Cesco | Die neunte Sonne | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 384 Seiten

Cesco Die neunte Sonne


1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-95890-011-0
Verlag: Europa Verlage
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

ISBN: 978-3-95890-011-0
Verlag: Europa Verlage
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Zwischen Würde und Gewalt – eine deutsche Geschichte
"Mir kommt es hoch. Es ist schlimm, die unverdaute Vergangenheit nicht erbrechen zu können. Heute werde ich den Gedanken nicht los, dass wir alle durch die Hölle müssen, um uns selbst zu erkennen."
Alexander von Gersdorff, der Protagonist im bildgewaltigen neuen Roman der Schweizer Bestsellerautorin Federica de Cesco, findet erst in Japan einen Weg, sich seiner Schuld und den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges zu stellen. Meisterhaft und berührend schildert das Buch die Kraft der Musik und den nie endenden Wunsch des Menschen nach Freiheit.
1914. Der Student Alexander von Gersdorff meldet sich bei Kriegsausbruch freiwillig – aufbegehrend, voller Wut ergreift er die Flucht aus seinem aristokratischen Elternhaus. Die Hartherzigkeit und verlogenen Konventionen seiner Familie hatten Alexanders erste große Liebe brutal zerstört. Das Schicksal will es, dass er mit seinem Regiment ins chinesische Tsingtau geschickt wird, wo die jungen Soldaten ohnmächtig den Irrsinn des Krieges, das Töten und die Gewalt erleben müssen. Alexander bringt das sinnlose Sterben seiner besten Freunde bald an den Rand des Wahnsinns.
Erst die Begegnung mit Toyohisa Matsue, dem Nachkommen eines herrschaftlichen Samurai-Clans, in dem japanischen Lager Bando, das bekannt war wegen der dort gepflegten humanen und liberalen Gefangenenbehandlung, und die Aufführung von Beethovens Neunter Sinfonie hinter Stacheldraht geben seinem Leben eine neue Wendung.

