Charles / Bürgi | Schwarze Frau, weisser Prinz | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Charles / Bürgi Schwarze Frau, weisser Prinz


1. Auflage 1997
ISBN: 978-3-03855-228-4
Verlag: Limmat Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-03855-228-4
Verlag: Limmat Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Als kleines Mädchen auf der Karibikinsel St. Lucia träumt sie bereits den hochfliegenden Traum von der Liebe. An ihm hält sie naiv und beharrlich fest, den pragmatischen Haltungen und den Enttäuschungen anderer Frauen zum Trotz. Nicht einmal ihre Erfahrungen als schwarze Jugendliche ohne Zukunft in London und als Go-go-Tänzerin in der Schweiz vermögen die Hoffnung zu zerstören, daß irgendwann der ihr vom Schicksal bestimmte weiße Ritter/Mann ihren Weg kreuzen wird. In der Ehe mit ihrem Traummann, dem Schweizer Alex, durchlebt sie einen schwierigen und schmerzhaften Prozeß, in dem sie ihr Männerbild in Frage stellen muss. Der Weg führt nach Afrika - auf der Suche nach der Liebe zu ihr selbst, zur schwarzen Frau.

Paula Charles, 1956 geboren in London, aufgewachsen in der Karibik auf der Insel St. Lucia und in London, Sängerin in einer Soulband, arbeitete als Gogo-Girl in der Schweiz und setzt sich für die Sache der Schwarzen in Zürich ein.

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Karibisches Mädchen
Ich sass vor dem kleinen Schindelhaus, inmitten halbhoher, von der heissen Sonne ausgedörrter Rosen. Der Wind blies sanft und warm durch den Cotton-Tree und die Kokospalmen, wiegte sie hin und her. Dies gab mir ein wohliges Gefühl der Verbundenheit. Die Sonne auf dem Nacken, fühlte ich mich eins mit der Natur, ich war bei mir. Aus Granmas Radio klang Musik. Es stand in einer grünen Lederhülle auf ihrem Schrank, der aus England und darum etwas Besonderes war. Daneben ein weisses Häkeltuch, das ihre selten benutzte Brille enthielt, und ein in England aufgenommenes Foto meines Vaters. Er trug einen weissen Anzug, blickte mich direkt an – nie hätte ich ihm so in die Augen sehen können. Und aus dem Radio erklang eine wunderschöne Melodie, die ich bis heute nicht vergessen habe. Es war eine samtene, männliche Stimme. Sie sang: «Paula, I give you my heart. Paula, I will wait for you. Good luck to Paul and Paula.» Ich war erst etwa neun Jahre alt, doch ich wusste bereits: Der Sänger sang diese Worte für mich. Ich hatte mir immer schon viele Gedanken gemacht, aber dieses Mal spürte ich, dass etwas in meinem Herzen und meiner Seele sich veränderte. Es war etwas Spirituelles, ein sehr gutes, wissendes Gefühl: Diese Worte waren mein Leben; sie galten mir. Mein Gott, dachte ich, woher kannte er meinen Namen? Granma lag in ihrer Schlafkammer, vielleicht schlief sie, vielleicht träumte sie vor sich hin, träumte von früher, als sie ein junges Mädchen gewesen war wie ich. Was war aus ihr geworden, fragte ich mich, wie war ihr Leben? Warum hatte sie nie geheiratet? Oder war sie vielleicht doch verheiratet gewesen? Einmal hatte ich einen Ehering gesehen, der, in ein Taschentuch geknotet, in einer Schublade des Schranks versteckt war. Wer war mein Grossvater? Man erzählte sich, er sei ein Weisser gewesen. Oder war es mein Urgrossvater, über den man im Dorf redete? Ich kannte meine Herkunft nie wirklich, jeder erzählte eine andere Geschichte. Es hiess, mein Grossvater habe eine Plantage gehabt, mit vielen Sklaven und Sklavinnen – ich jedenfalls nenne sie Sklavinnen, weil ich nur von Leid und von Misshandlung der Frauen hörte. Man sagte, Granma sei eine der Frauen gewesen, mit denen er schlief. Sie bedeuteten ihm nichts, sie waren seine Arbeiterinnen und seine Erholung. Aber meine Grossmutter zog seinen blau-grünen Blick