E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Chan Sehnsucht nach Mill River
19001. Auflage 2019
ISBN: 978-3-96048-228-4
Verlag: Econ
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-96048-228-4
Verlag: Econ
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Darcie Chan ist Anfang vierzig, Anwältin und Umweltschutzexpertin. Mit elf Jahren begann sie zu schreiben, gewann einen Schreibwettbewerb und träumte seitdem davon, eine erfolgreiche Schriftstellerin zu werden. Die E-Book-Ausgabe von Sehnsucht nach Mill River machte sie über Nacht in den USA berühmt. Schon in den ersten Wochen verkauften sich mehr als 650.000 Exemplare und sie bekam mehr als 1.000 begeisterte Amazon-Rezensionen. Darcie Chan lebt im US-Staat New York.
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1
Mary McAllister schaute aus dem Erkerfenster ihres Schlafzimmers und wusste, dass diese Nacht ihre letzte sein würde.
Aus dem Ort drang diffuses Licht durch die Februardunkelheit herauf. Dicke Schneeflocken trieben am Fenster vorbei. Nur der Mill River, dem der kleine Ort in Vermont seinen Namen verdankte, war noch nicht mit Schnee bedeckt. Schwarz und eisfrei schlängelte er sich am Rande des schlafenden Ortes entlang.
Mit der linken Hand streichelte Mary den großen Siamkater, der neben ihr auf dem verstellbaren Krankenbett lag. Mit der Rechten strich sie sich ein paar feine weiße Haarsträhnen hinter das Ohr. Marys Augen, das eine klar und blau, das andere grau und trüb, waren auf den Schneesturm vor dem Fenster gerichtet.
Sie überlegte, was man wohl über sie denken würde, wenn man entdeckte, was sie getan hatte.
Das Schlafzimmer war dunkel, doch die wenigen Lichter im Ort reichten aus, um die Umrisse ihres Gesichts auf der Fensterscheibe zu erkennen. Mary betrachtete das Spiegelbild mit ihrem guten Auge, mit dem sie noch sehen konnte. Eine bleiche Totenmaske starrte ihr aus der Dunkelheit entgegen.
Sie döste ein, wurde jedoch alle paar Minuten von den entsetzlichen Schmerzen im Unterleib geweckt. Schließlich griff sie mit zitternder Hand nach den Tabletten und dem Wasserglas neben ihrem Bett.
Mary schüttete jeweils ein paar Tabletten auf ihre Hand und spülte sie mit Wasser hinunter, bis sie sie alle geschluckt hatte. Sie würde diese Welt in friedvoller Einsamkeit verlassen, bevor die Schmerzen zu stark wurden und ihre Geisteskräfte so geschwächt waren, dass sie nicht mehr selbstbestimmt aus dem Leben scheiden konnte.
Sie dachte an Michael. Der Priester war gegangen, wie er versprochen hatte, aber sie fragte sich, ob er dort unten im Pfarrhaus immer noch wach war. Er würde sie morgen finden. Das würde nicht leicht für ihn sein, doch er war auf das Unvermeidliche vorbereitet. Sie beide waren es.
Trotzdem fürchtete sie sich vor dem, was der Tod bringen mochte.
Würde sie ihren Ehemann wiedersehen? Im schwach erleuchteten Schlafzimmer blieb Marys Blick an der kleinen Statue hängen, die auf der Kommode stand. Ein Pferd, kunstvoll aus schwarzem Marmor gemeißelt. Sie dachte an Patrick, an ihre erste Begegnung auf der Farm ihres Vaters und an die entsetzliche Zeit, die folgte.
Mary schauderte bei dem Gedanken und beschwor stattdessen Erinnerungen an ihren Vater herauf. Sie sah ihn vor sich, wie er auf dem Reitplatz stand, den Hut aus der Stirn geschoben, und den jungen Pferden sanft Manieren beibrachte. Sein dröhnendes Lachen klang ihr noch immer in den Ohren.
Obwohl sie seit mehr als sechzig Jahren Witwe war, hatte sie sogar jetzt noch Angst vor Patrick. Sie sehnte sich jedoch danach, ihren Vater wiederzusehen. Vielleicht war es bald so weit.
