E-Book, Deutsch, 360 Seiten
Chiang Geteilt durch Null
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-96509-038-5
Verlag: Golkonda Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erzählungen 1990 bis 2020 Band 2
E-Book, Deutsch, 360 Seiten
ISBN: 978-3-96509-038-5
Verlag: Golkonda Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ted Chiang wurde in Port Jefferson, New York, geboren. Der studierte Informatiker lebt derzeit in der Nähe von Seattle, Washington. Er gilt weltweit als die größte Entdeckung der Science-Fiction der letzten zwanzig Jahre. Für seine Erzählungen hat er alle namhaften Genre-Preise wie den Hugo Award, den Nebula Award und den Locus Award erhalten. »Die Geschichte deines Lebens« wurde unter dem Titel »Arrival« von Denis Villeneuve verfilmt und zum Hollywood-Blockbuster 2017.
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Eine Eisschicht; sie fühlt sich rau an auf meinem Gesicht, aber nicht kalt. Da ist nichts, an dem ich mich festhalten könnte, meine Handschuhe rutschen immer wieder ab. Über mir sehe ich Menschen herumrennen, aber sie können nichts tun. Ich versuche, mit den Fäusten gegen das Eis zu hämmern, aber meine Arme bewegen sich wie in Zeitlupe, und meine Lunge ist offenbar geplatzt, und mir wird schwindlig, und es ist, als würde ich mich auflösen …
Mit einem Schrei erwache ich. Mein Herz rast wie verrückt. Herr im Himmel. Ich schlage die Decke zurück und setze mich auf den Bettrand.
Daran habe ich mich bislang nicht erinnern können. Ich wusste nur noch, wie ich durch das Eis gebrochen war; der Arzt sagt, mein Verstand habe den Rest verdrängt. Jetzt kann ich mich erinnern, und es ist der schlimmste Albtraum, den ich je hatte.
Zitternd umklammere ich die Daunendecke. Ich versuche, mich zu beruhigen, langsam zu atmen, doch ich schluchze fortwährend. Es war so real, ich habe es wirklich gefühlt, habe erlebt, wie sich Sterben anfühlt.
Fast eine Stunde war ich dort im Wasser; als sie mich herausholten, war ich beinahe hirntot. Bin ich wieder gesund? Es ist das erste Mal, dass man hier im Krankenhaus das neue Medikament jemandem mit so schwerem Hirnschaden gegeben hat. Hat es gewirkt?
Immer wieder derselbe Albtraum. Nach dem dritten Mal weiß ich, dass ich nicht mehr schlafen werde. Die Stunden bis zum Morgengrauen grüble ich unablässig. Ist das nun das Ergebnis? Verliere ich den Verstand?
Morgen ist meine wöchentliche Untersuchung beim Stationsarzt. Hoffentlich hat er ein paar Antworten für mich.
Ich fahre in die City von Boston, und nach einer halben Stunde bin ich bei Dr. Hooper. Hinter einem gelben Vorhang sitze ich auf einer Liege im Behandlungszimmer. Aus der Wand ragt auf halber Höhe ein Breitbildschirm, der auf Tunnelblick eingestellt ist, sodass ich aus meinem Blickwinkel nichts darauf sehen kann. Der Arzt tippt auf der Tastatur herum – wahrscheinlich ruft er meine Patientendatei auf – und beginnt dann mit der Untersuchung. Als er mit einer Stablampe in meine Pupillen hineinleuchtet, berichte ich ihm von den Albträumen.
»Hatten Sie vor dem Unfall schon Albträume?« Er holt sein kleines Hämmerchen heraus und klopft mir gegen Ellbogen, Knie und Fußknöchel.
»Nein, nie. Ist das eine Nebenwirkung des Medikaments?«
»Nein. Durch die Hormon-K-Therapie haben sich viele beschädigte Neuronen regeneriert, und das ist eine gewaltige Veränderung, an die sich Ihr Gehirn erst gewöhnen muss. Die Albträume sind vermutlich ein Symptom davon.«
»Bleibt das so?«
»Eher nicht«, sagt er. »Sobald Ihr Gehirn sich daran gewöhnt hat, dass ihm wieder alle Nervenbahnen zur Verfügung stehen, werden die Träume aufhören. Jetzt berühren Sie mit dem Zeigefinger Ihre Nasenspitze und danach meinen Finger hier.«
Ich tue, was er mich geheißen hat. Als Nächstes lässt er mich mit einem Finger nach dem anderen rasch meinen Daumen berühren. Anschließend soll ich wie bei einem Alkoholtest eine gerade Linie gehen. Danach beginnt er mit seinen Fragen.
