E-Book, Deutsch, 300 Seiten
Chaves Nogales Juan Belmonte. Stiertöter
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7518-0624-4
Verlag: Friedenauer Presse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Biografie
E-Book, Deutsch, 300 Seiten
ISBN: 978-3-7518-0624-4
Verlag: Friedenauer Presse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Legende nach soll der seinerzeit weltberühmte Torero Juan Belmonte eines Tages in Chaves Nogales' Büro getreten sein, um ihn, den brillantesten Journalisten seiner Zeit, zu bitten, seine Biografie zu schreiben. Chaves Nogales aber hatte noch nie einen Stierkampf gesehen - und würde auch keinen anschauen. Was ihm dann mit dem vorliegenden Buch - der fiktiven Autobiografie des Stiertöters - gelang, ist ein literarisches Husarenstück im Stile James Boswells Dr. Samuel Johnson. Leben und Meinungen. Das Buch war gleich nach Erscheinen so erfolgreich, dass der wahre Autor dahinter für lange Zeit in Vergessenheit geriet. Nogales, der als einer der letzten großen Liberalen auf den Todeslisten der Faschisten wie der Kommunisten stand, überschritt damit alle Genregrenzen und schuf das vielleicht bedeutendste Buch über den Stierkampf. Die Biografie des Stiertöters Juan Belmonte enthält neben der bunten Schilderung seiner Heldentaten einen glänzenden Essay über den Stierkampf, den Nogales seinem Belmonte unterschob und in dem er mit Begeisterung und Abscheu all unsere banalen Irrtümer über den inzwischen historisch geworden Stierkampf ausräumt.
Manuel Chaves Nogales, 1897 in Sevilla geboren, entstammte einer bürgerlichen und kunstbeflissenen Familie (seine Mutter war Konzertpianistin, sein Großvater ein berühmter Maler von Stierkampfszenen) und bereiste seit dem Ende der 20er-Jahre dei Länder Europas und die UdSSR. Dabei setzte er immer wieder sein Leben aufs Spiel und verfasste zahlreiche Artikel, Reportagen und Bücher. Chaves Nogales starb 1944 in London.
Frank Henseleit, 1964 geboren, ist Übersetzer und Verleger in Köln. Er übersetzt aus dem Portugiesischen, Katalanischen und Spanischen u.a. Mário de Sá-Carneiro, Fernando Pessoa, Blai Bonet, Jorge Luis Borges, Joan Brossa.
Weitere Infos & Material
1. Ein Junge in einer Straße in Sevilla
Juan ist noch ein schreckhafter Junge, aber wenn er an den Nachmittagen mit seinem geflickten, sauberen Lätzchen um den Hals in der Haustür erscheint – einen Schokoladentaler und eine dunkle Brotkante zum Kauen in der Faust – und dem bunten Treiben von der kühlen Warte des Hauseingangs zuschaut, spürt er die Anziehungskraft dieses Spektakels der Welt. Zögernd dort auf der Schwelle kann er sich nicht durchringen, auf den Gehweg zu springen, und als er sich nach einer Weile doch überwindet, in das Abenteuer der Straße einzutauchen, bleibt er dennoch der schüchterne Juan, der kaum seinen Kopf hebt und sich eng an die Häuserwände drückt, keinen Laut von sich gibt und mit ängstlichen Augen zur Seite schielt. Juan ist ein klitzekleines Ding und die Straße im Vergleich dazu ein viel zu großer, polternder, rastloser Platz. Eine Straße, so groß und so rastlos wie der ganze Planet. Juan versteht nichts von der Welt, was Wahrheit ist, bestimmt seine Lust, und die trägt ihm auf, herumzustromern; Hüter über eine Straße zu sein, ist so schwierig, wie Herrscher über die Welt zu sein. Solche Kinder, die sich nicht vor Straßen wie dieser scheuen, können an jedem beliebigen Tag die Herrschaft der Welt übernehmen. Auf der ganzen Welt findet sich nichts, was nicht in dieser Juan gehörenden Straße existiert; kein größeres Durcheinander, keine schlimmeren Feinde, keine lauernderen