Mary tätschelte Shams seidigen Kopf, und der Kater rollte maunzend im Schlaf die Pfoten ein. Michael hatte versprochen, ein gutes Zuhause für Sham zu finden. Sie zweifelte nicht daran, dass es ihm gelingen würde, und das tröstete sie. Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie ihrem treuen Kater ein zärtliches Lebewohl zuflüsterte. Lautlos wünschte sie ihm das glücklichste aller Leben, wie viele ihm auch bleiben mochten, und wartete darauf, vom endgültigen, schweren Schlaf eingehüllt zu werden.
In Mill River waren auch noch andere wach. Die Polizisten Kyle Hansen und Leroy Underwood fuhren seit über einer Stunde Streife. Der alte Jeep Cherokee des Polizeireviers kämpfte sich auf den Landstraßen durch den frisch gefallenen Schnee. Sie hatten nach liegengebliebenen Autofahrern Ausschau gehalten, aber die Straßen waren wie ausgestorben. Die meisten Menschen waren vernünftig genug, bei dem Wetter zu Hause zu bleiben. Trotz des Schneefalls war der Abend, wie die meisten Abende in Mill River, ereignislos verlaufen.
Leroy langweilte sich. Unruhig rutschte er auf dem Beifahrersitz herum und spähte aus dem Fenster. Sein Haar war sandbraun und glatt – und etwas zu lang für einen Mann in Uniform, wie Kyle fand. Leroys Mund stand immer ein wenig offen, was ihm einen erstaunten Ausdruck verlieh, und er hatte trotz seiner kräftigen Schultern eine gebeugte Körperhaltung. Zum Teufel, dachte Kyle, sollte jemand das Pech haben, Leroy aus dem Fenster des Jeeps glotzen zu sehen, könnte er ihn glatt für einen Orang-Utan halten.
Leroy wandte sich vom Fenster ab und hielt eine fast leere Schachtel mit Schokoladendonuts hoch.
»Was dagegen, wenn ich den Letzten esse?«
»Nee«, erwiderte Kyle. »Die sind sowieso nicht mehr frisch.«
Das interessierte Leroy nicht. »Meinst du, wir sollten noch mal durch die Stadt fahren?«, fragte er mit vollem Mund.
Kyle warf Leroy einen Blick zu und zuckte mit den Schultern.
Leroy stopfte sich das letzte Stück Donut in den Mund und mühte sich, die Thermosflasche zu öffnen. Während sie den Hügel hinunter zum Ort fuhren, versuchte Leroy, den restlichen Kaffee in den Becher zu gießen, doch das meiste schwappte auf seinen Schoß.
»Ach, Scheiße. Pass doch besser auf bei den Schlaglöchern, ja?«, maulte er.
Kyle verdrehte die Augen. Was Leroy an Intelligenz fehlte, machte er durch einen gesunden Appetit wett.
Ihr Weg führte sie an der Auffahrt zur McAllister-Villa vorbei. Durch das Schneegestöber konnte Kyle gerade noch das schwache Schimmern des weißen Marmorhauses auf der Kuppe des Hügels ausmachen.
»Hast du sie je gesehen?«, fragte Leroy, der Kyles Blick gefolgt war.
»Wen?«
»Die Witwe McAllister.« Leroy flüsterte fast, als ginge es um einen bösen Geist.
»Nein.«
»Ich schon«, sagte Leroy. »Ein Mal. Als ich noch in der Highschool war, vor der Bäckerei. Sie war völlig verschrumpelt und krumm, hatte eine Klappe über dem Auge, wie ein Pirat.«
Kyle schaute starr geradeaus und konzentrierte sich auf das Fahren durch den Schneesturm.
»Manche im Ort sind überzeugt, dass sie eine Hexe ist, hab ich gehört«, fuhr Leroy fort. »Mich gruselt’s, wenn ich daran denke, dass sie da oben sitzt und uns alle beobachtet.« Leroy warf Kyle ein provozierendes Grinsen zu. »Vielleicht sollte jemand dafür sorgen, dass sie über die Planke geht.«
Kyle biss die Zähne zusammen und unterdrückte den Impuls, ihm zu antworten. Leroy wollte ihn reizen, das war ihm klar, doch diese Genugtuung würde er ihm nicht verschaffen.
