhl beginnt nicht mit den Flüchtlingen, sondern mit der Wehrmacht des Großdeutschen Reiches des Herrn Hitler.
Eben dieser erteilte am 28. August 1944 den Befehl, die deutsche Nordseeküste von der niederländischen Grenze bis nach Dänemark zu befestigen. Für den sogenannten Friesenwall entstanden Panzergräben von fünf Metern Breite und vier Metern Tiefe sowie zum Teil verbunkerte Stellungen. Der Name der Befestigung sollte sowohl Assoziationen an den als „unbezwingbar“ propagierten Westwall wecken als auch auf nationalsozialistische Mythen der besonders „naturwüchsigen“ und kampfstarken Friesen hinweisen.
Für den Bau wurden 16.000 Kriegsgefangene herangezogen sowie 6.000 Häftlinge, die aus dem KZ Neuengamme in neu errichtete Außenlager der KZ Engerhafe (2.000 Gefangene) in Ostfriesland, Meppen-Versen und Dalum im Emsland sowie Schwesing und Ladelund (insgesamt 4.000 Gefangene) in Nordfriesland verfrachtet wurden. Die Häftlinge stammten aus ganz Europa und wurden aus verschiedensten Gründen ins KZ Neuengamme eingeliefert. Über die Hälfte der Zwangsarbeiter waren Niederländer; weitere große Gruppen stammten aus Frankreich, Dänemark und Polen. Dazu kam ein Aufgebot aus Volksdeutschen: Hitlerjungen, älteren Männern, Angehörigen der Wehrmacht und der Organisation Todt. Teilweise verfrachtete die deutsche Führung ganze Schulklassen an die Küste, um die Arbeiten zu leisten.
Die Häftlinge arbeiteten sieben Tage die Woche je zwölf Stunden. Im Dauerregen des Herbsts 1944 mussten sie mit primitivem Gerät den schweren und nassen Kleiboden bewegen. Im KZ-Außenlager Husum-Schwesing starben von September bis Dezember 300 bis 500 Menschen, im Lager Ladelund vom 1. November bis zum 16. Dezember weitere 300.
Der Friesenwall sollte aus Schützengräben und Unterständen direkt am Seedeich bestehen und durch zwei Panzergräben weiter im Binnenland sowie durch sogenannte Riegelstellungen parallel zur deutsch-dänischen Grenze ergänzt werden.
Die nur halbherzig geplanten und durchgeführten Arbeiten gerieten bald in den Sog des sich abzeichnenden unaufhaltbaren Zusammenbruchs und wurden teilweise bereits Ende 1944, spätestens aber im Februar 1945 aufgegeben. Der Friesenwall wurde nur zwischen Husum und Bredstedt mehr oder weniger fertiggestellt und blieb im Norden Nordfrieslands ein Flickwerk. Insgesamt errichteten die Arbeiter an der nordfriesischen Küste 237 Kilometer Panzergräben, 250 Kilometer Stellungsgräben und 4.633 Ringstände.
Für einen gesonderten „Befestigungsring“ innerhalb des Friesenwalls um Hamburg wurde das Lager Wedel eingerichtet. Die Anlage war militärisch sinnlos und wurde nie benötigt. Zum größten Teil wurde sie nach Kriegsende zugeschüttet. Einige Bunkerruinen und Panzersperren des Friesenwalls sind an der Küste noch heute erhalten.
St. Peter bekam aufgrund seiner exponierten Lage weitere besondere militärische Anlagen: Es wurden seitens der Luftwaffe sogenannte...