E-Book, Deutsch, 480 Seiten
Christensen Die Spuren der Stadt
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-641-23116-3
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 480 Seiten
ISBN: 978-3-641-23116-3
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Lars Saabye Christensen, 1953 in Oslo geboren, ist einer der bedeutendsten norwegischen Autoren der Gegenwart. Seine Bücher sind in 36 Sprachen übersetzt und wurden vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Nordischen Literaturpreis, mehrmals mit dem Norwegischen Kritikerpreis, dem Preis des Norwegischen Buchhandels sowie dem Preis des Norwegischen Verlegerverbandes.
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INTER ARMA CARITAS
Die vier Herren, die am Bartresen des Bristols stehen, sind laut, protzig und rechthaberisch. Sie heißen Ravn, Johnsen, Strøm und Kristoffersen. Sie meinen es gut. Als der Barkeeper Ulfsen sie bittet, ein bisschen leiser zu sein, spricht er das nicht laut aus, sondern hebt nur eine Augenbraue, und dann ist es für einen Moment still, und man kann den Unterhaltungspianisten hören, der das spielt, vermutlich zu Ehren der alten Damen, die am anderen Ende, hinten bei der Treppe, ihr Sandwich essen. Dann bestellen die Männer eine weitere Runde Gin Tonic, bis auf Ewald Kristoffersen, der lieber Bier trinkt, sich aber an diesem Tag einen kleinen Aquavit genehmigt hat, um den Anschluss nicht zu verlieren. Sie alle sind angestellt bei Dek-Rek, zwei als Zeichner, zwei als Dekorateure, und sie haben allen Grund zum Feiern. Die Gemeinde Oslo hat dem Büro den Auftrag gegeben, die Ausstellungen in Verbindung mit dem 900-Jahre-Jubiläum der Stadt auszurichten. 1950 wird es soweit sein, also noch zwei Jahre. Es gilt, keine Zeit zu verlieren. Sie haben bereits Ideen. Sie sehen es schon vor sich. Sie können die Zukunft sehen. Die Zukunft nähert sich. Aber zunächst müssen sie austrinken und dann etwas mehr Schwung in die Musik bringen. Ewald Kristoffersen wird zum Flügel geschickt. Er wartet, bis der Pianist das Stück beendet hat. Was so seine Zeit dauert. Der Pianist spielt in Schleifen. Das liegt in der Natur der Barmusik. So ist nun mal. Schließlich legt Ewald Kristoffersen dem Pianisten die Hand auf die Schulter.
»Meine Freunde würden gern etwas Lebhafteres hören«, sagt er.
Enzo Zanetti, fest angestellter Pianist im Bris, hebt den Kopf, spielt weiter, lächelt, doch sein Blick ist müde, und die Spitzen seines Hemdkragens, die von Weitem tadellos aussahen, sind bereits stumpf geworden. Er spricht leise und betont:
»Lebhaft? Irgendwelche Vorschläge?«
»Ob ich einen Vorschlag habe? Nein, das überlasse ich ganz Ihnen. Aber vielleicht etwas von Ludwig Armstark?«
»Ludwig?«
»Oder Herzog Ellingsen? Hauptsache Swing.«
Ewald Kristoffersen fürchtet, sich nicht klar genug ausgedrückt zu haben, aber auf dem Weg zurück zum Bartresen hört er, wie der Pianist das Repertoire wechselt und spielt. Das muss genügen. Die Kollegen applaudieren. Sie prosten einander zu. Mit lauten Trinksprüchen. Bald brechen sie auf. Da wartet jemand. Wir sehen uns Montag, wenn du nicht mehr blau bist oder blaumachst. Ewald Kristoffersen bleibt stehen. Er ist dran, die Rechnung zu übernehmen. Er hat das Gefühl, als sei er immer dran. Er zieht den länglichen braunen Umschlag mit dem Lohn für seine Mühen heraus und legt einen Fünfziger auf den Tresen. Jetzt versteht er, warum Barkeeper Zauberkünstler genannt werden. Der Schein ist weg, bevor er auch nur seufzen kann. Und fünfzig sind noch nicht genug. Das ging schnell. Ewald Kristoffersen