Chaussy | Arthur Eichengrün | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 352 Seiten

Chaussy Arthur Eichengrün

Der Mann, der alles erfinden konnte, nur nicht sich selbst

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

ISBN: 978-3-451-83156-0
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Bei der Recherche über das Dorf Obersalzberg, den Wohnort und zweiten Regierungssitz Hitlers in der Nähe von Berchtesgaden, stößt Ulrich Chaussy auf Arthur Eichengrün. Wer war dieser völlig vergessene jüdische Nachbar Hitlers? In drei Jahrzehnten Arbeit rekonstruiert Chaussy Eichengrüns Biografie und entdeckt einen der bedeutendsten Chemiker und Erfinder der Kaiserzeit und der Weimarer Republik wieder: Eichengrün ist Forscher, Erfinder und Unternehmer in Personalunion. Er synthetisiert Kokain und wir verdanken ihm das Aspirin. Er erfindet den unbrennbaren Kinofilm und revolutioniert mit seinem Cellon-Spannlack den Bau der stoffbespannten Flugzeuge und Zeppeline.Ab 1933 gelten all seine Verdienste nichts mehr.  Er verliert allen Besitz. Plötzlich ist der assimilierte Patriot nur noch eines: Jude. Deportiert ins KZ Theresienstadt muss der große Chemiker erkennen, dass er eines nicht umformen und synthetisieren konnte: Eine Identität, die ihn vor dem Rassenwahn der Nationalsozialisten hätte schützen können.Ulrich Chaussy schreibt Arthur Eichengrün, diesen großen Erfinder und Wissenschaftler, fulminant zurück ins kollektive Gedächtnis.
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Eichengrün – auf der Suche nach einem Unbekannten
Eichengrün und Aspirin. Nur diese beiden Namen brachte ich von der ersten Recherche Ende der 1980er Jahre aus Berchtesgaden mit, um den einstigen jüdischen Nachbarn der alteingesessenen und dann aus Obersalzberg vertriebenen Bauernfamilien auf die Spur zu kommen. Der Große Brockhaus verzeichnete bis zur 20. Auflage 1996 nichts zu Eichengrün, wohl aber zu Aspirin, wenn auch nur einen kurzen Verweis: »Aspirin®[...], Warenzeichen für Arzneimittel mit dem Wirkstoff ?Acetylsalicylsäure«.1 Dieser Eintrag erwies sich, was Arthur Eichengrün anging, als tote Spur: »Acetylsalicylsäure, Acidum acetyl(o)salicylicum, Abkömmling der Salicylsäure; 1859 erstmals synthetisierter und 1899 von H. Dreser eingeführter schmerzstillender, fiebersenkender und entzündungshemmender Arzneistoff«.2 Wohl aber listet das Lexikon im Telegrammstil die medizinische Potenz eines Jahrhundertmedikaments auf: »A. hemmt auch die Zusammenballung von Blutplättchen (Thrombozytenaggregation) und ist z. Z. der bedeutendste Thrombozytenaggregationshemmer. A. wird deshalb außer als Schmerzmittel v. a. auch als Prophylaxe von Thrombosen und Embolien, aber auch zur Prophylaxe gegen das Wiederauftreten eines Herzinfarktes verwendet […].«3 Wie Eichengrün finden? Glücklicherweise bot mir 1990 das rauschende und piepende Telefonmodem an meinem ersten internetfähigen Computer einen hilfreichen Vorgeschmack auf die heutigen Möglichkeiten der Onlinerecherche. Ich gab »Eichengrün« in die Maske der neu eingerichteten bundesweiten Telefonnummernsuche der Deutschen Bundespost ein, und das BTX-System spuckte auf dem Monitor in grüner Schrift auf schwarzem Grund fünf Treffer aus. Mit Glück landete ich gleich mit den ersten zwei Eichengrüns unter selber Adresse in Königswinter am rechten Platz.4 Ja, sagte mir Waltraud Eichengrün, ihr Ehemann Ernst sei ein Enkel von Doktor Arthur Eichengrün. Und ich sei mittlerweile der zweite Interessent, der sich bei ihr nach dem Großvater ihres Mannes erkundige und damit an kaum angeschaute Episoden der Familiengeschichte rühre. Ernst habe um sie bislang einen Bogen gemacht. Geschichte sei, beruflich gesehen, sein Thema – er war zu dieser Zeit Pressesprecher des Bundesarchivs in Koblenz –, aber der privaten, familiären Geschichtserforschung gehe er noch aus dem Wege, in einer Mischung aus beruflicher Belastung und der