Gefahren, als hier. Juan lebt in einem Haus an der Calle Ancha de la Feria – das Haus mit dem Zeichen ›72‹, in welchem er zur Welt kam. In der Calle Ancha de la Feria auf die Welt zu kommen und sich der Menschheit gegenüberzusehen, die gegen sie anbrandet, hat noch keinem geschadet, der soeben noch auf allen vieren kroch und die Hände in die Luft hob für die ersten Schritte ins Leben. Sich dieser Brandung mit blanker Brust entgegenzustellen ist ein wahrlich heldenhaftes Unterfangen, das für den Rest des Lebens Juans Charakter prägen und seine außerordentliche Bedeutung bewahren wird, denn unvermittelt eröffnete die Straße dem kleinen Neuankömmling eine vollkommene Synthese des Universums. Die Sevillaner, die viel auf ihre Herkunft geben, verweisen gerne auf die Bedeutung, in der Calle Ancha de la Feria das Licht der Welt erblickt zu haben, und betonen dies bei jeder Gelegenheit. Nicht anders dürfte es geklungen haben, wenn man sich seiner attischen Herkunft rühmte oder schwor, man sei bei der Geburt von Wilden umzingelt gewesen. Was die Sevillaner aber nicht kennen – selbst wenn man es ihnen erzählte –, ist die kaum geringere Bedeutung, in einer der fünfzehn, vielleicht zwanzig – mehr gibt es nicht – vergleichbaren Straßen geboren zu werden, die nicht die Calle Ancha de la Feria sind. Solche Straßen findet man in Paris, bei Les Halles, in vier oder fünf Städten Italiens, Neapel vorweg, oder vielleicht noch in Moskau, dort, wo der Smolensker Markt liegt. Fünfzehn, höchstens zwanzig weitere auf der ganzen Welt. Auch wenn der Sevillaner das nicht wahrhaben will. Solche privilegierten Straßen stellen das geeignete Umfeld für das Heranreifen einer bedeutenden Persönlichkeit dar und bilden das Klima, in dem ein Mann das erreicht, was ein Mann überhaupt erreichen kann. Wie durch ein Wunder prosperieren sie viele Jahrhunderte hindurch ohne erkennbare Anzeichen einer Abnutzung; in die Jahre gekommen, zeigen sie ihr Alter nicht; das Geschehene unvergesslich vereinnahmt, pulsieren sie im fiebernden Moment einer permanenten Aktualität, die mit der Rastlosigkeit des Stundenzuges nie stillsteht; jede Generation verlangt ihnen, wie in einer Erbfolge, eine einschneidende Erneuerung ab; auf die Lehmwand des Konvents folgen die festen Mauern der Fabrik, der Sattler überlässt seinen Standort dem Teilehändler von Ford oder Citroën, in den Innenhöfen der alten Gasthäuser werden Filme vorgeführt, und auf der Pflasterstraße, wo früher die Kaleschen heranpreschten, suchen sich heute Taxis ihren Weg durch das Gewimmel. Diese unaufhörliche Evolution lässt sie aufgrund der täglichen Reibereien der Anachronismen und Widerstände chaotisch erscheinen. Kaum hat sich ein berühmtes englisches Tuchgeschäft etabliert, lässt sich ein Trödler nebenan nieder; der altertümliche Schreiber ist noch nicht ganz abgetreten, schon trachtet der öffentliche Fernsprecher nach seinem Leben; gleich neben der Hermandad del Santísimo Cristo de las Llegas liegt das Büro der marxistischen Gewerkschaft; kurz nach dem endgültigen Ruin des Grundstückmaklers kommt eine Bank und will an der Stelle seines versteigerten Hauses eine Filiale hochziehen; die Eisenwarenhändler mit ihren kleinen rollenden Geschäften schimpfen über die hinderlichen Straßenbahnschienen; die Handkarren der tapfersten Marktschreier behindern mit ihrem schwerfälligen Vorankommen die Autos, die völlig zwecklos hinter ihnen hupen; die Vogelhändler richten sich an den Straßenmündungen ein und hängen die Wände mit ihren Käfigen zu; die Antiquare und Vignettenhändler tapezieren die Gehwege mit ihren Ständen; die