Christensen | Der Halbbruder | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 768 Seiten

Christensen Der Halbbruder

Roman
Erscheinungsjahr 2014
ISBN: 978-3-641-14118-9
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 768 Seiten

ISBN: 978-3-641-14118-9
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der junge Barnum wird in eine Welt hineingeboren, die von Frauen geprägt ist und von alten Familiengeheimnissen. Sein Leben wird immer wieder überschattet von seinem Halbbruder Fred. Bis dieser eines Tages spurlos verschwindet und damit das Leben aller unwiderruflich in neue Bahnen lenkt ...

Lars Saabye Christensen, 1953 in Oslo geboren, ist einer der bedeutendsten norwegischen Autoren der Gegenwart. Seine Bücher sind in 36 Sprachen übersetzt und wurden vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Nordischen Literaturpreis, mehrmals mit dem Norwegischen Kritikerpreis, dem Preis des Norwegischen Buchhandels sowie dem Preis des Norwegischen Verlegerverbandes.
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(prolog)


»Vielen Dank!«

Ich stand auf Zehenspitzen, streckte den Arm so weit nach vorne, wie ich konnte, und bekam von Esther das Wechselgeld zurück, fünfundzwanzig Öre auf eine Krone. Sie beugte sich durch die enge Luke und legte ihre schrumplige Hand auf meine goldenen Locken, ließ sie dort eine Weile liegen, nicht, dass ich das sonderlich mochte, aber es war ja nicht das erste Mal, so langsam gewöhnte ich mich daran. Fred hatte mir schon lange den Rücken gekehrt, die Tüte mit dem Kandiszucker in die Tasche gestopft, und ich konnte an der Art, wie er ging, sehen, dass er aus irgendeinem Grund wütend war. Fred war wütend, und das war beunruhigend, ziemlich beunruhigend. Er schurrte mit seinen Schuhen über den Boden und schien sich seinen Weg zu bahnen, sein Kopf lag tief zwischen den hohen, spitzen Schultern, es war, als kämpfte er mit starkem Gegenwind und müsste alle Kräfte mobilisieren, aber es war nur ein ruhiger Nachmittag im Mai, ein Samstag war es außerdem, und der Himmel über Marienlyst war glänzend blau und rollte langsam wie ein riesiges Rad auf die Wälder hinter der Stadt zu. »Hat Fred wieder angefangen zu sprechen?«, flüsterte Esther. Ich nickte. »Was hat er gesagt?« »Nichts.« Esther lachte verlegen. »Lauf schnell hinter deinem Bruder her. Damit er nicht alles aufisst.«

Sie zog ihre Hand aus meinem Haar und schnupperte einen Augenblick lang daran, während ich mich beeilte, um Fred einzuholen, und genau daran erinnere ich mich, das ist der Muskel des Gedächtnisses, nicht die gelben Finger der alten Dame in meinen Locken, sondern wie ich schnell hinter Fred, meinem Halbbruder, herlaufe und es fast unmöglich ist, ihn einzuholen. Ich bin der kleine, kleine Bruder, und ich möchte nur wissen, warum er so wütend ist, ich fühle, wie es pocht in meiner Brust, und spüre einen warmen, scharfen Dunst im Mund, denn möglicherweise habe ich mir auf die Zunge gebissen, während ich auf die Straße gelaufen bin. Ich balle die Faust um das Wechselgeld, die warmen Münzen, und ich laufe hinter Fred her, hinter dieser schmalen dunklen Gestalt in all dem Licht um uns herum. Die Uhr hinten beim NRK, beim Norwegischen Rundfunk, zeigt acht nach drei, und Fred hat sich schon auf die Bank bei den Büschen gesetzt. Ich spurte so schnell ich kann über den Kirkevei, es herrscht so gut wie kein Verkehr, denn es ist Samstag, nur ein Leichenwagen fährt vorbei, und plötzlich hat er mitten auf der Kreuzung eine Panne, der Fahrer kommt heraus in seiner hellgrauen Uniform, und er schlägt fluchend ununterbrochen auf die Motorhaube, und in dem Wagen, in dem lang gestreckten Kofferraum hinter den Sitzen, da steht ein weißer Sarg, aber der ist bestimmt leer, es will doch wohl niemand an einem Samstagnachmittag beerdigt werden, die Totengräber haben jetzt sicher frei, und wenn doch jemand drinnen liegt, dann macht das gewiss auch nichts, denn die Toten müssen viel Zeit haben, so denke ich, ich denke so, damit ich etwas zu denken habe, und der graue Fahrer mit seinen schwarzen Handschuhen schafft es endlich, wieder den Wagen zu starten, und verschwindet Richtung Majorstuen. Ich atme ganz tief den schweren Geruch von Abgasen und Benzin ein und laufe übers Gras, an den kleinen Fußgängerüberwegen, Ampeln und Fußwegen vorbei, die es dazwischen gibt, wie eine Stadt für Zwerge, wo wir einmal im Jahr hin befördert werden, um von großen Polizeibeamten in Uniformen mit strammen, breiten Gürteln die Verkehrsregeln zu lernen. Genau dort, in dieser kleinen Stadt, geschah es, dass ich aufhörte zu wachsen. Fred sitzt auf der Bank und schaut nicht zu mir, sondern ganz woanders hin. Ich setze mich neben ihn, und hier gibt es nur uns beide, an diesem Samstagnachmittag im Mai.