Ahnung, dass für ihn mit dieser Recherche bedrückende Erinnerungen und Einblicke verbunden sein würden. Waltraud Eichengrün hörte sich an, was ich zur Familie Eichengrün über die einstigen Nachbarn in Obersalzberg in Erfahrung gebracht hatte. Was ich darüber berichte, sei ihr gänzlich unbekannt. Sie und ihr Mann könnten zu diesem spannenden Lebensabschnitt von Arthur Eichengrün allerdings nichts beitragen. So ähnlich sei es ihr und ihrem Mann kürzlich auch mit dem anderen Interessenten ergangen, mit dem Mediziner Michael de Ridder aus Berlin. Er habe nach Dokumenten über den Großvater aus der Familie gefragt und sie erbeten. Er habe ihnen im Gegenzug Informationen aus einem Bereich mitgebracht, in den sie bislang kaum Einblick gehabt hatten, über Arthur Eichengrüns frühe Berufsjahre als pharmazeutischer Chemiker bei den Farbenfabriken, vormals Friedrich Bayer Co. Elberfeld, heute schlicht Bayer. Sie kenne nur wenige Dokumente. Es gebe aber einen gedruckten Lebenslauf, der in vielen fotokopierten Exemplaren im Nachlass des Großvaters aufbewahrt und immer wieder hervorgeholt werde, wenn es im familiären Gespräch um Arthur Eichengrün gehe. Sie werde mir eine Kopie zuschicken. Ein paar Tage nach unserem Gespräch kam sie mit der Post. Ich zog sie samt einem ermutigenden Begleitschreiben von Waltraud Eichengrün aus dem Umschlag und faltete das Blatt mit der Biografie auf, die aus einem Buch kopiert worden war, ein eng gesetzter Lexikonartikel mit einem in den zweispaltigen Text eingefügten Fotoporträt. An der hohen Stirn und dem prüfenden Blick in die Kamera erkannte ich sofort den Mann aus den Familienfotoalben der Obersalzberger Nachbarn wieder. Hier aber posiert nicht ein entspannt lächelnder Privatmann auf der Terrasse des Obersalzberger Hauses oder vor dem Kamin einer Stadtvilla, sondern eine Zelebrität. Eichengrün trägt zum weißen Hemd mit hohem Kragen eine schmale Krawatte. Der Schnauzbart ist jetzt nicht mehr dandyhaft gezwirbelt, sondern akkurat gestutzt, und der über die Jahre lichter gewordene Haaransatz lässt die hohe Stirn noch höher erscheinen. Die Überraschung aber bietet der Text, ein dichter, mit Informationen vollgepackter Lexikoneintrag. In äußerst knapper Form werden Eichengrüns Familiendaten, seine Lern- und Lebensstationen, seine Fähigkeiten und eine Fülle von Erfindungen, Ehrungen und Verdienste aufgezählt, eine Lebenssumme an Leistungen, die es höchst plausibel machte, dass man sich dieses Mannes bestimmt auch in Zukunft erinnern solle und werde. Mit genau dieser Absicht war Eichengrüns Biografie verfasst worden – wie auch die Lebensläufe der anderen etwa 8500 Personen, die im Jahr 1930 im Reichshandbuch der deutschen Gesellschaft aufgenommen wurden.5 Kein Geringerer als Ferdinand Tönnies, der Begründer der modernen Soziologie in Deutschland, schrieb das programmatische Vorwort dieses Who’s who der Weimarer Republik. Er begründet darin das Konzept und die Kriterien für das 1930 herausgebrachte völlig neuartige Nachschlagewerk. Im Reichshandbuch der deutschen Gesellschaft wurden die darin aufgenommenen Persönlichkeiten gänzlich anders ausgewählt als in vergleichbaren Vorgängerwerken wie etwa dem »Gotha«, für den allein die adelige Geburt als Aufnahmekriterium galt.6 Aber die monarchistische Ständegesellschaft mit ihrer starren Struktur ist nach 1918 Geschichte. In der ersten deutschen parlamentarischen Demokratie, so Tönnies in seinem Vorwort, sollten nicht Herkunft, Standes- oder Religionszugehörigkeit, sondern allein die Bedeutung und die Leistungen einer Persönlichkeit im gegenwärtigen geistigen, wirtschaftlichen und politischen Gefüge der Gesellschaft zählen, weshalb Zeitgenossen wie Arthur Eichengrün im Fokus standen. Das Reichshandbuch müsse daher als eine Ergänzung zur Allgemeinen Deutschen Biographie willkommen sein, denn, so Tönnies: »Ein Inventar der l e b e n d e n H ä u p t e r deutscher Nation, deutschen Geistes ist es, was das Reichshandbuch bieten kann und soll.