Leroys Grobheiten hinzunehmen fiel ihm leichter, wenn er an die schwere Jugend des jungen Polizisten dachte. Laut dem Polizeichef, der fast jeden im Ort kannte, war Leroy das Produkt eines abwesenden Vaters und einer alkoholkranken Mutter. Er hatte eine ältere Schwester, die in Rutland lebte. Diese Schwester war anscheinend die Ausnahme der Underwood-Familie, da sie einen Collegeabschluss hatte und als Buchhalterin bei der Stadtverwaltung arbeitete.
Leroy lief so mit. Er hatte die Highschool beinahe abgebrochen, dann aber doch irgendwie seinen Abschluss geschafft und sich durch die Ausbildung an der Polizeiakademie gemogelt. Sein Ego war riesig, und Kyle hatte es bisher noch nicht erlebt, dass der junge Mann auch nur zu irgendwem nett gewesen wäre. Wieso man Leroy eingestellt hatte, war Kyle ein Rätsel. Vielleicht hatte der Ort dringend einen weiteren Polizisten gebraucht, doch nach Kyles Einschätzung war Leroy kaum für diese Arbeit geeignet.
Der alte Jeep pflügte sich durch den Schnee, hinein in den Ort. Kleine, ältere Häuser und Wohnwagen säumten die Straßen an diesem Ende von Mill River. Die meisten Fenster waren dunkel. Ein Wohnwagen jedoch war hell erleuchtet. Im Gegensatz zu den meisten anderen war er glänzend und neu. Aus dem Schnee im Vorgarten ragten verschiedene Keramikfiguren – zwei Rehe, mehrere Kaninchen, einige Zwerge – sowie ein großes Vogelbad.
»Schätze, Crazy Daisy ist immer noch wach«, meinte Leroy. »Wahrscheinlich braut sie gerade wieder irgendetwas Geheimnisvolles.«
In dem Moment öffnete sich die Tür des Wohnwagens, und eine pummelige Frau hüpfte hinaus in den Vorgarten. Kyle bremste den Jeep ab. Daisy drehte sich im Kreis, das Gesicht erhoben, die Zunge herausgestreckt.
Leroy krümmte sich vor Lachen. »Jetzt guck dir diese fette Kuh an!«, brüllte er, ohne auf Kyles missbilligendes Stirnrunzeln zu achten. »Wenn die so weitermacht, stolpert sie noch über eins von den Kaninchen und beißt sich die Zunge ab!«
»Halt die Klappe, Leroy«, sagte Kyle, obwohl ihm genau derselbe Gedanke durch den Kopf geschossen war. Er kurbelte das Seitenfenster herunter.
»Hallo, Miss Delaine, es ist schon spät, fast ein Uhr nachts, und Sie sollten bei diesem Schneesturm nicht draußen sein«, rief er ihr zu.
Erhitzt und atemlos blieb Daisy stehen und schaute die beiden Polizisten an. Ein dunkles, portweinfarbenes Muttermal zog sich vom Kinn bis auf die Wange, graue Locken fielen ihr über die Augen. Sie schwankte unsicher und schob sich das Haar aus dem Gesicht. »Sie sollten mal den Schnee probieren! Er schmeckt herrlich. Ich habe den ganzen Abend an einem Schneezauber gearbeitet«, rief sie. »Schnee ist ideal für mein Gebrautes. Aber ich bin schrecklich in Eile. Ich braue heute Nacht noch etwas Neues!« Lächelnd hob sie eine Handvoll Schnee auf, warf ihn in die Luft, dann winkte sie den beiden Polizisten zu und verschwand wieder in ihrem Wohnwagen.
Kyle saß schweigend da und schüttelte den Kopf, aber Leroy brüllte vor Lachen. Als er Kyles tadelnden Blick bemerkte, versuchte er vergeblich, sich zusammenzureißen.
»Ach, nun komm schon, Kyle. Du...