»Zählen Sie auf, woraus ein Schuh besteht.«
»Die Sohle, der Absatz, die Schnürsenkel. Ähm, die Löcher, durch die man die Schnürsenkel führt, heißen Ösen, und dann gibt es unter den Schnürsenkeln noch die Zunge …«
»Okay. Wiederholen Sie diese Ziffern: drei neun eins sieben vier …«
»… sechs zwei.«
Das hat Dr. Hooper nicht erwartet. »Was?«
»Drei neun eins sieben vier sechs zwei. Diese Zahlen haben Sie schon bei meiner Einlieferung benutzt, als Sie mich zum ersten Mal untersucht haben. Wahrscheinlich verwenden Sie sie oft bei Patienten.«
»Sie hätten sie nicht auswendig lernen müssen. Damit testen wir das Ultrakurzzeitgedächtnis.«
»Ich habe sie nicht auswendig gelernt, ich habe sie mir nur zufällig gemerkt.«
»Wissen Sie noch die Ziffern von der zweiten Untersuchung?«
Ich schweige kurz. »Vier null acht eins fünf neun zwei.«
Er ist überrascht. »Die meisten Menschen können sich so viele Ziffern nach einmaligem Hören nicht merken. Benutzen Sie irgendwelche Eselsbrücken?«
Ich schüttele den Kopf. »Nein. Telefonnummern speichere ich immer im Telefon.«
Er geht zum Terminal und tippt auf dem Nummernblock herum. »Versuchen Sie es damit.« Er liest eine aus vierzehn Ziffern bestehende Zahl vor, und ich wiederhole sie. »Meinen Sie, Sie können das auch rückwärts?« Ich sage die Ziffern in umgekehrter Reihenfolge auf. Er runzelt die Stirn und beginnt, etwas in meine Patientendatei zu tippen.
Ich sitze auf der psychiatrischen Station in einem der Untersuchungszimmer vor einem Terminal; das ist der nächstgelegene Ort, an dem Dr. Hooper ein paar Intelligenztests auftreiben konnte. In einer Wand ist ein kleiner Spiegel eingelassen, vermutlich befindet sich dahinter eine Videokamera. Für den Fall, dass sie gerade aufnimmt, lächele ich in ihre Richtung und winke kurz. Bei den versteckten Kameras in den Geldautomaten mache ich das auch immer.
Dr. Hooper kommt mit einem Ausdruck meiner Testergebnisse herein. »Also, Leon. Ihr Ergebnis ist … sehr gut. Bei beiden Tests lagen Sie auf dem neunundneunzigsten Perzentil.«
Mir bleibt der Mund offen stehen. »Das ist doch wohl ein Witz.«
»Nein.« Er kann es selbst kaum glauben. »Also, diese Zahl sagt nichts darüber aus, wie viele Fragen Sie richtig beantwortet haben. Es bedeutet, dass Sie im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung …«
»Ich weiß, was es bedeutet«, sage ich zerstreut. »Beim Test an der Highschool war ich auf dem siebzigsten Perzentil.« Neunundneunzigstes Perzentil. Innerlich suche ich nach irgendwelchen Anzeichen. Wie fühlt sich so etwas an?
Er setzt sich an den Tisch und betrachtet dabei immer noch den Ausdruck. »Sie waren nie auf dem College, oder?«
Ich konzentriere mich wieder auf ihn. »Doch, schon, aber ich habe abgebrochen. Ich hatte von Bildung eine andere Vorstellung als die Dozenten.«
»Aha.« Wahrscheinlich denkt er, dass ich durchgefallen bin. »Nun, offensichtlich haben Sie gewaltige Fortschritte gemacht. Zu einem kleinen Teil kann das vielleicht von allein geschehen sein, während Sie älter wurden, aber größtenteils dürfte es ein Ergebnis der Hormon-K-Therapie sein.«
»Das ist ja eine tolle Nebenwirkung.«
»Freuen Sie sich nicht zu früh. Die Testergebnisse sagen nichts über Ihre Leistungen im realen Leben.« Ich verdrehe die Augen, als Dr. Hooper gerade nicht hinsieht. Da passiert etwas Unglaubliches, und alles, was ihm dazu einfällt, sind Binsenweisheiten. »Ich würde gern noch ein paar Tests durchführen. Können Sie morgen herkommen?«
Ich bin gerade dabei, eine Holografie zu retuschieren, als das Telefon klingelt. Ich schwanke zwischen Telefon und Konsole und entscheide mich widerwillig für das Telefon. Während der Bildbearbeitung lasse ich normalerweise den Anrufbeantworter rangehen, aber die Leute sollen erfahren, dass ich wieder arbeite. Durch meinen Krankenhausaufenthalt habe ich viele Kunden verloren – eines der Risiken, wenn man Freiberufler ist. Ich berühre das Telefon und sage: »Holografie Greco, Leon Greco am Apparat.«
»Hey Leon, hier ist Jerry.«
»Hi Jerry. Was gibt’s?« Ich betrachte immer noch das Bild auf dem Monitor: zwei ineinander verzahnte, spiralförmige Gebilde. Eine abgedroschene Metapher für konstruktive Zusammenarbeit, aber genau das wollte der Kunde für die Anzeige.
»Hast du Lust, heute Abend ins Kino zu gehen? Sue, Tori und ich schauen uns an.«
»Heute Abend? Da kann ich nicht. Heute ist die letzte Vorstellung dieser Eine-Frau-Show im Hanning-Theater.« Die Zahnräder sehen zerkratzt und schmierig aus. Mit dem Cursor markiere ich sie und gebe die Werte ein, die ich anpassen will.
»Was ist das?«
»Es heißt und ist ein in Versen gehaltener Monolog.« Jetzt verändere ich die Helligkeit, damit die Schatten dort, wo die Zahnräder ineinandergreifen, ein bisschen heller werden. »Wollt ihr nicht mitkommen?«
»Ist das so was wie die Monologe bei Shakespeare?«
Zu stark: Mit diesem Helligkeitsgrad wird der äußere Rand zu grell. Ich lege eine Obergrenze für die Intensität der Lichtreflexe fest. »Nein, es ist als Bewusstseinsstrom geschrieben und wechselt zwischen vier verschiedenen Metren hin und her. Das...