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1. KAPITEL
DER HIRSCHKÄFER
Seitdem ich krank bin, kommen alte Erinnerungen zu mir. Bilder bewegen sich an meinen Augen vorbei, und ich bewege mich mit ihnen, von einem Punkt zum anderen. Manche dieser Bilder sind ziemlich grell, lichtgetränkt. Ich weiß nicht, ob es Bilder sind, die es gibt oder jemals gegeben hat. Ich habe so verrückte Träume. Seit einigen Tagen liege ich da ohne Schmerzmittel, ohne Schlaftabletten, ohne die Furcht, an meinem eigenen Atem zu ersticken. Es riecht nach sauberen Reisstrohmatten und nach Kampfer. Gerüche, die ich mag. Zunächst habe ich die Traumbilder ohne Interesse betrachtet, nur um die Zeit totzuschlagen. Womöglich fantasierte ich ja. Aber die Bilder wandern an meinen Augen vorbei und ziehen mich mit sich, ein unwiderstehlicher Sog. Sie flimmern nicht und verschwinden auch nicht. Ich sehe sie hinter meinen Pupillen bei Licht und bei Dunkelheit. Ich denke an ganz gleich was, ihre Umrisse sind immer klar. Sie sind wie ein Fenster zu einer anderen Dimension. Es geht nicht, denke ich, dass hinter diesem Fenster etwas ist, das ich nicht sehen kann. Das macht mich reizbar. Ich fühle mich zunehmend unbehaglich, verstricke mich in Phasen krampfhafter Unruhe. Bis ich auf einmal ganz still liege. Etwas ist da. Ich würge Schleim herunter, spüre in mir eine Hebung und Senkung. Unvermittelt explodiert die Luft um mich herum. Alle Geräusche dieser Welt verschwinden. Aus dem Nirgendwo schwebt – wie eine Leuchtspur – ein Bild dicht vor meinen Augen empor und öffnet sich. Ich bin sofort innen drin. Ich bin neun Jahre alt. Ich hänge mit den Knien kopfüber an einem Ast des höchsten Baumes im Garten und schaukele in zehn Metern Höhe. Meine Mutter steht unten und ruft, ich soll sofort herunterkommen. Inge, die junge Kinderfrau, steht neben ihr, knetet die Hände und jammert: »Ach lieber Jesus, heilige Maria! Wenn ihm nur nichts passiert …« Meine Schwester Amanda tobt und schreit wie am Spieß. Sie will auch auf den Baum, und Inge hält sie fest. Ich sehe das alles von oben, ich bin glücklich, völlig in meiner Welt, fühle mich leicht wie eine Seifenblase und zugleich voller Kraft, der Himmel schwankt mit mir hin und her. Ich gebe immer mehr Schwung, der Himmel schaukelt stärker, bis der Ast den Druck nicht mehr aushält und entzweikracht. Meine Mutter schreit, ich fliege an Zweigen, an grünen Blättern vorbei. Ich lande mit dumpfem Aufprall. In den wenigen Sekunden, da alle wie gelähmt sind, höre ich Blätter rascheln. Ich spucke einen Brocken Erde aus, und dicht vor meinem Gesicht kriecht ein Hirschkäfer hervor. Ein paar Atemzüge lang starren wir uns an – der Käfer und ich. Er bewegt die Fühler, hebt den Kopf, und ich sehe unter den Hörnern so etwas wie ein Gesicht. Sein Anblick weckt eine Assoziation in mir, die ich nicht begreife, nicht begreifen kann, weil sie noch unendlich weit von mir entfernt ist. Schon läuft Mutter auf mich zu, zerrt mich hoch, betastet mich. »Um Gottes willen, Alexander, hast du dir wehgetan? Hast du dir ein Bein gebrochen? O Himmel, mehr Glück als Verstand!« Ich beachte sie kaum. Mein Kopf ist gedankenverloren zur Seite geneigt. Ich suche den Hirschkäfer. Irgendwo muss er sein. Doch ich sehe ihn nicht mehr. Er hat sich unter den Blättern verkrochen. Das war der Anfang. Ich trug diesen Anfang in mir, unzugänglich, unerkannt: eine Erinnerung an die Zukunft, wenn so etwas möglich ist. Ich befand mich in einer Vorwelt, in der alles geschehen konnte, nur nichts Gutes. Die kommende Zeit bewegte sich auf mich zu, mit ihren kreisenden Sternen. Aber woher sollte ich das wissen? Und jetzt liege ich auf meinem Futon, der hierzulande üblichen Bettmatratze, und bin wütend auf mich selbst. Erster Fehler: dich zu erinnern. Lass das gefälligst, Alexander! Willst du unbedingt wissen, wie verflucht noch mal alt du bist? Ja, und wie alt bist du, sag es doch? Bald hundertjährig? Das glaubst du wohl selbst nicht! Dass Schlimmste dabei ist, dass andere annehmen, du hättest etwas dabei gelernt. Man sagt, im Alter käme die Weisheit. Was heißt das schon? Dass du noch nicht völlig gaga bist? Zweifellos, sonst hättest du nichts Rationales mehr im Kopf, nur Irrationales. Dann wärest du den ganzen Ballast los, diese Schlacken eines hundertjährigen Lebens. Aber solange du dich erinnerst, kann nichts weggewischt oder ausrangiert werden, runter in den Keller der Vergangenheit. Kein Hausputz im Kopf, Alexander. Für wie lange Zeit noch? Denn irgendwann wird es aufhören. Irgendwann wird es eine Zäsur geben, eine klare Trennung zwischen damals und heute. Bis dahin bin ich wie ein Lachs, der auf dem Weg zu seinem Quellgebiet den Fluss aufsteigt. Ich spüre, dass ich mich vorwärtsbewege, heimlich und fast verstohlen, in einer Art verzweifelter Dringlichkeit gegen den Strom ankämpfe. Und wozu, bitte schön? Ich finde keine Antwort, und das deprimiert mich. Deprimiert! Ich habe mir noch nie überlegt, was für ein hochtrabendes Wort das ist! Zudem hat ein alter Mann nicht deprimiert zu sein. Auch nicht, wenn er sich mit krummem Rücken durch die Straßen schleppt. Ein alter