Fred schiebt sich einen scharfen Kandisklumpen in den Mund und saugt lange daran, es gurgelt in seinem Gesicht, ich kann sehen, wie die braune Spucke langsam von seinen Lippen tropft. Seine Augen sind dunkel, fast schwarz, und sie schielen, seine Augen schielen. Ich habe das früher schon mal an ihm gesehen. Er schweigt. Die Tauben watscheln lautlos durch das matte Gras. Ich warte. Dann halte ich es nicht mehr aus. »Was ist los?«, frage ich. Fred schluckt, und ein Ruck fährt durch seinen Adamsapfel. »Man redet nicht beim Essen.« Fred schiebt sich mehr Kandis zwischen die Zähne und zermalmt langsam den Zucker. »Aber warum bist du so wütend?«, flüstere ich. Fred isst den ganzen Kandis auf, knüllt die braune Tüte zusammen und wirft sie auf den Fußweg. Eine Möwe stürzt herunter, verscheucht die Tauben, schlittert mit einem Schrei über den Asphalt und steigt an einem Laternenpfahl wieder auf. Fred schiebt seinen Pony nach hinten, aber der fällt wieder in die Stirn, und er lässt ihn dort hängen. Endlich sagt er etwas. »Was hast du zu der Alten gesagt?« »Zu Esther?« »Zu wem sonst? Redet ihr euch jetzt schon mit Vornamen an?« Ich bin hungrig, und mir ist schlecht. Ich würde mich am liebsten hier ins Gras legen und schlafen, zwischen den Tauben. »Ich glaube, ich weiß gar nicht mehr, was ich gesagt habe.« »Das tust du doch. Wenn du ein bisschen drüber nachdenkst.« »Nein, Ehrenwort, Fred. Ich erinnere mich nicht mehr.« »Und warum erinnere ich mich dann noch? Obwohl du dich nicht mehr dran erinnerst?« »Ich weiß es nicht, Fred. Bist du deshalb so wütend?« Plötzlich legt er mir die Hand auf den Kopf. Ich sinke zusammen. Seine Hand ist geballt. »Bist du dumm?«, fragt er. »Nein. Ich weiß nicht, Fred. Sei doch etwas netter. Bitte.« Er lässt seine Faust auf meinen Locken liegen. »Bitte? Es ist allerhöchste Eisenbahn, Kleiner.« »Red nicht so. Bitte.« Er lässt die Finger über mein Gesicht gleiten, sie riechen süß, als würde er mich mit Leim einschmieren. »Soll ich dir genau sagen, was du gesagt hast?« »Ja. Mach das. Sag es mir.« Fred beugt sich zu mir hinunter. Ich schaffe es nicht, ihm in die Augen zu sehen. »Du hast gesagt ›vielen Dank‹!«