Tavernenbesitzer zerren ihre Marmortische und Klappstühle auf die Straße; in den Ecken stehen Gruppen arbeitsloser Landarbeiter und Maurer, die demoralisiert die ersten Sonnenstrahlen auffangen, und junge Faulenzer und Angeber trinken Kaffee mit Brandwein aus Gläsern; Buben raufen sich und führen Steine werfend ihre Bandenkriege, die Alten grummeln, die Mädchen prahlen, die Klatschweiber zanken sich, die Hunde umschleichen die Tür der Metzgerei, und das schmutzige und übel riechende Wasser fließt in Rinnsalen über die Straße. Alles dort ist pochendes, gebendes und nehmendes Leben, Sevillas Simultaneität zu Paris, zu Neapel und zu Moskau. Die Straße ist der wahre Schmelztiegel der Welt. Was der Junge in seiner tumulthaften Welt wie intuitiv erlernt, würde einem Heranwachsenden aus den Außenbezirken oder der entlegenen, ehrwürdigen Gartenstadt, der davon träumt, einst erwachsen zu sein, unverhältnismäßig mehr Zeit kosten. Die Jungs, die in diesen Straßen aufwachsen, irren sich selten, machen sich früh ein ziemlich konkretes Bild von der Welt, wissen die Dinge einzuordnen, sind gewarnt und unerschrocken. Sie werden an der Welt nicht zerschellen. Der Junge des Eisenwarenhändlers
Der Erstgeborene des Eisenwarenhändlers ist ein kränkliches und auffallend hübsches Kind. Er ist in diesen Kindertagen eine einzige Schreckhaftigkeit, nichts als Ängstlichkeit, eines dieser verhätschelten Kleinkinder, die sklavisch darauf achten, dass ihnen nicht die Strümpfe runterrutschen und ihr Kinderanzug nicht zu sehr verschmutzt. Wenn es sich in das heldenhafte Abenteuer der Straße stürzt, erstarren seine Augen im schreckhaften Geradeausblick: »Von welcher Seite wird der Schlag kommen?«, fragt es sich verängstigt. »Welcher Wagen wird mich beim Vorbeifahren mit Schlamm einsauen? Welcher von diesen verdammten Strolchen wird mich herausfordern? Von welcher Seite kommen die wehtuenden Steine angeflogen oder der demütigende Schlammklumpen? Welcher dieser übellaunigen Hunde wird seine Zähne in meiner Wade verbeißen? Welcher von diesen argwöhnischen Pferdehändlern wird mich rüde anfassen?« Der kleine Juan fürchtet all dies und vieles mehr; er fürchtet die unwirtliche Welt, die ihn bedroht, und gleichzeitig zieht sie ihn an. Einmal in der Woche, an den Donnerstagen, baut sich mitten auf der Fahrbahn vor dem Haus ein malerischer Markt auf, ein marokkanischer Souk würde dagegen erblassen. Die fliegenden Händler aus ganz Sevilla kommen heran und verkaufen Papier, Bücher, Steingut, altes Eisenzeug; aus den Bergen kommen die Piñoneros mit ihren geernteten Pinienkernen in die Stadt, die Gemüsebauern kommen von den Auen mit ihren Mispeln und Artischocken. An den Donnerstagen kann man auch getrocknete Kichererbsen, Sonnenblumenkerne, weiche Haselnüsse, Palmherzen, Kinderzigaretten aus Kakao und köstliche rötliche Fische und Hähne als Bonbons kaufen. Der Donnerstag ist für Juan der Tag der Straße. Um die Markstände scharwenzeln ist für die Kinderschar das Größte. Aus dem ganzen Viertel kommen die Gossenjungen und schleichen wie die Aale zwischen all den gewieften Händlern und Käufern umher. Juan schlüpft, wann immer er die Gelegenheit sieht, zur Tür heraus und läuft zu ihnen, fröhlich aber auch ein wenig scheu. Juans Großvater hat in der Calle Ancha de la Feria einen kleinen Laden mit Eisenwaren, der, wenn die Zeit nicht stehen bleibt, einst seinem Vater und seinem Onkel gehören wird. Es ist ein kleines, bescheidenes Geschäft, das solide geführt wird und ein Leben in guten Verhältnissen erlaubt. Juans Mutter, die alles mit dem Stolz eines wohlhabenden Handwerkbetriebs...