muss noch einen Zehner beisteuern, aber für das Wechselgeld kann er sich zumindest noch einen Drink, ein Bier und einen Portwein kaufen. Plötzlich überfällt ihn ein schlechtes Gewissen, und er leert schnell beide Gläser. Dann muss er runter zum Cirkus Neunmann und Wasser lassen. Das dauert seine Zeit. Ewald Kristoffersen denkt: Pissen ist Freiheit. Ein guter Spruch. Aber wofür? Für das Leben? Er kann immer noch hören. Als er sich die Hände wäscht, entdeckt er sein Gesicht im Spiegel. Ewald Kristoffersen ist eigentlich verblüfft darüber, dass eine Frau ihn tatsächlich lieben kann. Er legt eine Krone auf den Tisch der Toilettenfrau, die ihm dafür ein kleines, eingewickeltes Seifenstück gibt, von der Marke Sterilan. Als er wieder oben ist, steckt er Enzo Zanetti einen Fünfer zu, dieser nickt kaum merkbar, sagt etwas auf Italienisch und spielt , vor allem für die Damen, die jetzt beim Kaffee-Gedeck angekommen sind. Dann holt Ewald Kristoffersen Mantel und Hut aus der Garderobe, gibt der Mantelfee fünfzig Öre, geht hinaus und spürt den sanften, unerwarteten Wind, der die Rosenkrantz gate hinuntertreibt. Fast könnte man eine Gerade auf der Karl Johan laufen. Nein, er muss nach Hause. Er beschließt, dennoch kein Taxi zu nehmen. Gespartes Geld ist trotz allem verdientes Geld. Er folgt der Kristian Augusts gate, vorbei an der Nasjonalgalleriet und Tullinløkka, dem Grund der Stadt. Von den Anhöhen in Nord, Ost und West fließt alles hierher. Statt Grotten zu umrunden, nimmt er einen Umweg durch den Slottsparken. Die Bäume scheinen verwirrt zu sein von dieser fünften Jahreszeit, dem . Das Licht lässt sie wieder jung aussehen, zumindest so lange es anhält. So lange es anhält, ist manchmal schon genug. Er geht weiter zum Bislett, wo die graue Mündung der Thereses gate sich in den Bögen des Stadions öffnet. Auf Norabakken, der steiler ist, als er es in Erinnerung hat, muss er eine Pause machen, aber die macht er erst am Pissoir unterhalb der Fagerborg kirke. Dort riecht es streng, nicht wie im Bristol, aber Pissen fühlt sich hier genauso gut an. Hier gibt es keine Toilettenfrau. Hier kommen die Männer allein zurecht. Nach beendeter Aktion setzt er sich auf eine Bank im Stensparken, wischt sich den Schweiß von der Stirn und betrachtet die Wolken, die den Ekebergåsen bereits in Schatten legen. Als würde die Stadt schrumpfen. Wie kann man am besten zeigen, dass diese Stadt 900 Jahre alt ist? Sie ist 900 Jahre alt und immer noch nicht erwachsen. Irgendwo muss man anfangen. Ewald Kristoffersen weiß noch nicht, wo. Er weiß nur, warum er ein schlechtes Gewissen hat. Das liegt an Jesper. Jesper ist eine Plage. Nicht in seiner Nähe zu sein ist eine Befreiung. Jesper ist kein Friedenskind. Er stammt aus dem Krieg. Ewald Kristoffersen steht auf und geht das letzte Stück. Er ist ein schlechter Vater. Ihm ist elend. Jetzt friert er. Er sollte Jesper etwas mitbringen. Er sollte eine Blume für Maj dabeihaben. Die beiden sitzen in der Küche und warten. Maj hört, dass er endlich kommt. Er poltert im Eingang. Er zieht sich im Schlafzimmer um. Lange Zeit bleibt er im Bad. Er nimmt sich seine Zeit. Dieses Mal ist sie nicht gnädig. Er ist zwei Stunden zu spät. Jesper schaut zu Boden und ballt die Fäuste. Doch als Ewald Kristoffersen sein rundes Gesicht in der Türöffnung zeigt und die Hosenträger knallen lässt, so dass der Bauch über den Gürtel rutscht, gibt Maj sich trotz allem zufrieden. Selbst Jesper entspannt sich für einen Augenblick und steckt eine Hand in die Tasche. Der Vater des Hauses nimmt am Tisch Platz.