auf sich und fühlte sich auserwählt. Sie hatte zwei Kinder, einen Sohn – meinen Vater – und eine Tochter, von der sie uns Enkelkindern nie erzählte. Sie soll an Wahnsinn gestorben sein. Mein Vater starb später am Alkohol. Gran war die zurückhaltendste Frau, die ich je getroffen habe. Du konntest in ihrem Verhalten und in ihrer Nachdenklichkeit Geheimnisse und Schmerz erahnen, aber nie zeigte sie ihre Gefühle. Es gab viele alleinstehende Frauen in ihrem Alter, und ich hätte gerne gewusst, was mit ihren Männern geschehen war. Sie waren alleinerziehende Mütter gewesen und sind dann alte Frauen geworden, die in Grans kleiner, aus Brettern gebauter Küche zusammenkamen, in der nur etwa drei Personen auf der Bank Platz fanden, die gerade breit genug für ihr Hinterteil war. Sie rafften ihre französischen Kleider, schwangen den vorderen Teil unter ihren Hintern, um auf der abgenutzten Bank bequem zu sitzen. Denn es vergingen Stunden, bis sie sich wieder erhoben. Wenn sie ankamen, wurden wir Kinder zum Spielen geschickt. Die Frauen wohnten nicht weit voneinander entfernt, aber sie trafen sich nur alle paar Wochen. Die meisten von ihnen gingen an Stöcken aus Ästen, von denen sie Blätter und Rinde mit einem stumpfen, rostigen Messer entfernt hatten. So spazierten sie über die Hügel, Schweiss an ihrem ergrauten Haaransatz. Sie gaben leise Laute von sich, sangen oder summten vor sich hin. Der Stock hinterliess seine Spuren auf den fussgestampften Wegen – im Dorf gab es keine Autos. Die Alten wurden über alle Massen respektiert, das spürte man. Wir mussten sie als erste grüssen. Egal was wir gerade taten, wir mussten alles liegen lassen und herbeieilen, wenn sie auftauchten. Du musstest ihre Taschen tragen und ihre Hände auf deinen Schultern ruhen lassen, damit sie Atem holen konnten. Das Gehen fiel ihnen schwer, ihre Füsse waren müde und wund, weil sie keine Schuhe hatten oder keine tragen wollten. Trotzdem sahen sie kräftig aus, bei aller Müdigkeit eines Lebens voller Arbeit auf den Plantagen und krummen Rücken vom Baumwollpflücken und Gemüsepflanzen in der heissen Sonne. Ich sah all die Furchen an Granmas Händen und Füssen und die Narben vom Schneiden der Bäume und Büsche. Die Frauen benutzten ihr farbiges Kopftuch, um ihr Gesicht abzuwischen. Sie sprachen von ihren Nöten und von den kleinen Freuden, die sie Tag für Tag erlebten. Ich konnte ihr Lachen hören. Dann wurde es ganz plötzlich Nacht, und sie mussten sich auf den Weg machen zu ihren dunklen Häusern. Ihre Familien begannen sich Sorgen zu machen. Es gab überall schwarze Magie, und die Grossmütter waren zu weit weg, um ihre Rufe zu hören. Doch sie kehrten zurück, müde, aber nicht hungrig. Und nichts war ihnen zugestossen. Ich rückte näher an das englische Radio heran. Ich wollte den Mann sehen. Irgendwie kam es mir so vor, als ob ich ihn kannte. Und das Eigenartigste war: Ich wusste, er war weiss. Alles an ihm war rein. Ich versank in Träume, versuchte ihn mir vorzustellen, und die Musik ging mir durch den Kopf, drang in meinen Geist, und ein Gefühl von Sanftheit überkam mich. Aber ich bin so jung, dachte ich dann. Es ist nicht normal für ein Mädchen, sich wegen der Stimme eines Mannes gut zu fühlen. Ich genoss es, aber gleichzeitig fühlte ich mich schuldig. Ich wollte schnell erwachsen werden und dorthin gehen, wo der Sänger war. Vielleicht würde er mich umarmen und mich in seinen Armen wiegen. Warum habe ich keinen Vater, fragte ich mich, wo ist mein Daddy? Ich geriet in Panik beim Gedanken, dass Granma mein Verhalten bemerken könnte, während sie Pfeife rauchend in ihrer Hängematte ruhte. Ich fühlte mich gut, weil ich glaubte, dass jemand meine Gedanken verstand. Diese Stimme, die aus