Mann soll seine alberne Erscheinung in Kauf nehmen, ruhig werden und akzeptieren, dass der Tod kein Skandal ist, sondern Biologie. Das geht mir sehr gegen den Strich. Und nach der Kremation, nach dem Herunterkühlen, wer wird mit elegantem Stäbchengriff meinen zweiten Wirbelknochen aus der Asche fischen um ihn – wie es sich gehört – in die Urne zu legen? Da ist keiner mehr, der das für mich tun könnte. Kazuko Sato vielleicht? Ja, Kazuko würde mir diesen Wunsch nicht abschlagen. Wir sind Nachbarn seit über fünfzehn Jahren, nur ein schmaler Gartenweg trennt ihr Haus von dem meinen. Trotzdem verschiebe ich das peinliche Gespräch von einem Tag auf den anderen. Denn obwohl der Umlauf meiner Lebensuhr fast vollendet ist (nehmen wir mal an, der Zeiger stünde auf eine Minute vor zwölf), bilde ich mir ein, ich wäre noch fähig, diesen Zeiger zurückzudrehen. Und ich schlafe ein mit dem Gedanken, morgen bin ich wieder jung und mache dieses und jenes. Und wenn mich um sechs die vertrauten Schreie der Raben wecken, höre ich zugleich das Knarren in meiner Brust. Ich spucke zähen, grünen Schleim und komme ohne Hilfe kaum auf die Beine. Es geht nur, wenn ich krieche und mich an irgendeinem Möbel hochziehe. Wie verwirrend, frustrierend und aufreibend das ist! Mein gegenwärtiger – und offenbar endgültiger – Zustand gibt mir nur ein minimales Maß an Freiheit. Ich kann nachdenken oder schlafen. Das sind meine Möglichkeiten, nicht mehr und nicht weniger. Immerhin kann ich Yae noch sehen. Das ist schon was. Nein, das ist – wenn ich’s recht bedenke – das Wesentliche. In einem geschnitzten Rahmen hängt die Fotografie an der Wand gegenüber, damit ich sie immer im Auge behalten kann. Yae trägt einen Kimono mit einem Muster aus Libellen und Sommergräsern. Trete ich näher an das Bild heran, sehe ich ihr seidenweiches sinnliches Lächeln, das – wenn es die Umstände verlangten – wie ein Messerschnitt aufglänzen konnte. Yae war klein von Gestalt, doch in ihrer Haltung lag etwas, das sie größer erscheinen ließ. Ihr Körper war athletisch und geschmeidig wie der einer Tänzerin. Ihr Haar war lang und dick und tiefschwarz, so schwarz, dass es purpurn schimmerte. Die hohe Stirn, die länglichen Wangen gaben ihrem Antlitz die Form einer Mandel. Es war kein sanftes Gesicht; ihre schmale Nase war edel geformt, sie hatte ein eckiges, fast maskulines Kinn und hoch angesetzte, kräftig ausgeprägte Wangenknochen. Ihre Zähne waren stark und weiß, die unteren Schneidezähne standen leicht vor. Ihre Augen sahen einen nicht gerade an, sondern immer ein wenig von der Seite. Ihr Blick war scharf und abschätzend und hochmütig. Es waren Augen wie aus einer alten Legende, wie Penthesileas Augen, vielleicht. Yae. Man kann ihren Namen nicht übersetzen. Japanische Wörter drücken gleichzeitig die Bilder aus, die der Klang solcher Wörter erweckt. Yaes Name bedeutet »Achtfache Kirschblüte«, aber damit ist die volle Bedeutung noch nicht erfasst. Er bedeutet: der herrliche Anblick, wenn die meisten Bäume noch kahl sind und die Kirschblüten wie ein rosafarbenes Gewölk Berghänge und Flusstäler bedecken. Nun, man kann einfach in einer anderen Sprache nicht sagen, was der Name bedeutet. Jedenfalls hieß sie Yae. Ich habe immer gedacht, nichts kann uns trennen. Jetzt ist sie tot, und ein Teil von mir hat sich losgerissen. Ein Teil von mir wurde im Feuer vernichtet. Seitdem habe ich das Gefühl, es fehle etwas in meinem Körper. Irgendetwas ist nicht mehr da, wo es hingehört. Deswegen bin ich zornig. Was übrigens damals den Baum betraf (es war eine Buche) – mein Vater ließ ihn fällen. Eine seiner Ruck-zuck-Methoden. Aber zuerst verpasste er mir eine Ohrfeige, dass mir Hören und Sehen verging. »Eines Tages«, herrschte er mich an, »wirst du dir deinen dummen Schädel brechen!« Ganz unrecht hatte er nicht: Ich war zweifellos intelligent, aber mir schien es an Verstand zu fehlen. Tatsache war, dass ich keinen Sinn für Gefahr hatte. Aber ich kam fast immer ohne größeren Schaden davon. Schrammen, blaue Flecke, eine Gehirnerschütterung – schlimmer traf es mich nie. »Du hast einen guten Schutzengel«, pflegte Inge zu sagen. Engel, das waren für mich diese nackten, rosigen Wesen, die Speckfalten und goldene Flügel hatten und die sich in unserer Barockkirche unter der Decke tummelten. »Putten« nannte man diese gepuderten kleinen Ferkel. Die waren nichts für mich; die waren für Franziska – Frenzel genannt –, die Heiligenbilder sammelte und schon mit sieben Jahren den Rosenkranz auswendig konnte. Ave-Maria, eine...


Federica De Cesco wurde als Tochter eines italienischen Vaters und einer deutschen Mutter im norditalienischen Pordenone geboren und studierte Kunstgeschichte und Psychologie in Lüttich. Mit 15 schrieb sie ihr erstes Buch, den Jugendbestseller "Der rote Seidenschal", dem über 50 Kinder- und Jugendbücher folgten, bis ihr mit "Silbermuschel" ein aufsehenerregendes Debüt in der Belletristik gelang. Weitere große und erfolgreiche Romane folgten. Heute lebt sie mit ihrem Mann, dem japanischen Fotografen Kazuyuki Kitamura, in der Schweiz.



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