Ich war erleichtert. Eigentlich hatte ich befürchtet, ich hätte etwas anderes gesagt, was viel, viel schlimmer gewesen wäre, etwas, was ich nie hätte sagen dürfen, was mir einfach so herausgerutscht war, Worte, von denen ich gar nicht wusste, dass es sie gab. Dreckige Fotze. Ich hustete. »Vielen Dank? Habe ich das gesagt?« »Ja. Du hast verdammt noch mal vielen Dank gesagt!« Fred schrie es heraus, obwohl wir auf der gleichen Bank saßen, dicht nebeneinander. »Vielen Dank!«, schrie er. Ich verstand nicht ganz, was er damit meinte. Und jetzt bekam ich noch mehr Angst. Ich musste dringend aufs Klo. Ich hielt die Luft an. Ich wollte so gern die richtigen Dinge sagen, aber ich wusste nicht, was ich antworten sollte, weil ich nicht begriff, was er überhaupt meinte. Vielen Dank. Und ich konnte auch nicht anfangen zu weinen. Dann wäre Fred nur noch wütender geworden, oder er hätte mich vielleicht ausgelacht, und das war fast das Schlimmste überhaupt, wenn er über mich lachte. Ich beugte mich über meine Knie nach vorne. »Ja und?«, flüsterte ich. Fred stöhnte. »Ja und? Ich glaube, du bist doch dumm.« »Ich bin nicht dumm, Fred.« »Und woher willst du das wissen?« Ich musste nachdenken. »Mutter hat das gesagt. Dass ich nicht dumm bin.« Fred saß eine Weile schweigend da. Ich traute mich nicht, ihn anzusehen. »Und was hat Mutter über mich gesagt?« »Das Gleiche«, antwortete ich schnell. Ich spürte seinen Arm auf meiner Schulter. »Du schwindelst deinen Bruder doch wohl nicht an«, sagte Fred leise. »Auch wenn ich nur dein Halbbruder bin?« Ich schaute auf. Das Licht um uns herum blendete mich. Und es schien, als wäre die Sonne voller Lärm, einem lauten, schrillen Lärm aus allen Richtungen. »Bist du deshalb so wütend auf mich, Fred?« »Warum?« »Weil ich nur dein Halbbruder bin?« Fred zeigte auf meine Hand, in der ich immer noch das Wechselgeld hielt, ein Fünfundzwanzig-Öre-Stück, es war warm und klebrig wie eine platte Pastille, die jemand lange gelutscht und dann ausgespuckt hatte. »Wem gehört das?«, fragte Fred. »Das ist unsres, nicht?« Fred nickte mehrere Male, und mir wurde ganz heiß vor Freude. »Aber du kannst es gern haben«, sagte ich schnell. Ich wollte ihm die Münze geben. Fred saß regungslos da und starrte mich an. Ich wurde wieder ganz unruhig. »Warum sagst du eigentlich vielen Dank? Wenn du Geld zurück kriegst, das uns gehört?« Ich holte tief Luft. »Ich hab das nur so gesagt.« »Denk das nächste Mal vorher nach, okay?« »Ja«, flüsterte ich. »Denn ich will keinen Bruder haben, der sich lächerlich macht. Auch wenn du nur mein Halbbruder bist.« »Nein«, flüsterte ich. »Ich werde nächstes Mal besser nachdenken.« »Vielen Dank ist ein Scheißwort. Sag niemals vielen Dank. Kapiert?« Fred stand auf, spuckte in hohem Bogen einen dicken, braunen Schleimklumpen aus, der mit einem Klatscher direkt vor uns im Gras landete. Ich sah eine ganze Schar Ameisen, die auf ihn zu krabbelten. »Ich hab Durst«, sagte Fred. »Man wird so verdammt durstig von Kandis.«

Wir gingen wieder zu Esther hinüber, zu dem Kiosk im Torweg gegenüber der Majorstuen Kirche, der weißen Kirche, deren Pfarrer damals Fred nicht hatte taufen wollen, und später weigerte er sich auch, mich zu taufen, aber das nur wegen meines Namens. Ich stellte mich vor die Luke, auf Zehen, Fred lehnte sich an die Regenrinne, hob die Hand und nickte, als wären wir uns über eine große Sache einig geworden. Esther kam zum Vorschein, lächelte, als sie mich entdeckte, und musste noch einmal meine Locken befühlen. Fred streckte die Zunge so weit er nur konnte aus dem Mund und tat, als würde er kotzen. »Und was soll es jetzt sein, mein kleiner Herr?«, fragte Esther. Ich schüttelte ihre Finger von meinem Kopf. »Ein Saftpäckchen. Rot.« Sie sah mich etwas...


Christensen, Lars Saabye
Lars Saabye Christensen, 1953 in Oslo geboren, ist einer der bedeutendsten norwegischen Autoren der Gegenwart. Seine Bücher sind in 36 Sprachen übersetzt und wurden vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Nordischen Literaturpreis, mehrmals mit dem Norwegischen Kritikerpreis, dem Preis des Norwegischen Buchhandels sowie dem Preis des Norwegischen Verlegerverbandes.



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