dem Kasten kam, klang persönlich. Wir waren die einzigen im Dorf, die ein Radio hatten. So kamen alle zu uns, wenn Granma beschloss, sich etwas zu gönnen. Meistens jedoch waren die Batterien leer, und sie konnte sich keine neuen leisten. Wir versuchten beim Drehen der Knöpfe die Wörter zu verstehen, und es war ein grosses Wunder für uns, dass ein Mensch aus einer tragbaren Kiste heraus singen konnte. Es gab jeweils Streit zwischen uns Kindern, richtige Raufereien, weil wir nicht verstanden, wie das Radio funktionierte. Wir hatten auch Mühe mit der Sprache, weil wir die meiste Zeit Patois sprachen. Wir gingen ja in die Dorfschule und erhielten nur das Mindeste an Bildung. Damals war mir nicht wirklich bewusst, dass wir arm waren. Es war soviel Hunger unter uns. Nicht nur nach Nahrung, sondern nach Tagen, an denen wir leben konnten, ohne zu sehen oder zu hören, dass jemand starb, weil keine Medizin zu bekommen war. Das einzige, was wir tun konnten, war beten. Wenn ich Paul doch irgendwann einmal begegnen könnte, dachte ich. Ich wünschte, er würde nie aufhören zu singen und die Geschichte meiner Zukunft endlos wiederholen. Denn Granma würde das Radio vielleicht erst in einem Jahr wieder einschalten. Und dann brauchte sie Stunden, bis sie den Sender fand – falls sie ihn überhaupt fand. Wir durften das Radio nicht anfassen, durften höchstens, wenn wir Glück hatten, eines der wenigen in Ehren gehaltenen Geschenke polieren, die Vater ihr aus London geschickt hatte. Für junge Mädchen in St. Lucia gehörte es sich nicht, Interesse an Jungs zu zeigen oder über sie zu sprechen. Dieses Thema war tabu. Sexuelle Gefühle wurden so sehr geheim gehalten, dass ich mich fragte, wie ich geboren worden war. Männer und Frauen zeigten einander nie in Gegenwart von Familie und Freunden ihre Gefühle. Irgendwie bedeutete dies Mangel an Respekt und eine zu grosse Ungezwungenheit. Dafür sprachen wir viel über die Kirche. Egal, wie du darüber sprachst, es war richtig und gesund. Wir sprachen über den nächsten Sonntag, wer im Chor singen sollte und was wir zur Kirche anziehen würden, zu welcher Frisur. Glaube an Gott und nicht an Sex! Aber wie waren wir entstanden? Merkten die Erwachsenen nicht, dass es dafür immer zwei brauchte? Dass Sex Teil der schwarzen Rasse war, der menschlichen Rasse überhaupt? Nicht ein einziges Mal wurde über dieses Thema gesprochen. Was sie wohl heute von mir denken würden, wenn sie noch am Leben wären und wüssten, wie ich gelebt habe? Sie würden mich mit spiritueller Energie töten. Ich wäre erledigt, eine Schande für ganz St. Lucia. Die Kirche hat viele der menschlichen Empfindungen verdorben, die Gott selber uns gegeben hat. Ich weiss nicht, welches ihre Idee von Gott und ihre Vorstellung von Moral war. Ich war eine eifrige Kirchgängerin, weil ich so erzogen worden war. Und insbesondere, weil wir arm waren, suchten wir nach einem neuen Weg zu einem besseren Leben. Wir hatten genug vom Leiden. Deshalb hiessen wir – wie überall in armen Ländern – die Missionare aus Europa mit dem wenigen, das uns geblieben war, willkommen. Doch durch sie wurden wir erst richtig arm. Sie nahmen unseren Zucker, unsere Baumwolle und unsere Früchte, unser Gold, unsere Diamanten und unsere Metalle und sogar unsere Natur und unsere Kraft. Wir glaubten ihnen dennoch. Als ich ein kleines Mädchen war, so erinnere ich mich, suchten sie uns überall in den Dörfern. Es überraschte uns, dass sie unsere kleinen Dörfer überhaupt gefunden hatten. Meistens kamen sie in ihren besten Sachen, Kleidern und Autos. Viele von ihnen hatten die besten Häuser im besten Teil der Stadt. Aber wir waren zu naiv und hatten nicht...



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