«7 Arthur Eichengrün im »Reichshandbuch der deutschen Gesellschaft«. Man braucht zwei Hände für dieses Handbuch; die beiden in blaues Leder gebundenen Folianten wiegen zwölf Kilo. Die eingeprägten goldenen Titellettern, die aufwendige Ausstattung, der Druck auf schwerem Hochglanzpapier mit den gestochen scharfen Fotoporträts fordern demonstrativ Respekt ein für die Persönlichkeiten, die darin Aufnahme gefunden haben. »Eichengrün, Arthur. Dr. phil., Dr. Ing. E. h. der Technischen Hochschule Hannover, Gründer und Inhaber der Cellon-Werke. Geb. 13.8.1867 in Aachen – Vater: Tuchfabrikant. Mutter: Emma, geb. Meyer. – Ver. mit Lucie, geb. Bartsch. – Kinder: Edgar, Dipl.-Ing.; Hans-Günther; Alice; Lottie; Hildegard, Dipl.-Ing.«8 Wie exakt passende Puzzlestücke fand ich die von Johanna Stangassinger genannten Namen ihrer kindlichen Spielgefährten Hille und Hans in den ersten Zeilen der Biografie des Arthur Eichengrün im Reichshandbuch wieder. Zusammen mit den Bildern aus den Familienfotoalben der ehemaligen Obersalzberger bewiesen sie, dass ich tatsächlich den Nachbarn des Emerer-Bauern vom Oberwurflehen gefunden hatte, der lange Jahre im Mitterwurflehen gelebt hatte – und dessen Familie schräg über die Straße auch noch den Nachbarn Hitler bekam. Zur Genugtuung über diesen Fund gesellte sich Verwunderung. Ich war zufällig und beiläufig am Obersalzberg auf einen Unbekannten aufmerksam geworden. Arthur Eichengrün war wie in einem kleinen ewigen Licht in der privaten Erinnerung einer alten Dame an ihre Kindheit lebendig geblieben. Aber im gegenwärtigen, kollektiven und öffentlichen Gedächtnis der Bundesrepublik Deutschland, Stand 1986, existierte Arthur Eichengrün nicht mehr. Als hätte dieser Mann nie gelebt. Dabei war er in Deutschland vom Kaiserreich bis an das Ende der Weimarer Republik als eine herausragende wissenschaftliche und wirtschaftlich kreative Persönlichkeit anerkannt gewesen, was das Reichshandbuch eindrucksvoll belegt. So ausgelöscht die öffentliche Erinnerung war, blieb nur der Weg über die Familie, zu der ich mit Waltraud und Ernst Eichengrün einen ersten Zugang gefunden hatte. Ernst Eichengrün lernte ich zunächst nur als knorrige, mit Berliner Dialekt gefärbte Telefonstimme kennen, knapp, aber präzise in seinen Auskünften. Anfangs hielt ich seine Lakonie für Skepsis mir gegenüber. Allmählich begriff ich, dass er es liebt, subtile ironische Pointen zu setzen. »Ihre Frau erzählte mir, Sie könnten mir über Familie Eichengrün am Obersalzberg nichts berichten – warum?« »Weil Dr. E.« – Enkel Ernst machte mich gleich mit dem familieninternen Kürzel für Arthur Eichengrün vertraut – »mit drei Frauen drei Familien Eichengrün nacheinander begründet hat. Und er ließ die jeweils vorangegangenen dann hinter sich. Er sprach nicht...


Chaussy, Ulrich
Ulrich Chaussy, geb. 1952, war jahrzehntelang vor allem im Bayerischen Rundfunk als Autor und Moderator tätig. Seine Bücher über das Oktoberfestattentat oder den Obersalzberg basieren auf wegweisenden Recherchen und erleben zahlreiche Auflagen. Er wurde für seine Arbeit als investigativer Journalist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Publizistikpreis der Landeshauptstadt München, dem Leuchtturm-Preis, der Bayerischen Verfassungsmedaille in Silber und dem Bundesverdienstkreuz.

Ulrich Chaussy, geb. 1952, war jahrzehntelang vor allem im Bayerischen Rundfunk als Autor und Moderator tätig. Seine Bücher über das Oktoberfestattentat oder den Obersalzberg basieren auf wegweisenden Recherchen und erleben zahlreiche Auflagen. Er wurde für seine Arbeit als investigativer Journalist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Publizistikpreis der Landeshauptstadt München, dem Leuchtturm-Preis, der Bayerischen Verfassungsmedaille in Silber und dem Bundesverdienstkreuz.


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