»Der Eintopf ist kalt«, sagt Maj.
»Wir haben den Auftrag von der Osloer Kommune gekriegt.«
»Dann habt ihr wohl ein wenig gefeiert, oder?«
»Nur einen kleinen Umtrunk im Bris.«
Ewald legt Maj den Umschlag hin. Sie öffnet ihn, zählt mit flinken Fingern und sieht ihn wieder an.
» Umtrunk?«
»Ich war mit Bezahlen dran.«
»Warst du das nicht letzten Samstag auch schon?«
»Ich möchte nicht knauserig wirken.«
»Knauserig? Sag, wie es ist, Ewald!«
»Als geizig.«
»Nein, den Geiz kannst du ja mir überlassen. Und du spielst währenddessen den dicken Mann.«
Ewald Kristoffersen befestigt die Serviette zwischen den obersten Hemdenknöpfen.
»Außerdem ist kalter Eintopf mein Leibgericht«, sagt er. Er isst das, was noch übrig ist, auf, kratzt zum Schluss den tiefen Teller leer und leckt den Löffel ab. Da zieht Jesper die Hand aus der Tasche und legt etwas auf den Tisch. Es ist ein Mariekjeks. Ewald schaut seinen Sohn an.
»Für mich?«
Jesper nickt.
Ewald Kristoffersen treten die Tränen in die Augen. Er war schon immer schnell gerührt. Im Grunde seines Herzens ist Jesper ein guter Junge. Ewald Kristoffersen läuft schnell zurück auf den Flur und kommt doch noch mit etwas in den Händen zurück. Er gibt Jesper das kleine Seifenstück, das dieser auspackt und in den Mund stecken will. Maj kann ihn noch im letzten Moment aufhalten und wirft Ewald einen Blick zu.
»Warst du auch noch in der Parfümerie?«
»Ich habe nur kurz im Cirkus Neunmann vorbeigeschaut.«
Jesper fängt an zu weinen. Sein ganzer Körper zittert. Das Gesicht verzerrt sich. Die Hände schlagen in die Luft. Das Weinen wird zu einem feinen Heulen, als der Mund mit einem Schlag zusammenklappt. Maj muss ihn in den Arm nehmen. Sie muss ihn ganz fest im Arm halten. Ewald schaut woanders hin. Jesper kommt langsam wieder zur Ruhe. Es hält nie lange an. Aber lange genug. Ewald wendet sich langsam wieder seinem Sohn zu, der auf dem Schoß der Mutter sitzt, blass und schlaff.
»Ich war nicht im Zirkus, das musst du mir glauben. Ich war nur auf dem Klo.«
Ewald lacht und Jesper hebt den Kopf und versucht zu lächeln.
»Cirkus Neunmann ist ein Ort, an dem Männer wie du und ich pinkeln. Und warum heißt es Cirkus Neunmann? Ja, ganz einfach, weil da genau für neun Mann Platz ist. Eines Tages nehme ich dich mit dorthin, Jesper.«
Anschließend waschen sie zusammen ab, alle drei. Jesper darf die Löffel abtrocknen. Er schafft es, ohne dass sie auf den Boden fallen. Ewald isst den Mariekjeks, als er in der Stube sitzt und Kaffee trinkt. Jesper geht früh ins Bett und schläft zum Glück bald ein. Sein Bett steht in dem kleinen Vestibül zwischen Badezimmer und Eingang, in dem Zimmer ohne Fenster. Maj geht zu Ewald und setzt sich aufs Sofa. Als Nachrichten, die die beiden erreichen, entweder durchs Radio, dem Ewald lauscht, oder durch die , in der Maj jetzt blättert, kommen in Frage: Die letzte Hinrichtung wegen Landesverrat, der damit als...




